
Schellings Naturphilosophie
Von Anton Kabeshkin (Potsdam)
Einer der bekanntesten, ja sogar berüchtigtsten Beiträge zur Philosophie, den Friedrich Schelling geleistet hat, ist seine Naturphilosophie. Seit den Angriffen von Kritikern wie Matthias Schleiden in der Mitte des 19. Jahrhunderts hat die Naturphilosophie dieser Zeit – insbesondere Schellings Naturphilosophie – den guten Ruf verloren, den sie erst heute durch die Arbeit der Historiker:innen der Philosophie und der Wissenschaft allmählich wiedergewinnt. Für Schelling selbst war die Naturphilosophie jedenfalls immer wichtig. Während der ersten Jahre seiner philosophischen Tätigkeit schreibt er zahlreiche der Naturphilosophie gewidmete Werke wie etwa Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), Von der Weltseele (1798), Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) sowie kleinere Werke. Während der sogenannten identitätsphilosophischen Phase widmet er große Teile der Hauptwerke dieser Zeit (besonders des ausführlichsten aber während seines Lebens unveröffentlichten Werks, das System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere) den naturphilosophischen Themen. Auf die zentrale Bedeutung der Naturphilosophie verweist er auch in seiner berühmten Freiheitsschrift (1809), und selbst spät in seinem Leben reagiert er mit Freude in seiner Rede Über Faraday’s neueste Entdeckung (1832) auf Faradays Forschung, die seine früheren naturphilosophische Spekulationen bestätigen sollte.
Ich werde nun etwas über die Ziele sagen, die Schelling in seiner Naturphilosophie zu erreichen suchte, wobei ich mich primär auf seine früheren naturphilosophischen Schriften konzentrieren werde. Danach skizziere ich kurz eine spezifische naturphilosophische Leistung Schellings, die mir besonders interessant zu sein scheint.
Die Systematische Bedeutung der Naturphilosophie Schellings
Schelling sah seine Aufgabe darin, die Kontinuität zwischen den Bereichen der Natur und des Geistes zu begründen. „Eine unübersehbare Kluft“, über die Kant in der Einleitung zu seiner Kritik der Urteilskraft schrieb und die er zu überbrücken versuchte – wobei es bei Kant um die Kluft zwischen dem Bereich der Naturgesetze und dem der Freiheit ging – bestand in der europäischen Kultur spätestens seit Descartes, mit seinem starken Kontrast zwischen der bloß ausgedehnten und nicht bewussten Welt und dem bloß denkenden und nicht materialen menschlichen Geist. Kants Versuch, diese ontologische Kluft zu überbrücken, erschien seinen Nachfolgern wie Schelling als nicht überzeugend oder zumindest nicht hinreichend. Deshalb wollte Schelling zeigen, dass die Natur schon implizit geistig ist, – und dass der menschliche Geist nicht etwas davon Getrenntes ist, sondern die höchste Stufe der Naturentwicklung. Oder, wie Schelling selbst in der Vorrede zu seinem ersten naturphilosophischen Werk schreibt, „Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur sein“ (SW I, 2, 57).
Diese Kontinuität zwischen der Natur und dem Geist hat Schelling selbst schon in früheren Werken auf verschiedene Weise begründet. Zuerst hat er – im Gefolge seiner Vorgänger Kant und Fichte – die Natur als eine Konstruktion des Geistes konzipiert. Später jedoch hat er das Verhältnis von Natur und Geist so aufgefasst, dass die Natur primär ist, der Geist aber aus der Natur hervorgeht, wobei man dieses Hervorgehen bei Schelling nicht zeitlich verstehen sollte.
Wenn das aber so ist, stellt die Naturphilosophie die fundamentale philosophische Disziplin dar, die erklären muss, wie es überhaupt zur Entstehung des Geistes kommen kann. In der Einleitung zu seinem Entwurf geht Schelling in diese Richtung dahingehend fort, dass er die Natur als Protosubjektivität auffasst, genauer: als primordiale Produktivität oder Tätigkeit, die ursprünglich in entgegengesetzt gerichtete Tätigkeiten gespalten ist. Nach dieser Auffassung verlieren die Naturprodukte ihren scheinbar stabilen Charakter und werden zu Punkten, in denen die gespaltene ursprüngliche Tätigkeit vorübergehend wieder ins Gleichgewicht kommt. Es ergibt sich daraus eine Stufenfolge der Naturprodukte, in der die entgegengesetzt gerichteten Tätigkeiten auf jeweils höherer Ebene vereinigt werden – von bloß mechanischen Gegenständen über Organismen bis hin zum Menschen.
Lassen wir aber die Details dieser Abfolge beiseite, so ist es dennoch wichtig, die Vorteile einer solchen Auffassung aufzuzeigen. Ein Vorteil besteht darin, dass die Überbrückung der ontologischen Kluft auch die Überbrückung der epistemologischen Kluft zwischen Mensch und Natur ermöglicht. Schelling meint sogar, dass man das Wissen von den Grundzügen der Natur a priori, d.h. ohne Rückgriff auf Erfahrung, rechtfertigen könne. An einer Stelle begründet er das damit, dass wir in der Lage seien, von unserer Subjektivität zu abstrahieren und direkten Zugang zur ursprünglichen Produktivität der Natur zu bekommen (SW I, 4, 85-92). Unabhängig davon, wie man solche Gedanken Schellings bewertet, liegt doch die Annahme nahe, dass ein kognitiver Zugang zu einer Natur, die mit uns in Kontinuität steht, leichter erklärbar ist als die Erkenntnis einer Natur, die dem Geist völlig fremd ist.
Ein weiterer Vorteil der Naturphilosophie Schellings ist, dass sie die Freiheit der Menschen in der Natur zu begründen ermöglicht, ohne sie dem Naturbereich als etwas Übernatürliches entgegenzusetzen – wie es etwa Kant tat, auch wenn er versuchte, diese Entgegensetzung abzuschwächen. Die Natur ist laut Schelling nicht das Gebiet des bloßen Mechanismus, wo alles von außen bestimmt ist, wie das noch bei Kant der Fall war. Schon die Chemie ist für Schelling nicht mechanisch zu verstehen, und Organismen weisen gar einen hohen Grad an der Autonomie auf und können daher nicht mechanisch verstanden werden. Selbst wenn Schelling in der Freiheitsschrift verdeutlicht, dass menschliche Freiheit nicht in bloßer Autonomie aufgeht, betont er in derselben auch, dass Freiheit nur in der naturphilosophisch verstandenen Natur möglich ist.
Schelling über Organismen
Damit kommen wir aber zu einer spezifischen Einsicht, die sich in Schellings Naturphilosophie findet. Seine Theorie des Organismus habe ich bereits oben erwähnt. Was ich in dieser Theorie besonders interessant und fruchtbar finde, ist, dass sie den besonderen Status der Organismen im Unterschied zu anorganischer Natur begründet, ohne auf so etwas wie die Konzeption einer immateriellen Lebenskraft zurückzugreifen, was zu Schellings Zeit ein weitverbreiter Ansatz war. Einerseits ist es laut Schelling für Organismen charakteristisch, dass in ihnen kausale (d.i. mechanische, chemische) Ketten im Kreis verlaufen und dieser Kreis ständig erhalten wird. Andererseits hebt diese Theorie das Verhältnis zwischen dem Organismus und seiner Umwelt hervor. Schelling weist darauf hin, dass das, was mit Organismen passiert, nicht einfach von äußeren Dingen verursacht wird, sondern von ihrer eigenen Natur abhängt. Vielmehr bestimmt die Natur der Organismen, welche äußerlichen Faktoren für sie überhaupt relevant sind und wie diese auf sie einwirken. Diese Erklärung begründet einerseits die Autonomie der Organismen, andererseits enthält sie wichtige Einsichten in die Wechselwirkung zwischen den Organismen und ihrer Umwelt.
Anton Kabeshkin hat über Hegels Naturphilosophie an der Universität Johns Hopkins promoviert und arbeitet seitdem an der Universität Potsdam als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er hat mehrere Artikel über Hegels und Schellings Naturphilosophie und andere Themen veröffentlicht.
Schelling, F. W. J. von. (1856-61). Sämmtliche Werke. Hrsg. K.F.A. Schelling. Stuttgart: Cotta.