Staunende Philosophie. Zum Denken von Ute Guzzoni

Von Jochen Gimmel (Freiburg) und Philip Hogh (Kassel)


Theodor W. Adorno hat anlässlich des 125. Todestages Hegels einmal gesagt, dass Würdigungen etwas Abscheuliches anhafte, da sich die Würdigenden dabei anmaßten über die Gewürdigten souverän zu urteilen und ihnen ihren Platz zuzuweisen. Nun ist es uns mit den hier folgenden Zeilen, die wir anlässlich des 90. Geburtstags von Ute Guzzoni am 2. November 2024 verfasst haben, genau darum nicht zu tun, und das nicht deswegen, weil der von uns geschätzte Adorno triftige Gründe dagegen vorgebracht hat. Vielmehr wäre es einer Philosophie oder besser: einem Philosophieren wie demjenigen Guzzonis ganz und gar unangemessen, wenn man es in bestimmte philosophische Traditions- und institutionelle Arbeitszusammenhänge einordnete, obgleich dies bei einer Philosophin, die für das Philosophische Seminar der Universität Freiburg eine so prägende Wirkung entfaltet hat – zunächst als Assistentin von Werner Marx, seit 1974 als Professorin –, die bedeutende Beiträge zu Aristoteles, zu Hegels Logik, zur kritischen Theorie Adornos und zum Spätwerk Heideggers verfasst hat und die darüber hinaus auch als langjähriges Mitglied des Gemeinderats der Stadt Freiburg politisch Dinge bewegt hat, zweifellos auch auf eine anerkennende Weise möglich wäre. Damit ginge man aber an dem vorbei, worum es ihr in ihren zahlreichen Büchern und im fortgesetzten Dialog mit ihren ehemaligen Studierenden und jetzigen Freundinnen und Freunden wirklich geht. Deswegen versuchen unsere hier versammelten Überlegungen sich mit dem Staunen, dem Allgemeinen und Besonderen und der Natur Motiven und Gegenständen zu widmen, die für Guzzonis Denken charakteristisch sind und wovon gerade heute eine inspirierende Kraft für die Philosophie ausgeht.  

Staunende Philosophie

Unzweifelhaft hat Ute Guzzonis Werk die akademische Philosophie um wichtige Perspektiven bereichert – seine außergewöhnliche Bedeutung findet es aber gerade im Überschreiten derselben. ‚Erfahrendes Denken‘ bestimmt ihre Texte nicht nur als ein philosophiegeschichtliches Motiv, sondern im Anspruch, „etwas in Gang [zu setzen], […] eine Wechselwirkung zwischen sich und der Wirklichkeit geschehen [zu lassen]“ (Guzzoni, Veränderndes Denken. Kritisch-ontologische Stücke zum Verhältnis von Denken und Worklichkeit, 1985: X). Den performativen Charakter von Philosophie im emphatischen Sinn stellt Guzzoni zentral: In der Grundhaltung des Staunens (vgl. Philosophieren: Wider Theorie und Begründungszwang, 2023: 48–60), die jedem noch so unscheinbaren Ding Frag-Würdigkeit zugesteht, eröffnen sich Erfahrungen mit dem Denken und der Sache selbst. Im Unterschied zu weiten Teilen der philosophischen Tradition hält Guzzoni am Staunen auch für den Erkenntnisprozess fest: Es soll nicht dem Begreifen weichen, sondern dieses vielmehr prägen. Wer Wirklichkeit nicht als Aggregat von Zuständen ansieht, sondern als ein Geschehen von Weltverhältnissen, hält so das Denken gegenüber der Erfahrung offen. „Wider Theorie und Begründungszwang“ (ebd.) wendet sich Guzzoni ab von der Obsession, Begebenheiten zu bestimmen, wie es Naturforscher mit Schmetterlingen tun, die sie aufspießen und unter Glas anordnen. Staunen ist für sie Medium, um der Wirklichkeit des Geschehens von Welt innezuwerden.

Eine solche Philosophie ist nicht an probaten Antworten oder Lösungen interessiert, um eine Sache ‚dingfest‘ zu machen; sie bleibt so dynamisch wie die Begegnungen, denen sie sich widmet. So wenig das Erfahren von Welt je abgeschlossen sein könnte, so wenig bedarf diese Philosophie eines Ergebnisses, um sich genug zu sein. Das bedeutet nicht, dass hier die Strenge und Verbindlichkeit philosophischen Denkens durch subjektive Impressionen ersetzt würden, vielmehr zeigt Guzzoni in seltener philosophischer Redlichkeit, dass sich Denken durch die blinde Reproduktion begrifflicher Schemata gerade beschneidet und um seinen eigentlichen Gehalt betrügt (vgl. z.B. Wollen wir noch Subjekte sein? Unterwegs zu einem bildhaften Denken 2020). Guzzonis Bücher stellen somit gleicherweise Einführungen in das ‚Glück des Denkens‘ (vgl. Adorno, GS 10.2 2003: 799) dar wie auch die verunsichernde Herausforderung, sich auf unsere Wirklichkeit einzulassen, ohne sie unmittelbar durch Gründe und Erklärungen fügsam zu machen. Staunen eröffnet Welt, oder, wie Guzzoni vielleicht sagen würde, die Landschaft, der wir als unsere Wirklichkeit begegnen (Wohnen und Wandern, 1999) – ein anspruchsvolles Glück, kein Motiv der Erbauungsliteratur, wie manche vielleicht meinen.

Guzzonis Qualifikationsarbeiten zu Hegel und Aristoteles (Werden zu sich: Eine Untersuchung zu Hegels »Wissenschaft der Logik«, 1982 und Grund und Allgemeinheit: Untersuchung zum aristotelischen Verständnis der ontologischen Gründe, 1975) fokussieren jeweils auf das Denken aus Gründen und in Begründungen. Exemplarisch zeigt sie schon hier, dass in der Metaphysik charakteristische Motive eines erstaunenden Denkens angelegt sind, diese jedoch durch den Fokus auf die Allgemeingültigkeit des Erklärens zugleich durchgestrichen werden. Um das Denken aus seiner künstlichen Opposition zur Erfahrung zu lösen, nimmt Guzzoni in ihrem weiteren, sehr produktiven Schaffen den Faden postmetaphysischer (insbesondere Nietzsche, Heidegger, Adorno) und außereuropäischer Denker:innen (vgl. Zwischen zwei Wellen: 300 Heikus zu Flüssen, Nebel und Meer, 2015) auf. Dabei spielen zwei Probleme eine wichtige Rolle: Erstens, dass das Denken in der bloßen Negation der begrifflichen Zurichtung von Welt nach wie vor im Bann begrifflichen Denkens verbleibt und dass zweitens die geschichtsphilosophische Fokussierung zu einer seinsgeschichtlichen bzw. historisch-kritischen Fessel werden kann, die eine andere Daseinsweise, auf die es ankäme, gerade unterbindet. Beidem, dem begrifflichen wie auch dem geschichtsphilosophischen Bann, setzt Guzzoni eine Einsicht entgegen: Dass wir schon heute unsere Wirklichkeit anders erfahren und damit auch anders in ihr sein können (und sollten), wenn wir nur, wenigstens zeitweise, davon ablassen, das erkenntnistheoretisch inthronisierte Herrschaftsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt immerfort zu erneuern. Es eröffnet eine grundlegend andere Weise, Welt zu erfahren, wenn wir uns auf die Dinge in Achtung ihrer Differenz einlassen. Damit ändert sich grundlegend, was unter geglückter Erkenntnis verstanden werden kann. Solche ‚Gelassenheit‘ stellt in den Augen Guzzonis die Strukturlogik, die den Menschen heute zum Verhängnis wird, infrage. „Wir können auch umstellen: Gäbe es die Entfremdung nicht mehr, dann wäre das Fremde nicht länger verfemt, […] es könnte in eine Nähe rücken, in der seine Wärme gefühlt und gleichwohl sein Unterschieden- und Fremdsein gewahrt würde.“ (Wollen wir noch Subjekte sein? 145)

Man kann darüber streiten, ob diese Möglichkeit nur einzelnen und nur zu gewissen Augenblicken gegeben ist, doch ein solcher Streit lohnt sich, denn Guzzonis Intervention des Staunens birgt ein enormes emanzipatorisches Potential, indem es Kontingenzen innerhalb der geschichtlichen und begriffslogischen Kontinuitäten ausleuchtet und damit eine existenzielle Offenheit auch gesellschaftspolitisch wieder ins Spiel bringt.

Besonderes und Allgemeines

Dass das Besondere in Guzzonis Denken eine herausragende Rolle einnimmt, ergibt sich aus der staunenden Grundhaltung. Wer über etwas staunt, für den ist es nicht nur eines unter vielen, nicht länger nur Exemplar (vgl. Unter anderem: die Dinge, 2008), gleichgültig, ob es sich um eine alltägliche Sache handelt oder um eine außergewöhnliche. Alle Dinge vertrauen sich uns im Staunen gewissermaßen als fremde an (vgl. Erstaunlich und fremd: Erfajrungen und Reflexionen, 2012). Die Differenz von Allgemeinem und Besonderem wird bei Guzzoni als Beziehung gedacht und damit aus der Einseitigkeit eines Abstraktionsverhältnisses gelöst. Was damit gemeint sein könnte, veranschaulicht ein Bild, auf das sich Guzzoni in Anlehnung an Kant (vgl. Kant, Neue Reflexionen, 2019: 29–30) bezieht: „[…] er stellt sich die Frage, ob man die realen Dinge nicht auch – statt sie, wie er es selbst tut, als Ausgrenzungen aus einer omnitudo realitatis zu begreifen – als Lichter in der Finsternis sehen könne; alle Dinge würden sich dann nur durch Licht unterscheiden, so ‚als ob sie ursprünglich aus der Finsternis geboren wären.‘“ (Philosophieren, 2023: 48) Sowohl das Licht als auch die Finsternis ließen sich als besondere Allgemeinheiten ansprechen: Das Licht, das alle Dinge gemein haben, leuchtet erst auf im Verhältnis des einen Lichts zum anderen; die Finsternis, aus der die Lichter ‚geboren waren‘ und die sie weiter birgt und rahmt, ‚scheint‘ wiederum erst auf durch deren Leuchten. Guzzonis setzt der Engführung des Verständnisses von Allgemeinem in Begründungsverhältnissen eine Pluralisierung, Kontextualisierung und Dynamisierung entgegen (zu einem Denken des Allgemeinen in ‚Fällen‘ vgl. Von »Fall« zu »Fall«: Unterwegs in einer Sprachfamilie 2020). Oft taucht hier das Wechselspiel von Hintergrund (allgemein) und Vordergrund (besonders) auf, das sich jederzeit verschieben und verkehren kann. So können Landschaften oder sinnliche Elemente wie Wasser (vgl. Wasser: Das Meer und die Brunnen, die Flüsse und der Regen, 2017) bei Guzzoni als Allgemeinheit angesprochen sein, wenn sie nur von einem Besonderen als solche aufgerufen sind. Die vermeintlich ‚reinen Formen der Anschauung‘, Raum und Zeit, werden als Weite und Weile (vgl. Weile und Weite. Zur nicht-metrischen Erfahrung von Zeit und Raum, 2017) zu besonderen Gehalten der Erfahrung, und dies nicht, indem sie zu Gegenständen würden, sondern indem sie als Dimensionen besonders erfahren werden. Guzzoni kann selbst ‚Nichts‘ (vgl. Nichts: Philosophische Skizzen 2016) noch als das besondere Allgemeine einer Welterfahrung denken. Ein Ganzes ergibt sich so erst im Spiel der Entsprechung von Allgemeinem und Besonderem und dieses Spiel ist ein sich wandelnder Beziehungs-Zusammenhang.

Diesem Begriff des Allgemeinen entspricht Guzzonis Form der Darstellung. Adorno versuchte das „Begriffslose mit Begriffen aufzutun“ (Adorno, GS 6, 19). Daran anschließend geht Guzzoni insofern einen Schritt weiter, dass sie die Form der Philosophie, ihre Sprache und Äußerungswege selbst zur Disposition stellt, um dem Nichtidentischen, um das Adornos begriffliche Konstellationen kreisten, zum Ausdruck zu verhelfen. Bei Guzzoni finden sich keine Theorie-Arabesken, an die Stelle kategorialer Systeme und Ableitungen treten Analogien, Beispiele, Metaphern, Bilder, Gedichte (Wollen wir noch Subjekte sein? 158–194). Was nicht auf den Begriff gebracht werden kann, wird durch solche Darstellungsmittel evoziert. Damit ändert sich der Charakter des Begreifens selbst: Ob es sich einstellt, bleibt unsicher und abhängig von der Offenheit bzw. Eingelassenheit des Rezipienten. Solches Begreifen ist genauso fragil wie das Besondere unterm Allgemeinbegriff; es meint selbst eine besondere, räumlich und zeitlich bedingte, in jeder Hinsicht endliche Erschließung von Welt.

Natur

Mit Blick auf die gegenwärtige sogenannte Klimakrise erweist sich die antizipatorische Kraft von Guzzonis Arbeiten. Das Verhältnis des Menschen zur ihn umgebenden Natur, zu der er selbst gehört und von der er sich doch auch unterscheidet, ist ein in sich dynamisches Verhältnis, das gleichwohl durch die industrielle Beherrschung und Nutzung der Natur einerseits scheinbar stillgestellt wurde, worin sich Natur eben nur noch als Objekt von Herrschaft zeigt. Andererseits offenbaren gerade die weltweit zu bezeugenden Prozesse der Erderwärmung, der Häufung von Hitzeperioden und Überschwemmungen, dass das einmal festgestellte Mensch-Natur-Verhältnis nicht so bleiben muss, ja dass sich die Natur ihrer Feststellung entzieht, mit negativen Folgen für Menschen und Natur. Guzzonis Überlegungen zu einem anderen Naturverhältnis führen zu zwei Punkten. 1. Indem die Natur als ein von sich her Gegebenes gedacht wird, wird sie in ihrem Anderssein, d.h. in ihrer Differenz zu uns Menschen anerkannt. 2. Die Anerkennung dieses Anderssein ermöglicht es, dass die Beziehungsmöglichkeiten zwischen den beiden Beziehungsgliedern vielgestaltiger werden, das bestehende Herrschaftsverhältnis des Menschen über die Natur selbst nicht mehr als ein quasi-natürliches Verhältnis gedacht wird. Guzzoni nutzt hier einen Gedanken Adornos, dessen philosophische Relevanz vor ihr kaum jemand registriert hat, nämlich den Gedanken von der „Kommunikation des Unterschiedenen“ (Adorno GS 10.2, 743), die an die Stelle des Herrschaftsverhältnisses zwischen Subjekt und Objekt treten kann. Dass Mensch und Natur sich wechselseitig und in ihrem Anderssein etwas mitzuteilen haben, dass der menschliche Blick seine Aufmerksamkeit auf die Natur und Natürliches richten kann, ohne sich primär an Kriterien der Beherrschung und Verwertung zu orientieren, muss nun gerade nicht als einschränkend, sondern viel eher als befreiend verstanden werden. Befreiend nämlich in dem Sinne, dass ein über die Beherrschung hinausweisender Umgang mit der Natur auch die menschliche (Selbst-)Festlegung auf Beherrschung untergräbt, die menschliche Erfahrung somit reicher und pluraler wird als es die gesellschaftliche Zurichtung von Mensch und Natur ermöglicht.

Guzzonis Nachdenken über die Natur, das sich in vielen ihrer Bücher, u.a. in Über Natur (1995), Nichts (1999), Sieben Stücke zu Adorno (2003), Wasser (2005) und in ihrem jüngsten Buch Philosophieren (2023) findet, berührt so Themen und Fragestellungen, die gegenwärtig von Vertreter:innen des Ökomarxismus, der Kohabitation oder der Deep Ecology behandelt werden, mit dem entscheidenden Unterschied jedoch, dass es Guzzoni nie darum ging, eine theoretische Schule zu gründen oder der Philosophie zu neuen Prinzipien zu verhelfen. Im Gegenteil: ihr Denken versucht vielmehr evident zu machen, dass wir in unseren Weltverhältnissen immer schon in Bezügen zur Natur stehen, die wir durch ein ebenso beharrliches wie offenes, konzentriertes wie spielerisches Einlassen erfahren können, wodurch ein anderes Naturverhältnis nicht in einen utopischen Raum verschoben wird. Wir können vielmehr jetzt und hier damit anfangen, es anders zu machen. Dafür müssen wir nicht mehr vom Jetzt und Hier der sinnlichen Gewissheit Hegels zum absoluten Wissen fortschreiten, in dem sich auch noch die Natur aufgehoben findet. Stattdessen können wir uns auf das Jetzt und Hier der Natur einlassen und uns durch das, was diese Erfahrung mit uns macht, bestimmen lassen, mit der Perspektive, dass sich dadurch auch unser praktisches Verhältnis zur Natur verändern ließe. 

In diesen Tagen ist Ute Guzzonis aktuelles Buch Zuweilen nichts Besonderes beim Verlag Karl Alber/Nomos erschienen.


Jochen Gimmel (Dr. phil.) ist Philosoph und lebt in Freiburg im Breisgau. Er studierte Philosophie, Soziologie und Historische Anthropologie und promovierte nach einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt in Buenos Aires mit der Arbeit Konstellationen negativ-utopischen Denkens. Ein Beitrag zu Adornos aporetischem Verfahren (Alber, Freiburg 2015). Von 2013 bis 2021 war er Akademischer Mitarbeiter im SFB 1015 und arbeitet aktuell neben seiner freischaffenden Tätigkeit an unterschiedlichen Hochschulen bzw. Universitäten als Philosophiedozent. Letzte Buchveröffentlichung: Zeit haben – Zeit sein. Ein Plädoyer für Zeit (Mohr Siebeck, Tübingen 2023).

Philip Hogh ist Professor für praktische Philosophie an der Universität Kassel. Nach einem Studium der Philosophie, der Politik und der Geschichte in Freiburg, Basel und Durham erfolgte 2013 die Promotion an der Goethe Universität Frankfurt mit einer Arbeit über die Sprachphilosophie Adornos, 2021 erfolgte die Habilitation an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, wo er von 2011 bis 2021 als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war. Sein neues Buch, das aus seiner Habilitationsschrift hervorgegangen ist, trägt den Titel Ethischer Materialismus. Kritische Theorie des Leidens und erscheint Anfang nächsten Jahres im Verlag Felix Meiner.