Populäre Subdisziplin: Film als Philosophie
von Susanne Schmetkamp (Basel)
Philosophische Texte, so schreiben die Kollegen Cox und Levine, seien oft «as dry as a desert», staubtrocken also, wie Wüstensand, der einem das Atmen erschwert, die Stimme verschlägt, die Augen trübt. Dabei soll uns Philosophie doch gerade eine Stimme verleihen, die Augen öffnen, den Blick klären für das, was wir sonst nicht sehen (hören, sagen) oder nicht sehen (hören, sagen) wollen, wie es wohl am prominentesten Platons Höhlengleichnis beschreibt. Platon ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Philosophie gerade nicht trocken sein muss, wenn sie nämlich das Gespräch sucht oder Gedankenspiele entwirft. Zu antiken Zeiten war das «Populäre» und die «Philosophie» daher auch kein solcher Gegensatz wie das heute zu sein scheint, wo Philosophie offenbar nicht populär ist, sondern erst dazu gemacht werden muss oder wo sich Philosophie ungern mit dem «Pop» misst, und wenn sie es tut, sich ins akademische Abseits schießt. Diesen Tendenzen will (und kann) eine Selbstverständigung nach dem Wesen und Wirken populärer Philosophie entgegenkommen, die sich vielleicht im Moment eher auf Festivals, in philosophischen Cafes oder im Feuilleton abspielt, wobei jüngst bemängelt wurde, dass die akademische Philosophie jenseits aller gesellschaftlichen Entwicklungen vor sich hin theoretisiere, dass sich die meisten «großen Stimmen» der Philosophie nicht gerade volksnah und verständlich oder erst überhaupt nicht verständigten. Das führte wiederum zum Einwand, dass die Philosophie nicht der Ort intellektueller Moden oder schillernde Zeitdiagnostik sei, sie müsse auch nicht (oder nicht immer) öffentlich vermittelbar sein. In der Tat kann sie das auch gar nicht immer; es gibt Themen in der Philosophie – ebenso wie in anderen akademischen Forschungen – die schwer zugänglich sind, und vielleicht sind die Argumente und Gegenargumente über das Selbstverständnis der Philosophie und ihrer Popularität tatsächlich entweder überzogen oder selbstgefällig. Ist es denn wirklich so, dass sich die (auch akademische) Philosophie den populären Themen entzieht, zu denen doch auch soziale und politische Probleme unserer Zeit gehören, von Migration über Armut bis Populismus? Oder was ist mit den vielen «poppigen» Themen in der gegenwärtigen Ästhetik über Jazz, Design, Tanz und Performance?
Es gibt in diesem Bereich seit einigen Jahren eine Subdisziplin, die eines der populärsten Medien zum Gegenstand ihrer Forschung nimmt und dabei sowohl anspruchsvolles Nachdenken betreibt als auch neue Methoden der Philosophie (in der Selbstverständigung wie in der Vermittlung) ausleuchtet: Filmphilosophie ist eine «Mode» im besten, nämlich «zeitgemäßen» Sinne, deren Anfänge aber durchaus schon in den Anfängen der Filmgeschichte liegen, als der Philosoph und Psychologe Hugo Münsterberg fragte, «warum wir ins Kino gehen». Das ist bei ihm keine rein empirische, sondern auch eine normative Frage: Warum sollten wir ins Kino gehen? Dass und warum wir das tun und dass Film (und Fernsehen) eines der populärsten Medien ist (und warum), sind daher Themen, der sich diese Disziplin stellt, und sie ist dabei echt (und nicht opportunistisch) inter- und transdisziplinär, aber sie ist dadurch weder notwendig von den philosophieeigenen Methoden und Denkweisen entfremdet noch wird sie notwendig trivial.
Wir sind aber nicht hier, um die Debatte, was Philosophie ist, darf, kann und soll, weiterzuführen, sondern speziell zu fragen, was populäre Philosophie sein kann, welche Formen sie annehmen kann, und eine Antwort bietet möglicherweise die heutige Filmphilosophie, nicht nur, aber auch weil sie das Massenmedium Film zum Gegenstand hat und Philosophie auf den Wegen des Films auf andere Weise und auch einer breiteren Zuhörerschaft vermittelt. Eine Filmphilosophie entfernt sich dabei von den traditionellen Pfaden philosophischen Nachdenkens und Argumentierens, als sie eine provokative Prämisse ihren Untersuchungen voranstellt: Sie erhebt das «Denken in» oder «durch Bilder» zu einer mindestens ebenbürtigen philosophischen Methode, die zu Erkenntnissen führen kann. Radikal gedacht, heißt das, dass auch Film Philosophie sein oder dass durch Film philosophisch gedacht werden kann, eine These, die übrigens (mit anderen formalen Kriterien) auch einige Vertreter einer «Literaturphilosophie», einer «Philosophie des Tanzes», des «Theaters», «Computerspiels», der «Musik» usw. unterschreiben würden.
Aber zunächst «Cut» und «auf Anfang». Was ist und macht denn eigentlich «Filmphilosophie»? Diese Frage lässt sich aus vier Blickwinkeln betrachten:
- Philosophie des Films I: Eine Philosophie des Films kann in einem ersten Sinne auf die Subdisziplin verweisen, die nach dem Wesen, der Ontologie des Films fragt, zum Beispiel was Film zu Film macht: Die Bewegung des Bildes durch Raum und Zeit? Die Leinwand, die die Zuschauer*innen von dem Geschehen auf der Leinwand (hinter der Kamera) trennt? Sie fragt danach, was die Welt des Films (zum Beispiel im Unterschied zu unserer realen Welt) ist oder was filmische Fiktion ist (die Philosophie des Films beschränkt sich ja nicht nur auf fiktionalen, narrativen Film). Sie untersucht, ob Film (oder sogar Fernsehen) Kunst ist und was eine filmästhetische Erfahrung von anderen ästhetischen Erfahrungen unterscheidet. Viele dieser Fragen sind interdisziplinär angelegt, können und müssen aber nicht notwendig jenseits des philosophischen (film-, literatur-, und kulturwissenschaftlichen usw.) Diskurses immer und von allen verstanden werden; es sind komplexe Fragen, die nicht trivialisiert werden, nur weil sie sich aus dem Umgang mit einem der populärsten Medien ergeben.
- Philosophie im Film: Film – in dem Fall insbesondere der fiktionale narrative, aber auch der Dokumentarfilm – ist auch ein Medium, in dem sehr häufig philosophische Themen und Fragen direkt oder indirekt verhandelt werden, etwa zum Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion (z.B. Inception), zum Konflikt zwischen freiem Willen und Determiniertheit (z.B. Matrix), zu moralischen Dilemmata (z.B. Sophie`s Choice), zum Sinn des Lebens (z.B. The Tree of Life), zur Frage nach den Bedingungen von Selbstbewusstsein (z.B. Her), zur Ethik des Sterbens und der menschlichen Würde (z.B. Amour), zur personalen Identität (z.B. Mulholland Drive), zur Subjektivität des menschlichen Geistes (z.B. Being John Malkovich), zu den Bedingungen des Lebens, die unsere Moral umkehren können (z.B. Breaking Bad) zur Verantwortung von Konsumenten für Natur und Tier (z.B. We feed the World) und vieles mehr, wobei sich die meisten von den hier genannten Filme dadurch auszeichnen, dass sie nicht nur diese, sondern auch andere philosophische Fragen aufwerfen. Solche Filme können reine Illustration für philosophisches Nachdenken über die genannten Fragen sein, sie können als Sprungbrett für philosophische Laien oder «Heranwachsende» dienen, sich über solche Fragen Gedanken zu machen (im Philosophieunterricht, in Diskussionsforen, auf Festivals) oder sie können als Quelle dienen, überhaupt die richtigen und wichtigen Fragen einmal zu artikulieren. Diese Filme können aber auch als Werke angesehen werden, die selbst philosophieren, mit ihren eigenen Methoden und Erkenntniswegen. Letzteres wäre eine «Philosophie des Films» in einem zweiten Sinne. Kommen wir aber zunächst zur Illustrationsfunktion:
- Philosophie mit Film: Gerade weil viele Filme philosophische Themen, Fragen oder auch Philosoph*innen (z.B. Ludwig Wittgenstein, Iris Murdoch) selbst zum Gegenstand haben, sind sie geradezu prädestiniert für den Philosophieunterricht oder öffentliche Filmreihen, wie sie die Kollegin Andrea Kloschinski hier genauer beschreibt. Student*innen und nicht-akademische philosophische Laien werden so auf andere Weise als mit dem manchmal vielleicht wirklich trockenen oder schwer zugänglichen philosophischen Text an Fragestellungen herangeführt, sie diskutieren meist auch lebhafter, weil sie auf das reichhaltige, dichte Filmmaterial und die Narrative zurückgreifen (hier werden vor allem fiktionale, narrative Filme verwendet), die epistemische, ethische und gesellschaftliche Fragen anschaulich und verdichtet thematisieren, philosophische Theorien durchspielen, vielleicht sogar, wie in einigen Klassikern von Woody Allen, im filmischen Dialog diskutieren. Dabei soll der Film die Arbeit am philosophischen Text aber nicht ersetzen, er kann diesen aber ergänzen und zu neuen Blickwinkeln und Herangehensweisen führen, zu kreativem und kritischem, aktivem Mitdenken motivieren. Die philosophische Diskussionsarbeit mit Gedankenentwürfen wie dem beliebten (= populären!) «Trolley Case», mit seiner fragwürdigen Variante des «Fat Man», das bereits erwähnte «Höhlengleichnis», oder Rawls «Schleier des Nichtwissens» ist im Grunde nichts anderes als Illustration und Allegorie, nur dass sie ein Problem auf sein Wesentliches reduziert (was für logisches Argumentieren und für grundlegende Erkenntnis von Vorteil sein kann), dabei aber die Komplexität und Pluralität zum Beispiel moralischer Dilemmata, wie sie in der Regel im wirklichen Leben (und nicht im Labor) auftreten, unterwandert (was für eine lebens- und anwendungsorientierte Erkenntnis von Nachteil ist). Wenn im Philosophieunterricht aber auf populäre Film- und Serienbeispiele zurückgegriffen werden kann – gerade die neuen Qualitäts-Fernsehserien bilden mittlerweile einen Kanon, auf den dann ohne viel Umstand rekurriert werden kann – gewinnt man in manchen Fällen viel besser die Aufmerksamkeit der Student*innen. Und die in den Narrativen verdichteten philosophischen Problemfelder sind häufig anspruchsvoll: Zu reflektieren, nach welchen moraltheoretischen Prinzipien Sophie in Sophie`s Choice sich denn nun entschieden haben mag, eines ihrer Kinder dem KZ-Aufseher (und damit dem sicheren Tod) auszuliefern, um das andere zu retten, ist alles andere als einfach, und in diesem Fall den Utilitarismus, den Kantianismus und den Aristotelismus anwendungs- und problemorientiert durchzukauen, stellt auch fortgeschrittene Denker vor Herausforderungen.
- Philosophie des Films II: Die Philosophie des Films in einem engeren oder anspruchsvolleren Sinne verläuft analog zu einer Philosophie der Literatur (und entspricht generell einem «Kunst als Philosophie»-Ansatz), die manche philosophische Texte als Literatur oder manche Literatur als Philosophie anerkennt – so sind allein schon Platons Dialoge methodisch, sprachlich, inhaltlich viel näher an erzählender Literatur, am Theater, am Film als etwa ein Text von Kant; umgekehrt gelten Musils «Der Mann ohne Eigenschaften» oder Prousts «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» kaum bestritten als (auch) philosophische Texte. Dabei kommt es nicht bloß darauf an, dass diese Texte in einer besonders literarischen Sprache geschrieben sind (was vielleicht Fragen aus der Kategorie I aufwirft, was einen literarischen Text von einem philosophischen unterscheidet, was Literatur überhaupt ist etc.) und es kommt auch nicht bloß darauf an, dass literarische Texte (oder filmische Narrative) philosophische Themen behandeln (z.B. Was ist Zeit? Was ist Erinnerung?), sondern dass sie dies auf eine Weise tun, die nicht anders getan werden kann, die nicht ersetzt werden kann zum Beispiel durch eine wahrheitsfähige Proposition in der Form von «Zeit ist eine Abfolge von Ereignissen» oder «Erinnerung ist das nicht-originäre Aufkommen oder Abrufen eines vergangenen Ereignisses».
Eine «Philosophie des Films» sieht entsprechend philosophisches Potenzial im Film selbst und geht davon aus, dass Film selbst denkt und Ideen und Gedanken hervorbringt (siehe dazu auch den Beitrag zur Performance-Philosophie von Christoph Müller), indem Film in einer bestimmten Weise Argumente, Thesen aufstellt oder Fragen aufwirft, die wir durch und mit der Filmerfahrung – in ihrer expressiven und narrativen Vielfalt – erfahren und auf diesem Wege zu einer anderen Form der Erkenntnis oder des Wissens kommen: einer vor allem nicht-propositionalen Erkenntnis, die nicht dem Wissensdiktum des «justified true belief» entspricht, aber trotzdem uns etwas erkennen lässt: Eine (Film-)Ästhetik, die dies vertritt, geht davon aus, dass es implizites Wissen gibt, das sich zeigt statt sagt, das ausgedrückt wird statt beim Namen genannt zu werden. Sie steht dafür ein, dass wir über die ästhetische Erfahrung ein «Wissen wie» statt einem «Wissen, dass» erlangen und dass dieses «knowing-how» als eine eigene Form des Welt- und Selbstzugangs ebenbürtig neben dem propositionalen Wissen bestehen kann. Der (Film)philosoph Stanley Cavell betrachtet Film, Literatur und Theater daher auch als für das philosophische Denken essentielle Dialogpartner und bringt wiederum durch seine eigenen Texte philosophische Theorien und künstlerische Werke auf sehr originelle, den Blick auf die Tradition verändernde Weise in ein «Gespräch».
Ist Filmphilosophie – als eine Subdisziplin der Epistemologie, der Philosophie des Geistes, der Ästhetik – angesichts der beschriebenen Fülle und Komplexität überhaupt eine populäre Philosophie? Ja und nein. Sie geht natürlich mit dem populären Medium Film (und Fernsehen) um (und betreibt dabei offensichtlich eine Form populärer Philosophie), sie macht anhand narrativer und expressiver Beispiele philosophische Themen leichter und anschaulicher vermittelbar (und lässt philosophische Themen dadurch vielleicht auch populär werden), sie stellt aber auch die großen Fragen (Was ist überhaupt Erkenntnis? Was ist Realität? Was ist Zeit?), die ohne Philosophiekenntnis wenig verständlich sind und auch nicht sein müssen, auf diese Weise aber gerechtfertigt populärer werden könnte innerhalb der eigenen Zunft. Populäre Philosophie muss nicht gleichbedeutend mit einer trivialen, austauschbaren Mode sein. Sie kann ihren Platz in der akademischen Welt haben, aus verschiedenen Gründen. Ersetzen soll sie Lektüre des philosophischen Textes – der auch ruhig mal «as dry as a desert» sein darf – und das durchaus auch anstrengende Argumentieren aber nicht, denn es gibt Fragen und Methoden, die kaum anders als trocken (sachlich und analytisch) und denkarbeitsintensiv behandelt werden können und sollen. Philosophie macht sich populär(er), wenn sie sich offen zeigt gegenüber dem, was uns Menschen betrifft, berührt, besorgt und wenn sie das, womit wir uns täglich umgeben und beschäftigen – und dazu gehören die auch unter Akademiker*innen in der Freizeit rezipierten Romane, Theater, Bildende Kunst, Film und seit einiger Zeit auch die allgemein sehr populären Qualitäts-Fernsehserien. Wenn Philosophie populär ist, dann ist sie auch demokratisch und anti-elitär, denn dann bezieht sie Menschen und Ausdrucksformen mit in ihr Denken hinein, die sonst aus dem Diskurs ausgeschlossen wären. Warum wir ins Kino gehen, ist nämlich keine triviale Frage.
Susanne Schmetkamp ist Postdoctoral Research Fellow am Fachbereich Philosophie der Universität Basel und Lehrbeauftragte für Philosophie an der Universität St. Gallen. Sie forscht in den Bereichen Ästhetik und Ethik und zu deren Schnittstellen.