#MeToo – Versuch einer Bilanz
von Tatjana Hörnle (Berlin)
Die Folgen der internationalen Empörungsbewegung, die mit dem Hashtag #MeToo bezeichnet wird, waren drastisch: arbeitsrechtliche und strafrechtliche Konsequenzen und/oder soziale Ächtung für viele Beschuldigte, darunter prominente und einflussreiche Personen (in der Regel Männer). Es lohnt sich, im Rückblick positive und negative Aspekte dieser Bewegung zu benennen. Eine zentrale Frage ist, ob sich Verhaltensnormen geändert haben und wie solche Veränderungen zu bewerten sind. Von Verschärfungen sozialer Normen ist auszugehen: Sexualisiertes Verhalten, das nicht von allen Beteiligten konsentiert ist, wird zunehmend sozial abgelehnt. Es ist zudem wahrscheinlich, dass #MeToo nicht nur restriktivere Verhaltensstandards verankert hat, sondern auch abschreckende Wirkung für egozentrische, wenig an sozialen Normen interessierte Personen entfaltet. Wie groß solche Effekte sind, ist schwer zu sagen – aber es ist plausibel anzunehmen, dass die #MeToo-Bewegung nicht folgenlos ist.
Wie sind verschärfte soziale Normen und verbesserte Abschreckung zu bewerten? Mit Blick auf schwere sexuelle Übergriffe fällt die Antwort eindeutig positiv aus. Selbstverständlich ist es eine begrüßenswerte Entwicklung, wenn Täter nicht mehr darauf bauen, dass sie dank ihrer ökonomischen und sozialen Macht ohne Konsequenzen vergewaltigen können. Eine positive Bewertung fällt auch leicht, wenn in beruflichen Kontexten Belästigungen und Übergriffe abnehmen. Menschen, die auf Entscheidungsträger und Vorgesetzte angewiesen sind, um Zugang zu Arbeit zu bekommen und ihren Alltag bewältigen zu können, haben ein legitimes Interesse an einem belästigungsfreien Arbeitsumfeld. Darüber hinaus liegt es im kollektiven Interesse aller Bürger und Bürgerinnen, dass Unternehmen und öffentliche Institutionen frei von sexueller Korruption sind. Wie für andere Formen des Missbrauchs von Macht gilt: Die Qualität von künstlerischen und anderen Leistungen und das Vertrauen in Institutionen leiden, wenn Beschäftigte nicht nach ihren Fähigkeiten und Qualifikationen ausgewählt und gefördert werden, sondern die eigennützigen Präferenzen korrupter Entscheidungsträger den Ausschlag geben.
Die Vorteile einer Verschärfung sozialer Normen und verstärkter Abschreckung bei schweren Sexualdelikten sowie Belästigungen in beruflichen Kontexten und korruptem Machtmissbrauch dürften weitgehend unstreitig sein. Es bleiben aber andere Konstellationen, für die #MeToo möglicherweise überschießende negative Effekte hat. 2017 haben Catherine Deneuve und andere in einem Artikel in Le Monde Einwände gegen #MeToo vorgebracht. Sie argumentierten, dass sich eine puritanische Weltanschauung durchsetze und sexuelle Freiheit gefährdet werde. Dagegen argumentierte z.B. die Schriftstellerin Siri Hustvedt, dass Respekt und Rücksichtnahme wichtige Bedingungen für gute erotische Beziehungen sind. So richtig das ist, wird damit das Problem nicht voll gewürdigt, dass Deneuve und andere andeuteten. Die #MeToo-Bewegung beeinflusst auch Personen, die nicht egozentrisch und grob sind, sondern im Gegenteil besonders empfänglich für moralische Appelle. Die Diskussionen haben, so jedenfalls mein Eindruck aus Diskussionen mit Studenten, bei jungen Männern ein Gefühl der Unsicherheit geschaffen. Diese Unsicherheit ist nachvollziehbar. Für verbale Äußerungen und manche Berührungen ist es nicht immer einfach, die Grenzen des sozial Erlaubten zu erkennen. Der Unterschied zwischen einem Flirtversuch, einem Kompliment, einer freundlich gemeinten Umarmung, einem Annäherungsversuch einerseits und einer sexuellen Belästigung andererseits ist nicht immer abstrakt zu beschreiben. Viel hängt von Nuancen, dem persönlichen Geschmack der Beteiligten und ihrer individuellen Stimmung ab. Die sicherste Option für sozial angepasste Menschen ist es, sich in jeder Situation strikt neutral und asexuell zu verhalten und alles zu vermeiden, was andere eventuell als anzüglich oder belästigend empfinden könnten. Außerhalb des Arbeitsplatzes und außerhalb von Hierarchien kann derartiges übervorsichtiges Verhalten zu Abstrichen bei der Lebensqualität führen. Es wäre bedauerlich, wenn sich soziale Normen in diese Richtung entwickelten.
Die negativen Seiten der #MeToo-Bewegung zeigen sich besonders deutlich, wenn man nicht verhaltensregulierende soziale Normen in den Blick nimmt, sondern die Beschuldigung von Individuen in sozialen Medien. Die Praktiken des “naming and shaming” sind aus unterschiedlichen Perspektiven zu bewerten. Zu erwägen ist, ob davon jedenfalls diejenigen profitieren, die in der Vergangenheit Opfer sexuellen Fehlverhaltens geworden waren. Das durch #MeToo geschaffene Forum erlaubt, die eigene Geschichte zu erzählen, Solidaritätsbekundungen zu erhalten und durch die Bloßstellung des Beschuldigten Vergeltung zu üben. Diese private Vergeltung mag Betroffenen als bessere Alternative zur Nicht-Reaktion auf das erlittene Unrecht erscheinen und vielleicht auch als bessere Alternative im Vergleich zu einem staatlichen Strafverfahren. Strafverfahren sind stark formalisiert, de-emotionalisiert und nicht auf die Bedürfnisse von Opfern zugeschnitten. In den sozialen Medien gibt es dagegen Raum für den Ausdruck von Empathie durch Dritte, die den Eindruck einer großen unterstützenden Gemeinschaft vermitteln können, was in Strafverfahren nicht möglich ist. Was die Erfahrungen der anschuldigenden Personen betrifft, würden empirische Studien (die es hoffentlich in einer gewissen zeitlichen Distanz zu #MeToo geben wird) allerdings wahrscheinlich kein ganz homogenes Bild ergeben. Jedenfalls in Reaktion auf weniger gravierende sexuelle Belästigung könnte es, psychologisch gesehen, der bessere Ansatz sein, nicht die Rolle als Opfer zu betonen.
Selbst wenn die von sexuellen Übergriffen Betroffenen ihre Beteiligung bei #MeToo als positive Erfahrung schildern, ist nicht schon deshalb ausgemacht, dass es sich um eine lobenswerte Form der sozialen Kontrolle handelt. Erhebliche Probleme werden deutlich, wenn #MeToo-Praktiken im Hinblick auf prozedurale Fairness und das angemessene Ausmaß der Sanktionierung untersucht werden. Informelle Sozialkontrolle kann zwar nicht an den strengen Maßstäben gemessen werden, die für staatliche Strafverfahren anzulegen sind. Aber jede Form einer nicht-trivialen Sanktionierung von Menschen verdient eine kritische Analyse, auch dann, wenn sie außerhalb der formalen Verfahren geschieht, für die das Rechtsstaatsprinzip gilt. Ein charakteristischer Zug der #MeToo-Bewegung ist, dass Anklage und Bestrafung zusammenfallen. Jemanden mit enormer öffentlicher Wirkung sexuellen Fehlverhaltens zu bezichtigen, bringt die Sanktionierung bereits mit sich. Für die Beschuldigten ist die Bloßstellung eine substantielle Übelszufügung. Die Effekte werden gesteigert, wenn intime und manchmal peinliche Details enthüllt werden. Denunziationen bleiben wirkmächtig und Enthüllungen sind nicht mehr aus der Welt zu schaffen, auch wenn es Beschuldigten gelingt, sich später in einem Zivil- oder Strafverfahren erfolgreich zu verteidigen. Zu den zentralen Prinzipien eines staatlichen Strafverfahrens gehören die Unschuldsvermutung, also das Bemühen, vorschnelle Festlegungen zur Schuld zu vermeiden, und Schutzmechanismen wie der Ausschluss der Öffentlichkeit. Kommunikation in den sozialen Medien unterliegt dagegen keinerlei Beschränkungen und es gibt keine systematische, von außen zu beurteilende Beweisführung. Unterstützerinnen von #MeToo fordern, unbedingt denjenigen zu glauben, die ihre Geschichte als Betroffene sexueller Übergriffe erzählen. Eine kategorische Festlegung dieser Art ist aber problematisch, und zwar auch dann, wenn man davon ausgeht, dass das bewusste Erfinden von Lügengeschichten ein seltenes Phänomen ist. Öffentliche Bloßstellung ohne eine Instanz, die Fakten irgendwie überprüfen könnte, hinterlässt Unbehagen. In typischen #MeToo-Fällen waren der Hintergrund professionelle Hierarchien und stark kompetitive Umgebungen (etwa im künstlerischen Bereich). Viele Arbeitsumfelder, vor allem solche mit starkem Wettbewerb, bringen Frustrationserlebnisse und persönliche Konflikte mit sich, was bei allen Beteiligten Wahrnehmungen und Erinnerungen beeinflussen kann. Eine gewisse Untermauerung von Plausibilität kann darin liegen, dass mehrere Personen ähnliche Anschuldigungen erheben – aber selbst dann ist nicht hundertprozentig ausgeschlossen, dass sich gruppenpsychologische Dynamiken in konfliktträchtigen Kontexten ausgewirkt haben könnten.
Ein weiteres gravierendes Problem ist, dass selbst bei hinreichender Beweislage in manchen Fällen die Folgen für Angeschuldigte unangemessen sind, weil sie disproportional heftig ausfallen. Bereits für die öffentliche Anschuldigung kann in Frage gestellt werden, ob dies immer verhältnismäßig ist, nämlich dann, wenn nur eine vergleichsweise leichte Form sexueller Belästigung vorgeworfen wird. Und auch bei erheblicheren Übergriffen kann das Geschehen zu Konsequenzen führen, die nicht mehr in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Vorwurfs stehen. Die Bloßstellung führt regelmäßig zu weiteren Verschlechterungen der Lebenslage, die etwa in den endgültigen Abbruch einer lebensdefinierenden Karriere münden. Problematisch sind soziale und berufliche Konsequenzen, die ohne gerichtliches Verfahren von Dritten verhängt und vollzogen werden. Die Gefahr, dass soziale und berufliche Verschlechterungen übermäßig harsche Reaktionen für das konkrete Fehlverhalten sein können, besteht insbesondere, wenn sich negative Folgen anhäufen, weil verschiedene Akteure auf die Anschuldigung reagieren. Dieses Problem vieler #MeToo-Fälle entfaltet sich auch dann, wenn der Vorwurf berechtigt und beweisbar ist. Unverhältnismäßige Folgen beruhen auf moralischem Abscheu der Sanktionierenden oder auf öffentlichem Druck, der auch nüchtern-ökonomisch kalkulierende Akteure dazu bewegen kann, eine unpopulär gewordene Person fallen zu lassen.
Übermäßig harsche Konsequenzen sind oft auf die Unfähigkeit oder Unwilligkeit zurückzuführen, Menschen differenziert nach unterschiedlichen sozialen Rollen zu erfassen und ihre Verfehlungen entsprechend zu bewerten. Es wäre möglich, auf sexuelle Übergriffe zu reagieren, ohne alle Leistungen des Angeschuldigten als Künstler, Wissenschaftler, Politiker oder in anderen sozialen Rollen zu schmälern und ohne Karrieren endgültig beenden zu wollen. Tatsächlich dominiert aber ein moralischer Totalitarismus, der darauf drängt, Angeschuldigte aus allen Lebensbereichen in radikaler Weise auszuschließen. Ein als solcher durchaus berechtigter Tadel für Fehlverhalten kann unter den Bedingungen des moralischen Totalitarismus in krass überschießende Konsequenzen münden, die alles verdammen, was der Angeschuldigte je getan hat oder in Zukunft tun wird. Die #MeToo-Bewegung hat teilweise zu absurden Folgen geführt, etwa als der Schauspieler Kevin Spacey aus einem fertiggestellten Spielfilm herausgeschnitten wurde. Eine weitere Folge des moralischen Rigorismus unserer Zeit ist, dass #MeToo-Kampagne Dritte treffen, denen nicht selbst sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird, sondern nur eine nicht hinreichende Distanz zu denjenigen, die moralischen Zorn auf sich gezogen haben, s. etwa den Rücktritt von Ian Buruma als Chefredakteur der New York Review of Books.
Für die Gesamtbewertung der #MeToo-Bewegung ist weder ein eindeutig positives noch ein eindeutig negatives Urteil möglich. Soweit die Geltung und die Wirksamkeit sozialer Normen zu bewerten sind, kann man zu einem positiven Urteil gelangen, vor allem dann, wenn gravierende sexuelle Übergriffe abnehmen, die durch berufliche Hierarchien ermöglicht werden. Beifall verdient auch die Verstärkung von Verhaltensnormen, die sich gegen sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz und gegen sexuelle Korruption richten. Das Bild wird allerdings diffuser, wenn die unbeabsichtigten Folgen außerhalb von Arbeits- und Machtverhältnissen bedacht werden, die darin liegen könnten, dass dezidiert asexuelles Verhalten einvernehmliche Kontakte erschwert. Die Gesamtbewertung muss spätestens dann ambivalent ausfallen, wenn berücksichtigt wird, dass positive Folgen bei Verhaltensnormen und Abschreckung durch einen hohen Preis erkauft wurden. Soziale Medien zu nutzen, um namentlich genannte Personen anzuschuldigen, ist eine problematische Form der sozialen Kontrolle. Erstens kennen die informellen Prozeduren keinerlei Sicherungsmechanismen. Zweitens zieht eine Beschuldigung in den sozialen Medien typischerweise erhebliche, teils unverhältnismäßige Folgen nicht nur für die beschuldigte Person, sondern auch für Dritte, nach sich.
Welche Folgerungen sind aus solchen Überlegungen zu ziehen? Die erste Folgerung ist ein Appell an alle, die erwägen, eigene negative Erlebnisse durch Enthüllungen in den sozialen Medien zu verarbeiten. Die Popularität der #MeToo-Bewegung kann den Eindruck erwecken, dass sich eine neue Verhaltensnorm für diejenigen entwickelt hat, die von sexuellem Fehlverhalten betroffen waren, nämlich der Imperativ: Ihr müsst öffentlich beschuldigen! Solche Vorstellungen sind zu kritisieren. Selbst wenn es um die anders gelagerte Frage geht, ob Opfer von Sexualstraftaten sich an die Strafverfolgungsbehörden wenden sollten, sind kategorische Vorgaben skeptisch zu beurteilen. Bedauerlicherweise wird oft unterstellt, dass die Qualität eines Strafrechtssystems danach zu bemessen sei, wie oft Opfer Anzeige erstatten. Ein perfektionistisches Streben nach einem möglichst großen Anteil an Anzeigen stößt aber auf Bedenken. Betroffene müssen und sollen eine höchstpersönliche Entscheidung treffen, ob sie ihr Wissen offenbaren und sich den unvermeidbaren Belastungen eines Strafverfahrens aussetzen wollen, oder ob sie dies lieber nicht tun. Erst recht gilt die Notwendigkeit einer wohl abgewogenen Entscheidung, wenn jemand in den sozialen Medien die kombinierte Rolle von Zeugen, Anklage und Gericht einnimmt, und eine Lawine an negativen, unkontrollierbaren Konsequenzen (nicht nur) für den Beschuldigten droht. Wer die Konsequenzen von „naming and shaming“ klar sieht, muss sich der enormen Verantwortung bewusst sein, die damit verbunden ist. Auf keinen Fall sollte eine solche Entscheidung spontan oder in der emotionalen Wolke eines kollektiven „Wir sind stärker“ getroffen werden.
Ein zweiter Appell richtet sich an diejenigen, die auf der Basis von Berichten anderer gegen Angeschuldigte negative Konsequenzen außerhalb von Gerichtsverfahren verhängen können. Sie sollten die Beweislage kritisch sichten und moralischen Rigorismus vermeiden, nicht nur, aber insbesondere auch, wenn sich negative Konsequenzen gegen Personen richten, denen nicht selbst sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird. In jedem Fall ist zu erwägen, ob Sanktionen nicht unverhältnismäßig in Relation zum vorgeworfenen Unrecht sind. Dies gilt insbesondere dann, wenn kumulierte Reaktionen insgesamt disproportional harsch werden. Die Wirksamkeit von #MeToo als scharfes Instrument sozialer Kontrolle erfordert reflektierte, behutsame Entscheidungen und bewusste Distanz zu moralischem Furor, der Angeschuldigte in allen ihren sozialen Rollen vernichten will.
Tatjana Hörnle ist Inhaberin eines Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz sowie der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.