
Thomas von Aquin: Die Ambivalenz theologischer Modernität
von Martina Roesner (Theologischen Hochschule Chur)
Thomas von Aquin (1225–1275), dessen achthundertster Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird, zählt zu den bedeutendsten Philosophen und Theologen des Mittelalters. Angesichts der Wirkungsgeschichte, die seinem Denken in den folgenden Jahrhunderten beschieden war, kann man jedoch sagen, dass er gewissermaßen ein Opfer seines eigenen Erfolges geworden ist. Bereits 1323 wurde Thomas von der Kirche heiliggesprochen und 1567 zum Kirchenlehrer erhoben, so dass sein philosophisch-theologischer Denkansatz fortan für die katholische Theologie insgesamt als normativ galt und es bis ins 20. Jahrhundert hinein blieb. Dies führte jedoch dazu, dass er bis heute zumeist als spezifisch christlicher Denker angesehen wird und nicht als Philosoph, der auch säkular eingestellten Menschen etwas zu sagen hat.
Um zu verstehen, weshalb das Werk des Thomas von Aquin von bleibender Bedeutung ist, muss man einen Blick auf die geistesgeschichtliche Situation des 13. Jahrhunderts werfen. In dieser Zeit wurden die Schriften des griechischen Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.) durch ihre vollständige Übersetzung ins Lateinische für das christliche Abendland erstmals seit dem Ende der Antike wieder zugänglich. Im Gegensatz zur Philosophie Platons zeichnet sich das aristotelische Denken dadurch aus, dass es der empirischen, individuellen Wirklichkeit in ihrer Dynamik und Veränderlichkeit einen hohen Stellenwert zumisst. Insbesondere entwirft Aristoteles dabei eine philosophische Anthropologie und Ethik, die das Ziel des menschlichen Handelns und der menschlichen Existenz insgesamt in einer irdisch-diesseitigen Glückseligkeit (eudaimonia) verortet.
Dieser philosophische Ansatz stellte für die christliche Theologie des Mittelalters eine weit größere Herausforderung dar als der Platonismus, der von vornherein viel stärker transzendenzorientiert und auf das Geistige fokussiert war als der Aristotelismus. Das große Verdienst Thomas von Aquins besteht darin, diese Herausforderung der aristotelischen Philosophie ernstgenommen und in seinen eigenen theologischen Ansatz integriert zu haben.
Das wohl augenfälligste Beispiel für diesen Paradigmenwechsel ist die erste Quaestio aus Thomas’ Summa theologiae, seiner großangelegten systematischen Gesamtdarstellung der Hauptthemen der christlichen Gottes-, Schöpfungs- und Erlösungslehre. Der erste Artikel dieser Quaestio befasst sich mit der Frage, ob man außer den verschiedenen Disziplinen der Philosophie, zu denen unter anderem auch die philosophische Gotteslehre zählt, überhaupt noch eine andere, offenbarungstheologische Wissenschaft benötige (vgl. STh I, q. 1, a. 1). Zwar bejaht Thomas letztlich diese Frage, aber dass sie überhaupt in dieser Form gestellt wird, markiert eine epochale Wende im theologischen Denken. Demnach muss die „heidnische“ Philosophie nun nicht mehr ihre Existenzberechtigung gegenüber der christlichen Theologie verteidigen, sondern vielmehr hat die christliche Offenbarungstheologie nachzuweisen, dass sie den von Aristoteles formulierten Kriterien der Wissenschaftlichkeit genügt (vgl. STh I, q. 1, a. 2).
Damit avanciert die aristotelische Philosophie bei Thomas von Aquin zur selbstverständlichen Grundvoraussetzung des christlich-theologischen Diskurses. Natürlich übernimmt er dieses neue Denkparadigma nicht unreflektiert und unkritisch, sondern kommt hinsichtlich gewisser Fragestellungen, die beispielsweise die Ewigkeit der Welt oder die Sterblichkeit der menschlichen Individualseele betreffen, mit guten Gründen zu anderen Ergebnissen als Aristoteles. Doch diesen punktuellen Abweichungen in Einzelfragen steht Thomas’ überwältigende Bejahung der aristotelischen Sicht der Wirklichkeit insgesamt gegenüber, und zwar in so hohem Maße, dass Martin Luther zweieinhalb Jahrhunderte später der scholastischen Theologie vorwerfen konnte, sie habe das Bewusstsein dafür verloren, dass man auch Theologie treiben könne, ganz ohne sich auf Aristoteles zu beziehen (vgl. LW I, 226, Thesen 41-44).
Auch wenn Thomas von Aquins Denkansatz aus heutiger Perspektive vielfach mit einem konservativen Glaubens- und Theologieverständnis gleichgesetzt wird, war eine derart weitreichende Rezeption des „heidnischen“ Aristotelismus zu seiner Zeit das Zeichen einer durchaus progressiven geistigen Grundhaltung. Grundsätzlich geht die aristotelische Philosophie mit einer beträchtlichen Aufwertung der natürlichen, vernunftbestimmten Perspektive auf den Menschen Hand in Hand. Dies gilt nicht zuletzt für die menschliche Wissbegierde; wird diese doch von Aristoteles ganz zu Beginn seiner Metaphysik als ein Streben nach Erkenntnis bezeichnet, das allen Menschen von Natur aus eigen ist und somit etwas Gutes darstellt (vgl. Met. I 1, 980 a 21).
Auch Thomas von Aquin macht sich diese positive Bewertung des menschlichen Wissensdranges zu eigen, und zwar nicht nur im Bereich der offenbarungstheologischen, heilsnotwendigen Wahrheiten, sondern ausdrücklich auch im Bereich des sogenannten „profanen“ Wissens. Die Wirklichkeit als solche erkennen und erforschen zu wollen ist somit keine sündhafte Neugierde, sondern im Gegenteil eine Tätigkeit, die dem Menschen als solchem höchst angemessen ist und ihn vervollkommnet. Der starke Einfluss des aristotelischen Denkens auf Thomas von Aquins philosophisch-theologischen Entwurf lässt sich vor allem an zwei Bereichen ablesen, nämlich zum einen an seiner Ethik und zum anderen an seiner philosophischen Anthropologie. Dies ist insofern bemerkenswert, als diese beiden Disziplinen nach dem Wesen des Menschen, der Normierung seines Handelns und dem Endzweck seiner Existenz fragen und sich somit auf einem thematischen Terrain bewegen, das auch zu den Kernbereichen der christlichen Theologie zählt.
Doch Thomas von Aquin betrachtet – anders als Luther – die aristotelische Ethik nicht als Bedrohung der christlichen Gnadenlehre, sondern interpretiert sie als systematische, vernunftbasierte Analyse der Grundstrukturen der menschlichen Natur, die durch die von Gott gewirkte Erlösungstat nicht negiert, sondern auf übernatürliche Weise vollendet werden. Auch wenn für das Christentum die sogenannten göttlichen Tugenden – Glaube, Hoffnung und Liebe – von zentraler Bedeutung sind und eine Gnadengabe Gottes darstellen, wird der vom Menschen zu leistende Erwerb der natürlichen moralischen Tugenden (Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung u.a.) dadurch doch keineswegs überflüssig.
In Übereinstimmung mit der aristotelischen Philosophie nimmt Thomas die Eigenwirksamkeit und Eigenverantwortlichkeit des Menschen ernst und betrachtet seinen ethischen Entwicklungs- und Selbstgestaltungsprozess zunächst einmal im Lichte der anthropologisch-psychologischen Strukturen, die nicht schon spezifisch christlich geprägt, sondern allen Menschen gleichermaßen eigen sind. Dabei zeichnet Thomas ein realistisches, weder allzu negatives noch übertrieben idealisiertes Bild der menschlichen Natur. Auch wenn diese aus christlicher Sicht durch die Erbsünde geschwächt ist, verliert die philosophische Reflexion über die menschliche Selbstvervollkommnung durch moralisch gutes Handeln deshalb doch nicht ihren Wert.
Das komplexe Zusammenspiel von Willen, Vernunft, Leidenschaften und Neigungen des Menschen wird von Thomas zunächst unter allgemein-philosophischen Prämissen erörtert, bevor er im weiteren Verlauf der Summa theologiae dann auf die spezifisch christlichen Tugenden und die durch den Glauben und die Erlösung bewirkte übernatürliche Vollendung des Menschen zu sprechen kommt (vgl. STh I-II, qq. 55-62). Bevor man über den Menschen in der Sprache der Bibel reden kann, muss man über ihn zunächst einmal in einer Terminologie reflektiert haben, die auch aus der Perspektive eines Nichtglaubenden nachvollziehbar ist.
Allerdings wird bei Thomas von Aquin auch deutlich, dass die Aristoteles-Rezeption für die christliche Theologie durchaus ambivalente Konsequenzen hatte. Dies gilt vor allem für Aristoteles’ Theorie des Geschlechterverhältnisses, die von der Vorstellung einer ontologischen Geringerwertigkeit der Frau gegenüber dem Mann geprägt ist. In gewisser Weise ist dies die negative Kehrseite der Tatsache, dass Aristoteles in scharfer Abgrenzung zu Platon eine substantielle Einheit zwischen der Seele und dem Leib des Menschen postuliert. Je größer die Bedeutung ist, die man der physischen Dimension des Menschseins zubilligt, desto gewichtiger erscheinen folglich auch die Unterschiede, die man auf der körperlichen Ebene zwischen Mann und Frau ausmachen kann.
In seiner Theorie der menschlichen Zeugung geht Aristoteles davon aus, dass in der Natur Gleiches grundsätzlich immer nur Gleiches hervorbringen kann. Da für ihn der männliche Samen das bestimmende Formprinzip für die Zeugung neuer Menschen ist, stellt sich die Frage, wieso ein Mann dann nicht nur männliche, sondern auch weibliche Nachkommen haben kann. Aristoteles erklärt dies damit, dass bisweilen äußere natürliche Faktoren, wie die Einwirkung der Gestirne, den Zeugungsprozess stören, so dass statt eines männlichen Kindes ein weibliches entsteht (vgl. De gen. an. II 3, 737 a 27). Da die biologische Fortpflanzung höherer Lebewesen grundsätzlich immer männliche und weibliche Wesen voraussetzt, liegt die Entstehung von Frauen also in der allgemeinen Absicht der Natur, doch auf individueller Ebene erscheint die Frau als „verunglückter Mann“, d.h. als etwas nicht direkt Intendiertes, sondern zufällig Zustandegekommenes.
Diese Sicht auf das Verhältnis von Mann und Frau steht in deutlichem Gegensatz zum biblischen Menschenbild; heißt es doch im ersten Schöpfungsbericht im Buch Genesis, dass Gott den Menschen nicht nur nach seinem Bilde, sondern auch in gleichursprünglicher Weise männlich und weiblich erschaffen habe (vgl. Gen 1,26f). Das bedeutet, dass die Frau keinen „Betriebsunfall der Natur“ darstellt, sondern ihre Entstehung in genauso unmittelbarer Weise dem Willen Gottes verdankt wie der Mann. Thomas von Aquin versucht zwar, diese biblische Anthropologie mit der aristotelischen Biologie zu harmonisieren, doch gelingt es ihm häufig nicht, die aristotelischen Positionen, die einer ontologisch-metaphysisch begründeten Geringerwertung der Frau das Wort reden, theologisch wirksam zu entschärfen und zu korrigieren.
So vorbildhaft Thomas von Aquins intellektuell überaus mutige und innovative Auseinandersetzung mit dem Aristotelismus bis heute auch ist, so sehr ist sie doch auch ein Beispiel dafür, dass sich die christliche Theologie unnötig angreifbar macht, wenn sie sich in eine zu große Abhängigkeit von den empirischen Einzelwissenschaften ihrer Zeit begibt und deren jeweiligem Forschungsstand fälschlicherweise den Stempel überzeitlicher Gültigkeit aufdrückt. Dementsprechend stellt auch die in der heutigen Theologie nachdrücklich propagierte Orientierung an den „neuesten Erkenntnissen der Humanwissenschaften“ ein zweischneidiges Unterfangen dar. Wie die Geistesgeschichte zeigt, wäre es für die christliche Theologie insgesamt förderlicher gewesen, die vermeintlich gesicherte wissenschaftliche Autorität von Aristoteles’ empirisch-biologischen Theorien kritischer auf den Prüfstand zu stellen und mit größerem Selbstbewusstsein die Eigenständigkeit und den Eigenwert der biblischen Anthropologie zu verteidigen.
Die Gestalt des Thomas von Aquin ist das vielleicht eindrücklichste Beispiel für die großartigen Chancen, aber auch nicht zu unterschätzenden Risiken eines solchen interdisziplinären Balanceakts zwischen der Theologie und den übrigen Wissenschaften.
Literaturhinweise
Aristoteles: De generatione animalium, hg. von Henrik J. Drossaart Lulofs, Oxford, Clarendon Press, 1972.
Aristoteles, Metaphysik (in 2 Bd.), übers. von Hermann Bonitz, hg. und mit Einl. und Komm. versehen von Horst Seidl, Hamburg, Meiner, 1. Halbband (Bücher I-VI): 1989, 2. Halbband (Bücher VII-XIV): 2009.
Luther, Martin: Disputatio contra scholasticam theologiam, in: ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe, Teil 1, Bd. I, Weimar, Böhlau, 1883, 221-228.
Thomas von Aquin: Summa theologiae (unveränderter Text der kritischen Editio Leonina), Roma, Edizioni Paoline, 21988.
Prof. Dr. Martina Roesner studierte Philosophie in Rom, Salzburg, Paris und Tübingen sowie Katholische Theologie in Wien. Seit 2023 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Philosophie und Philosophiegeschichte an der Theologischen Hochschule Chur (Schweiz). Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte der mittelalterlichen und neuzeitlichen Philosophie, Metaphysik, Phänomenologie, Philosophische Anthropologie, Religionsphilosophie und Hermeneutik.