von Michael Bongardt (Universität Siegen)
Es mag sie einmal gegeben haben: Die Zeiten,
in denen sich die meisten Gläubigen und ihre Theologen ihres Glaubens gewiss
waren; in denen sich die meisten Philosophen der Vernunft sicher waren. Und es mag
sie auch heute noch geben: Menschen, die sich ihres Glaubens gewiss und / oder
der Vernunft sicher sind.
Zweifel
Doch es ist unübersehbar, dass zumindest in
den westeuropäischen Ländern, und nur auf diese beziehen sich meine
Beobachtungen und Überlegungen, nagende Zweifel dem Gebälk alter Sicherheiten
heftig zusetzen. Die wohl stärkste Infragestellung christlicher
Wahrheitsgewissheit geht von der Erfahrung einer unhintergehbaren Vielfalt aus.
Menschen, die anderen Religionen – oder gar keiner Religion – angehören, leben
ihre Überzeugungen nicht weniger beeindruckend und nicht weniger gebrochen als
Katholikinnen und Protestanten. Und in den meisten Lebensbereichen des Alltags,
von der Arbeit bis in die Freizeit, vom Konsum bis in die Nutzung von Technik,
spielt die religiöse Überzeugung keine Rolle mehr. Gläubige werden nicht mehr
nach ihrem Glauben gefragt. Auch für sie selbst hat er in den meisten Kontexten
ihres Lebens keine Bedeutung mehr. Die Behauptung von der transzendenten
Wahrheit, gar der alleinigen Wahrheit des Christentums verliert durch diese
Erfahrungen ihre Glaubwürdigkeit. Nicht anders in der Philosophie. Die Einsicht
in die Kontingenz jeder Erkenntnis und aller Systeme, in die Unerreichbarkeit
der Wirklichkeit hinter den Vorstellungen, die wir uns von ihr machen, hat zu
der verbreiteten Gewohnheit geführt, statt von der einen Vernunft lieber vom
Plural der Rationalitäten zu sprechen.
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