Retourgang. Von der Exzellenz zur Konvenienz

von Herbert Hrachovec (Wien)


Die „European Science Foundation“ (ESF) hat ab 2002 den Versuch unternommen, eine Qualitätsprüfung sämtlicher europäischer Fachjournale in den Humanwissenschaften in die Wege zu leiten. An das traurige Schicksal des Vorhabens ist zu erinnern. Dann wird berichtet, was weiter aus ihm geworden ist. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung folgen zwei Provokationen, gerichtet an die Adresse der philosophischen Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum.

European Reference Index for the Humanities (ERIH)

Zur Förderung der Exzellenz in den „Humanities“ wurden im Rahmen des ESF 2007 15 Listen für die einschlägigen Fachbereiche veröffentlicht. Sie erfassen die relevanten Zeitschriften in diesen Disziplinen und ordnen sie nach drei Kategorien: Internationale Top-Publikationen (A), Internationale Standard-Publikationen (B) und Publikationen von lokalem Interesse (C). Ein erklärtes Ziel: „ …determining the international standing of the research activity carried out in a given field in a particular country.“ Hauptverantwortlich waren vier- bis achtköpfige Expertengremien denen Vorschläge aus dem Umfeld der ESF zur Verfügung standen. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass es sich um eine Initiative zur internationalen Stärkung der Humanwissenschaften und nicht um ein bibliometrisches Instrument handelt. „ At present, it is a reference index of the top journals in 15 areas of the Humanities, across the continent and beyond.“ 

Eine frühe kritische Stellungnahme kam (ausgerechnet) aus den USA. „ … Journal rankings are neither a reliable sign of scholarly excellence in the humanities nor of very much value in disciplines such as philosophy or literary studies.“ (https://doi.org/10.3138/jsp.42.3.323. S. 324) Eine Anzahl entschiedener Widersprüche folgte auf den Fuß. Hier eine kleine Kostprobe aus verschiedenen Fachbereichen: eine gemeinsame Erklärung von Herausgebern von History of Science Technology Medicine (HSTM) Journalen, ergänzt durch weitere Informationen,  Kommentare einer Studie der Niederländischen Akademie der Wissenschaften, ein Editorial in „Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History“ und eine Stellungnahme im „Journal of Ecclesistical History“:  „One notes that it is the European Science Foundation which has dreamt up this proposal, which might have its possible uses in hard science …, but which is grotesquely inappropriate for the variety of journals which serve the academic communities grouped under the banner of humanities.“ In der Nomenklatur, die der FWF für Peer Review Ergebnisse verwendet, ist das eindeutig C5: „The reviews of your application were predominantly very critical. As it cannot be assumed that the weaknesses in the application can be remedied within a short period of time, the FWF Board has decided that a resubmission to this funding programme will only be permitted after a period of 12 months.“

European Reference Index for the Humanities (ERIH) PLUS

Im April 2010 versprach Alain Peyraube, der Vorsitzende des Gremiums zur Qualitätsprüfung der „initial lists“ eine revidierte Version im selben Jahr. Das Archiv der ESF enthält entsprechende Ankündigungen aus 2011 und 2012, die Revisionen selbst sind nicht zu finden. Die heisse Kartoffel wurde 2014 an das „Norwegian Centre for Research Data“ weitergereicht. Dort hat man eingesehen, dass die dirigistische Exzellenzversessenheit aus Straßburg mehr Probleme erzeugt, als sie zu lösen imstand ist. Das neue Projekt ERIH PLUS beauftragt keine Kleingruppen mit der Beurteilung des  Ansehens hunderter Zeitschriften. Das Procedere ist „evidenzbasiert“ geworden, das heißt de facto bürokratisch. „ There is no peer review by expert panels. Instead, all journal submissions are treated in a standardized way and reviewed for compliance with more objective criteria that can be checked against evidence.“ (doi:10.1016/j.procs.2017.03.035) Hinter dieser strategischen Revision verbirgt sich für aufmerksame Leserinnen das Eingeständnis, dass die Exzellenzinitiative des EFS ein Schlag ins Wasser war.

ERIH PLUS ist ein dynamisches Register, das Fachzeitschriften erfasst, die einen gültigen ISSN Code, ein akademisch ausgewiesenes Herausgebergremium und eine Beschreibung ihres Peer Review Verfahrens nachweisen. Zwei zusätzliche Kriterien versuchen, den Qualitätsanspruch stringenter zu operationalisieren. Nicht mehr als zwei Drittel der Autorinnen (m/w) eines Journals dürfen an derselben Institution beschäftigt sein und den Artikeln müssen Abstracts in Englisch (oder allenfalls in einer gängigen Wissenschaftssprache) beigegeben sein. Die Erläuterung klingt eigenartig: „the ERIH PLUS team needs access to the abstracts in order to evaluate the journal“. Die Peers sind nicht mehr beteiligt, da es sich um formal überprüfbare Kriterien handelt. Aber es wird noch immer, auf der Basis von Zusammenfassungen, evaluiert. Das besorgt ein Team in Bergen mit Unterstützung nationaler Expertinnen (m/w). Für Österreich ist es ein Angestellter des FWF, für Deutschland eine Professorin an der Humoldt-Universität und für die Schweiz ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des Evaluationsbüros der ETH Zürich.

In der Abfragemaske des Registers kann man nach Titel, ISSN, Fachdisziplin, Land, Sprache und Open Access Status von Publikationen suchen. Für Rankings bietet sie keinen Anhaltspunkt. Dabei zu sein ist, nach dem olympischen Prinzip, alles. Aus philosophischer Sicht lässt das Resultat zu wünschen übrig. Wichtige deutschsprachige Zeitschriften fehlen, unter ihnen die „Philosophische Rundschau“, die „Zeitschrift für Kulturphilosophie“, die „Phänomenologischen Forschungen“, die „Allgemeine Zeitschrift für Philosophie“, die „Perspektiven der Philosophie und „Polylog“. Im Unterschied zur Vorgängerversion liegt das nicht alleine an der Sorglosigkeit (oder Absicht) der Evaluatoren, denn Anträge zur Aufnahme in diese Liste können mühelos über das Portal gestellt werden. Die genannten Beispiele hätten kaum Schwierigkeiten, die Aufnahmebedingungen zu erfüllen. Eine Trotzreaktion der übergangenen Forschergrupen wird wohl auch im Spiel sein.

Mangelanzeige 1

Der Philosophie im deutschsprachigen Raum fehlt eine gesunde Portion Standesbewusstsein.

Die Reaktionen auf die eklatante Unterbewertung tonangebender deutschsprachiger Philosophiezeitschriften in der ERIH „initial list“ waren spärlich. Immerhin waren u.a. die „Allgemeine Zeitschrift für Philosophie“, die „Deutsche Zeitschrift für Philosophie“, das „Jahrbuch für Religionsphilosophie“, die „Philosophische Rundschau“, das „Philosophisches Jahrbuch“ und die „Zeitschrift für philosophische Forschung“ mit der Qualifikation C bedacht worden: „ Research journals with an important local / regional significance in Europe, occasionally cited outside the publishing country though their main target group is the domestic academic community.“ Das kann nur als ein Frontalangriff auf die Wissenschaftskultur eines gesamten Sprachraums gesehen werden.

Der vernehmbare Protest (wo blieben die gerühmten deutschsprachigen Intellektuellen) beschränkte sich auf einen, allerdings hochklassigen, „streitbaren Zwischenruf“ Pirmin Stekeler-Weithofers (Leipzig). Er argumentiert in der besten humanistischen Tradition für die sprachliche und inhaltliche Multidimensionalität philosophischer Diskurse. „Der zentrale systematische Fehler der „ESF“-Liste besteht aber darin, dass ohne weitere Kategorisierung der philosophischen Journale alle philosophischen Zeitschriften in drei Klassen A, B und C eingeteilt werden. … Eine derartige, am Ende bloß suggestive Qualitätsabstufung ist methodisch sogar auf alarmierende Weise problematisch. Sie ist am Ende so sinnvoll, wie wenn man alle Lebewesen etwa der Größe nach in irgendwelche drei Klassen (sagen wir, in die unter 2 cm, die über 1 m und die dazwischen) einteilen würde.“ Stekeler-Weithofers Aufgabe konnte nicht sein, den wissenschaft-politischen Konkurrenzkampf zu analysieren, der zu einem solchen Eergebnis geführt hat. Aber irgendwer hätte sich schon ansehen können, welche Kommilitionen in dieser Sache am Werk sind.

Zwei Mitglieder des Panels, Kevin Mulligan und Barry Smith, kenne ich persönlich als umtriebige Kritiker der deutschen Philosophietradition. Manuel Garcia-Carpintero arbeitet im Institut für Logik und Wissenschaftsphilosophie der Universität Barcelona, Diego Marconi (Turin) ist, wie François Recanati (Paris) ein Mitbegründer der „European Society of Analytic Philosophy“. Weder soll ihnen die wissenschaftliche Integrität abgesprochen, noch eine Verschwörungstheorie vertreten werden. Doch es war offensichtlich ein schwerer Fehler, einer derartigen Expertenauswahl die Aufgabe einer ausgewogenen Zeitschriftenschau im Gesamtgebiet der Philosophie zu übertragen. Diese Partisanentruppe hat keine Begründung für ihre Entscheidungen veröffentlicht.

Gualtiero Piccinini (University of Missouri – St. Louis) bietet in einem Blogbeitrag, der sich auf das Gespräch mit einem Mitglied der Auswahlkommission bezieht, jedoch Einblick in die Motivationslage. „The significance of these rankings lies in the provincial attitude of many philosophical communities in Europe (England and Scandinavia being the main exceptions), including most people who do “Continental” philosophy. Notice that virtually all journals that got an A are “analytic” journals and publish solely in English. Many philosophers in many European countries, especially within non-“analytic” circles, are very happy to publish only in their native languages in journals published by their local friends and colleagues, without the kind of peer reviewing that goes on in major “analytic” philosophy journals.“ In einem Satz wird die Verwendung der Muttersprache in wissenschaftlichen Publikationen, Nepotismus und mangelnder Peer Review zu einem Gesamtbild verwoben. Zweifellos gibt es solche Tendenzen. Sie als Schreckgespenst an die Wand zu malen und zum Leitfaden einer Revision des Wissenschaftsstandorts Europa zu machen, ist aber eines analytischen Denkers unwürdig. Allerdings: Etwas von dieser polemischen Unverfrorenheit würde den Betroffenen, zumindest in der Defensive, auch nicht schaden.

Mangelanzeige 2

Der Philosophie im deutschsprachigen Raum fehlt die nötige digitale Öffentlichkeit.

Ein Publikationsorgan hat sich dem beschriebenen Problem gestellt: die von Peter Moser herausgegebene „Information Philosophie“. Sie operiert nicht mit Peer Review und erhebt keinen Anspruch auf internationale Geltung. Dennoch, oder vielleicht deswegen, hat sie die Sachlage einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht, als die direkt involvierten Personen und Institutionen. Ihrem Interview (im Heft 05 2009) mit  François Recanati, dem Vorsitzenden des Philosophiepanels, ist zu entnehmen, „dass viele europäischen Länder (einschließlich Deutschlands)“ der ESF keine Unterlagen zur Verfügung gestellt haben. Das läßt zwei Schlussfolgerungen zu. Erstens sind die Evaluatoren in diesen Fällen demnach auf eigene Faust vorgegangen, statt sich um repräsentative Informationen zu kümmern. Zweitens aber haben auch die lokalen Kontaktstellen versagt. Die Weltverbesserer und die Lokalmatadore haben in schöner Zwietracht an dieser Blamage zusammengearbeitet.

Ein weiteres Detail aus der Berichterstattung ist bemerkenswert. Die „Deutsche Gesellschaft für Philosophie“ hatte Vorstandsmitglieder und Zeitschriftenherausgeber zu einem Rundgespäch über die Situaton eigeladen. „Die DGPhil will an der Entwicklung angemessener Kriterien der Evaluation mitwirken. Dazu wurde von Seiten der anwesenden Verlags- und Redaktionsvertreter eine Arbeitsgruppe gebildet. Ein weiteres Treffen soll 2010 stattfinden; dann soll auch eine Stellungnahme veröffentlicht werden.“ Dazu scheint es nicht gekommen zu sein. Es wäre interessant zu wissen, was damals besprochen wurde. Und unerlässlich, um die Berufskollegen zu mobilisieren. Im Web ist davon bedauerlicher Weise keine Spur zu finden.

Ausgerechnet eine gedruckte Postille, die in liebenswerter Form Forschung, Information, Personalia und Bibliographisches verbindet, bewahrt in ihrem Archiv den Hinweis auf das Treffen. Was die vernetzte Kommunikation zwischen praktizierenden Philosophinnen (m/w) betrifft, ist der deutschsprachige Raum ein Entwicklungsgebiet. Es fehlt ein richtungsneutraler Mail-Verteiler und ein systematisch gepflegter Wegweiser durch vorhandene Ressourcen. Blogs sind im Vergleich zu anglo-amerikanischen Verhältnissen selten. Aus guten Gründen bleiben viele Kolleginnen (m/w) der digitalen Meinungsmaschinerie gegenüber reserviert. Wenn es um die Zukunft des wissenschaftlichen Philosophierens auf deutsch geht, wird eine Verdichtung ihrer Web-Präsenz dennoch nötig sein.


Herbert Hrachovec war bis zu seinem Ruhestand außerordentlicher Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien. Digitale Medien sind sein Faible.