Organismus, Natur und Zweckmäßigkeit – Zur (Un-)zeitgemäßheit des „als ob“ in Kants Naturphilosophie

Von Karen Koch (Basel) –


In seiner Kritik der teleologischen Urteilskraft, dem zweiten Teil von Kants 1790 erschienenen Werk Die Kritik der Urteilskraft entfaltet Kant seine Theorie der Zweckmäßigkeit der lebendigen Natur, seine Theorie also, der zufolge wir der lebendigen Natur Zielgerichtetheit zusprechen müssen. In diesen Beitrag möchte ich vor dem Hintergrund der gegenwärtigen ökologischen Krise und dem damit einhergehenden Ruf nach einer anderen Konzeption von Natur, als derjenigen der zufolge Natur einfach etwas Beherrschbares ist, zeitgemäße und unzeitgemäße Aspekte von Kants Naturkonzeption hervorheben.

Dieser Theorie wohnt von Beginn an eine Zweischneidigkeit inne: Zweckprinzipien – so Kant – sind der Natur fremd. Die Natur selbst verfolgt keine Zwecke. Zwecke müssen repräsentiert werden, um dann realisiert zu werden. Und einen Verstand zu besitzen ist Bedingung für die Repräsentation von Zwecken. Die Natur aber ist kein rationales Subjekt mit Verstand.

Dennoch – so Kant auch – kommen wir nicht umhin, bestimmte Wesen in der Natur selbst als Zweckprodukte, als Naturzwecke, zu beurteilen, und zwar Wesen, die Strukturen der Zielgerichtetheit aufzuweisen scheinen – und das sind Organismen. Kants Beispiel für die Beurteilung eines Gegenstandes der Natur als Naturzweck ist ein Baum. Dabei sind es drei Merkmale, die uns zu einer teleologischen Beurteilung des Baumes veranlassen: i) der Baum erzeugt sich der Gattung nach immer wieder selbst, ii) das Wachstum des Baumes, und iii) die Abgestimmtheit der Teile eines Baumes aufeinander, und zwar auf eine solche Art und Weise, dass sie den Baum als Baum erhalten. Kant zufolge müssen wir den Baum so beurteilen, als ob er Zweckprodukt sei, da wir uns diese interne Verfassung des Baumes nicht anders verständlich machen können. Wir beurteilen die interne Verfassung also so, „als ob“ sie der Realisierung eines bestimmten Zweckes dient, nämlich seinem Selbsterhalt.

Vor dem Hintergrund der Frage nach dem Unzeitgemäßen bei Kant, die kürzlich auf diesem Blog thematisiert wurde, lässt sich mit Blick auf seine Naturteleologie ein erster (sehr geläufiger) Einwand vorbringen: Hat nicht die Evolutionstheorie der Naturteleologie den Todesstoß gegeben? Im Folgenden geht es mir nun aber nicht um die Diskussion, ob sich naturteleologische Theorien vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie nicht schon erledigt haben. Das ist zwar durchaus eine Diskussion wert, nicht nur vor dem Hintergrund der Kritik einer vollständigen Erklärung des Lebendigen durch das evolutionstheoretische Paradigma, sondern auch vor dem Hintergrund des Verhältnisses neoteleologischer Ansätze in der gegenwärtigen Philosophie der Biologie zur Evolutionstheorie. Vielmehr möchte ich in diesen Beitrag vor dem Hintergrund der gegenwärtigen ökologischen Krise und dem damit einhergehenden Ruf nach einer anderen Konzeption von Natur, als derjenigen der zufolge Natur einfach etwas Beherrschbares ist, zeitgemäße und unzeitgemäße Aspekte von Kants Naturkonzeption hervorheben.

Die Beherrschbarkeit der Natur

Die Frage nach der lebendigen Natur stellt sich für Kant vor dem Hintergrund seiner Naturkonzeption in der Kritik der reinen Vernunft und den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften. Das sich hier ergebene Naturbild ist eines, gemäß dem die Natur durch Gesetzmäßigkeit geprägt ist. Die Natur ist ein durch Kausalgesetze strukturiertes Ganzes. Kants Fokus liegt auf dem Erfolg der Naturwissenschaften – und hier ist vor allem die Physik und insbesondere diejenige Newtons gemeint – durch Experimente Kausalgesetze der Natur aufzufinden. Damit geht eine Mathematisierbarkeit natürlicher Phänomene einher. Diese wiederum mündet in der Berechenbarkeit und Reproduzierbarkeit natürlicher Phänomene, eben durch Experimente, und impliziert den Gedanken der grundsätzlichen Beherrschbarkeit von Naturphänomenen. Damit vertritt Kant Ideen normativen Gehalts, die uns bis heute prägen und die aber angesichts der ökologischen Krise ihren Gehalt und ihre Popularität einbüßen.

Die Autonomie der Natur

In der Kritik der Urteilskraft kommt ein grundsätzlich anderes Bild der Natur dazu. Natur ist hier nicht das Beherrschbare und auch nicht das Gesetzmäßige. Das Lebendige ist gerade das, dessen Strukturen wir nicht allein durch die sich in der Kritik der reinen Vernunft und den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften ergebene Gesetzmäßigkeit erklären können. Es handelt sich vielmehr um Strukturen, die in Widerspruch zu dieser Gesetzmäßigkeit zu stehen scheinen (ich komme hierauf unten zurück). Hier eröffnet sich uns also ein anderes Bild der Natur, eines welches zwar durch Regelmäßigkeit im Sinne der natürlichen Reproduktion von zielgerichteten Strukturen gekennzeichnet ist, aber das nicht die Beherrschbarkeit der Natur zum Fokus hat, sondern der Natur eine eigene Form der Autonomie zuspricht und damit vielmehr auf ihre Unbeherrschbarkeit abzielt. Gegenwärtige neo-teleologische Theorien des Organismus berufen sich so mitunter auch auf diesen Gedanken bei Kant, insofern sie das Ziel verfolgen, den Organismus nicht nur als Objekt zu verstehen, als etwas, das von außen (durch seine Umwelt) und von innen (durch seine Gene) determiniert ist, sondern als Subjekt, dem eine Form von Proto-Autonomie zukommt und das dementsprechend aktiv seine Umwelt gestaltet. Denn in seiner Theorie lebendiger Wesen als Naturzwecke entwickelt Kant zumindest die Grundlagen einer Zweckkonzeption, die ohne die Annahme eines intelligenten Designers auskommt – auch wenn Kant letztlich daran festhält, dass Zwecke Verstand gebunden sind und wir Organismen daher nur so beurteilen können, „als ob“ sie zweckmäßig verfasst seien. Kants Theorie organisierter Wesen als Naturzwecke, das heißt, als Wesen, die wir so beurteilen müssen, als ob alles in ihnen zweckmäßig aufeinander abgestimmt ist, dient damit als eine wichtige Grundlage einer sogenannten „naturalisierten“ Teleologie.

Jedoch hat die Forderung des „als ob“ nicht nur bei Kants direkten Nachfolgern Kritik hervorgerufen, sondern wird auch von Vertreter:innen gegenwärtiger neo-teleologischer Konzeption von Organismen zurückgewiesen. Sie halten an Kants „als ob“ Charakterisierung nicht mehr fest, insofern sie die Position vertreten, dass biologische Systeme tatsächlich teleologische Systeme sind. Wir beurteilen sie nicht nur so, als ob sie welche wären.

So unzeitgemäß die „als ob“ Charakterisierung heute zu sein scheint, so zeitgemäß sind aber die bereits von Kant diagnostizierten Probleme, die mit der Naturteleologie einhergehen. Denn Kant spricht der Naturteleologie nicht primär deswegen ihren „als ob“ Charakter zu, weil wir für Zweckkausalität einen intelligenten Designer annehmen müssen, sondern weil Naturteleologie vor dem Hintergrund des in der Kritik der reinen Vernunft etablierten Naturbildes unverständlich bleibt. Diese Unverständlichkeit wiederum beruht auf einem Widerspruch, der sich für Kant aus dem in der ersten Kritik etablierten Kausalprinzip und der Annahme einer Zweckmäßigkeit der Natur ergibt: Zielgerichtetheit in der Natur und die kausale Determiniertheit der Natur scheinen sich nicht zu vertragen.

Eine Weise dies auszubuchstabieren ist die Folgende: Zielgerichtetheit impliziert ein normatives Bild der Natur, der zufolge Ziele erreicht werden können oder auch nicht und der zufolge Ziele besser oder schlechter erreicht werden können. Konzeptionen der Gesetzmäßigkeit der Natur dagegen haben für Normativität keinen Platz. Wenn ein Naturphänomen unter ein bestimmtes Gesetz fällt, dann kann es sich nicht besser oder schlechter gesetzmäßig verhalten, sondern es verhält sich schlicht gesetzmäßig. Dieses Verhältnis zwischen Gesetzmäßigkeit und Normativität der Natur steht bis heute zur Diskussion. Und was vor diesem Hintergrund auch deutlich wird, ist, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen „Gesetze verstehen“ und „Normen verstehen“ gibt. Während mit ersterem das Beherrschbarkeitsparadigma einhergeht, scheint das beim letzterem nicht der Fall zu sein. Wie aber verhält sich eine normative Konzeption der Natur zu einer Konzeption, der zufolge Natur durch Gesetzmäßigkeit geprägt ist? Wie verhält sich damit ihre Unbeherrschbarkeit zu ihrer Beherrschbarkeit? Diese zeitgemäßen Fragen stehen hinter Kants unzeitgemäßer „als ob“ Konzeption vom Lebendigen.

Die Natur als Selbstzweck

Nicht zuletzt stellt die zweckmäßige Beurteilung von Organismen für Kant den Ausgangspunkt dar, von dem aus wir die ganze Natur als zweckmäßig verstehen können. Denn haben wir einmal den Organismus als Zweck beurteilt, so beurteilen wir seine Umwelt als dem Selbsterhalt des Organismus dienend und damit ebenfalls als zweckmäßig. Die Beurteilung von Organismen als Naturzwecke erlaubt daher die Beurteilung der gesamten Natur als zweckmäßig zusammenwirkendes Ganzes. Dieser Gedanke hat einerseits enormes Potential für die Erarbeitung einer Naturkonzeption, die dem Paradigma der Naturbeherrschung entgegentreten kann. Denn gibt es in der Natur Zwecke, dann dürfen wir Kants praktischer Philosophie zufolge die Natur nicht nur als Mittel zur Verwirklichung unserer eigenen Zwecke ansehen. Vielmehr sind wir prinzipiell auch dazu angehalten, Organismen selbst auch als Zwecke zu behandeln. Dies zieht als Konsequenz nach sich, dass wir diesen den Raum zur freien Entfaltung und zur Selbsterhaltung geben müssen, den wir ihnen derzeit nehmen. Dieses Argument, das aus der Zweckbetrachtung der Natur hervorgeht, wird ungleich stärker, wenn wir dies aber nicht nur in einer „als ob“ Betrachtung tun müssen. Andererseits ist die Rede von Zwecken in der Natur nicht ungefährlich. Sie kann leicht Einfallstor für sexistische und rassistische Behauptungen über den Menschen werden und ist es auch geworden. Hier hingegen trägt dann aber auch die „als ob“ Rede nicht viel dazu bei, solche Behauptungen abzuschwächen. Auch in abgeschwächter Form sind sie gefährlich. Vor diesem Hintergrund scheint mir eine Diskussion über die ethischen Potentiale und Gefahren der Naturteleologie aktueller denn je.


Karen Koch ist Assistentin (PostDoc) an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel.