05 Feb

Bildung zum Anderen

von René Torkler (Eichstätt)


Der Erwerb von Bildung gilt vielen als Schlüssel zu einer gelingenden Lebensgestaltung. In diesem Sinne ist Bildung ohne Frage ein Zukunftsthema, da nur derjenige vor den Aufgaben des Lebens bestehen wird, der sich durch zukunftsfeste Bildung hinreichend auf diese vorbereitet. Solches Vorbereitsein auf zentrale Lebensaufgaben dürfte immer schon eine grundlegende Motivation für die mit Bildungsprozessen verbundenen Anstrengungen gewesen sein.

Wird Bildung jedoch vollständig auf das Anliegen verengt, den Menschen mit Kenntnissen und Fähigkeiten auszustatten, die sich ausschließlich an konkreten Erfordernissen und praktischen Notwendigkeiten orientieren, setzt sich das Bildungsanliegen leicht einer Polemik aus, die nicht erst Nietzsche formuliert: „Kurz: »der Mensch hat einen nothwendigen Anspruch auf Erdenglück, darum ist die Bildung nothwendig, aber auch nur darum!«“[1] Wollten wir Bildung so verstehen, ginge offenbar etwas Wesentliches verloren.

Nun ist dieser Hinweis sicher nicht neu; dennoch bleibt es vor dem Hintergrund bildungstheoretischer Trends der vergangenen Jahre wichtig, auf zwei Aspekte des Bildungsbegriffs hinzuweisen. Beide scheinen mir so grundlegend zu sein, dass sie auch im Kontext zeitgemäßer Reformulierungen zu Sinn und Gestalt der Bildung nicht vernachlässigt werden können, ohne diese einer ähnlichen Polemik auszusetzen.

Bildung wird nicht erworben

Der erste Aspekt hat mit dem inkommensurablen Verhältnis von Bildung und Ökonomie zu tun. Schon Platon artikuliert entsprechende Überlegungen bekanntlich im Rahmen seiner Sophistenkritik, wobei diesen antiken Weisheitslehrern gegenüber stets der Vorwurf im Raum steht, dass sie den sich Bildenden als ein Gefäß missverstehen, das es im Bildungsprozess mit dem passenden Inhalt zu füllen gilt.[2] Platon macht dabei immer wieder deutlich, dass das Modell der Übertragung von Wissen in ein leeres Gefäß am Kern der Sache vorbeigeht: Der sich Bildende ist keine Amphore, die heute mit diesem, morgen mit jenem Wissensgehalt gefüllt werden könnte – je nachdem, welche Aufgaben das Leben für ihn gerade bereithält. Besonders das berühmte Höhlengleichnis versucht diesen Aspekt zu veranschaulichen, wenn es den Bildungsgang des befreiten Höhlenbewohners mit der Periagoge, der Abwendung von den Schatten an der Höhlenwand beginnen lässt: Im Zentrum der Bildung steht nicht die Aufnahme von etwas, das wir zu unserem bisherigen Selbst gewissermaßen additiv hinzufügen. Die Abwendung vom Gewohnten impliziert vielmehr eine Veränderung, welche die Seele im Ganzen erfasst, diese verändert und letztlich nicht mehr reversibel ist. Daher ist schon die Rede eines Erwerbs von Bildung eine unglückliche Ausdrucksweise, da sie suggeriert, man könne diese anschaffen wie ein Auto, das bei veränderten Erfordernissen verkauft und gegen ein passenderes Modell oder Fortbewegungsmittel getauscht werden könnte.

Bildungsprozesse gehen am Selbst nicht derart spurlos vorbei; Bildung wird nicht in dem Sinne erworben, dass sie dem Einzelnen als eine Art zusätzlicher Option verfügbar würde. Der sich Bildende wird im Bildungsprozess ein Anderer – und wird dabei zugleich mehr er selbst, als er es vorher gewesen war. Dieser dialektische Aspekt der Veränderung, der den sich Bildenden erfasst, wenn er sich vom bisher Bekannten abwendet, kommt bei Bildungstheoretikern verschiedenster Couleur in unterschiedlichen Begrifflichkeiten zum Ausdruck. Bei Platon ist es die Periagoge, bei Hegel die Entfremdungserfahrung, die dem sich Bildenden nicht zu ersparen ist.[3] Besonders prägnant zeigt er sich auch in Ricœurs Überlegungen zur Lektüre: „Ich, der Leser, finde mich nur, indem ich mich verliere.“[4] Der Leser, der die Lektüre beendet, ist eben ein Anderer, als derjenige, der die Lektüre beginnt. In Ricœurs Mimesistheorie wird an diesem Punkt eine bildungstheoretische Dimension erkennbar, da sie im Akt der Lektüre nicht nur das rezipierende Moment sieht, sondern einen Prozess, in dem sich das Weltverhältnis des Lesenden konstituiert und weiterentwickelt.[5]

Ausgehend von dieser Überlegung lässt sich nun auch einsehen, wieso es sich häufig um ein Missverständnis handelt, wenn Bildungsprozesse als ein Erwerb von Kompetenzen beschrieben werden, wie es auch Bernd Lederer es in diesem Blog beklagt. Die Redeweise vom Kompetenzerwerb ist mindestens reduktionistisch, weil sie den beschriebenen Aspekt der Veränderung nicht reflektiert, sondern suggerieren kann, das sich bildende Selbst bliebe im Prinzip dasselbe und würde sich nur durch bestimmte Zusätze ergänzen, die sich wie ein äußerlicher Besitz erwerben lassen. Das Verständnis von „Bildung als Transformationsprozess“[6] bringt diesen zentralen Aspekt der Veränderung auf den Begriff, auch wenn diese Formulierung letztlich tautologisch ist: Bildung ist immer Transformation.

Bildung und Pluralität

Der zweite Punkt, der mit dem ersten zusammenhängt, ist der Aspekt der Pluralität. Bildung impliziert ein bestimmtes Verhältnis zu dem oder den Anderen, wobei diesen als Gleichberechtigen eine irreduzible Andersartigkeit zugestanden wird. In diesem Sinne bedeutet Bildung, „dass wir wissen: es gibt außer uns noch andere Mittelpunkte der Welt und andere Perspektiven auf sie. Andere sind nicht nur Teil meiner Welt, ich bin auch Teil der ihren. Gebildet ist, wen es interessiert, wie die Welt aus anderen Augen aussieht, und wer gelernt hat, das eigene Blickfeld zu erweitern.“[7]

Gebildet zu sein erweist sich damit weniger als Zustand denn vielmehr als eine Haltung und zwar als eine, die, wie Spaemann schreibt, mit Egozentrismus nur schwer vereinbar ist. Auch wenn man sich Bildung wohl immer als einen reflexiven, selbstreferenziellen Prozess denken muss, sind wir in diesem Prozess immer auf Andere bezogen. In der Bildung geht es also nicht darum, in dünkelhafter Weise Selbstvergewisserung zu betreiben; sie zielt vielmehr stets auf die Vermittlung von Eigenem und Anderem. Reine Affirmation des Eigenen würde diesen Anspruch unterschreiten.

Die Vermittlung verschiedener Perspektiven gehört besonders deshalb zum Bildungsbegriff hinzu, weil Bildung ein Weltverhältnis konstituiert. Da es „die Welt“ jedoch kaum nur in einer Perspektive gibt, muss der Umgang mit Pluralität als ein grundlegendes Moment von Bildung überhaupt verstanden werden. Für den Umgang mit den anderen Perspektiven auf die Welt lässt sich das gleiche annehmen wie mit Blick auf die Lektüre: In der Auseinandersetzung mit Anderen und ihrer von der eigenen abweichenden Weltdeutung verändern und transformieren wir uns: wir wachsen.

Kant hat diesen Wachstumsprozess im Begriff der erweiterten Denkungsart gefasst. In seiner Kritik der Urteilskraft erläutert er, „daß es einen Mann von erweiterter Denkungsart anzeigt, wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils […] wegsetzt, und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert.“[8]

In dieser Erweiterung unserer Denkungsart liegt also ein Weg, Egozentrismus zu überwinden, indem wir uns in den Standpunkt Anderer versetzen, ihre Perspektiven einzunehmen versuchen und so zu einem immer differenzierteren Bild der Wirklichkeit gelangen. Dieses Projekt ist freilich nicht abschließbar; es handelt sich dabei Kant zufolge um eine Maxime des „gemeinen Menschenverstandes“ und auch hier lässt sich erkennen, dass wir es eher mit einer Haltung als mit einem konkret erreichbaren, gar evaluierbaren Zustand zu tun haben.

Deutlich wird aber auch, dass der Vorgang der Erweiterung mit unserer Urteilsfähigkeit zusammenhängt. Für Hannah Arendt lag in dieser Überlegung einer von Kants wichtigsten Gedanken; die erweiterte Denkungsart galt ihr als die „conditio sine qua non des richtigen Urteils“[9]: Erst indem wir uns durch die Erweiterung unserer Denkungsart zur Pluralität der Welt in Beziehung setzen, versetzen wir uns in die Lage, ein Urteil zu fällen, dass mehr ist als eine bloße Privatmeinung. Auch dabei geht es also um die Vermittlung von Eigenem und Anderem: „Wenn ich Andere beim Urteilen berücksichtige, heißt das nicht, daß ich mit dem ihren übereinstimme. Ich spreche immer noch mit meiner eigenen Stimme und zähle nicht Stimmen ab, um zu dem zu kommen, was ich für richtig halte. Aber mein Urteil ist auch nicht mehr in dem Sinne subjektiv, daß ich zu meinen Schlußfolgerungen nur komme, indem ich mich selbst berücksichtige.“[10]

Urteilskraft, verstanden als die Fähigkeit, mit den Perspektiven der Anderen vermittelnd umzugehen und sie im eigenen Urteil zu berücksichtigen, kann vor diesem Hintergrund als das eigentliche Kennzeichen des Gebildeten gelten. Das heißt keineswegs, dass alle Gebildeten zum gleichen Urteil kommen müssten. So gesehen gehört Pluralität sowohl zu den Ausgangsbedingungen als auch zu den erwartbaren Ergebnissen von Bildungsprozessen. Erst dadurch, dass Andere anders sind als ich selbst und ich mich in ihrer Andersartigkeit spiegeln, an ihr wachsen und mein Urteil schärfen, kurz: ein Anderer werden kann, scheint mir Bildung überhaupt sinnvoll und möglich zu sein. [11]


René Torkler ist Juniorprofessor für Didaktik der Ethik an der KU Eischstätt. 2015 ist seine Buch „Philosophische Bildung und politische Urteilskraft. Hannah Arendts Kant-Rezeption und ihre didaktische Bedeutung“ im Alber Verlag erschienen.


[1] Nietzsche, Friedrich: Schopenhauer als Erzieher. In: Ders.: Unzeitgemäße Betrachtungen. Frankfurt a.M.: Insel 2000, S. 185-279, hier S. 239.

[2] Vgl. z.B. Platon: Protagoras, 314a. In: Ders.: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Ursula Wolf; übersetzt von Friedrich Schleiermacher. Reinbek: Rohwolt 1994, S. 271-335.

[3] Vgl. Hoffmann, Thomas Sören: Bildung, Entzweiung, Sprache. Zur Dialektik des Bildungsgeschehens nach Hegel. In: Hutter, Axel und Kartheininger, Markus (Hrsg.): Bildung als Mittel und Selbstzweck. Korrektive Erinnerung wider die Verengung des Bildungsbegriffs. Freiburg: Alber 2009, S. 82-104, hier S. 87ff.

[4] Ricœur, Paul. Philosophie und theologische Hermeneutik. Evangelische Theologie (34) 1974, S. 24- 45, hier S. 33.

[5] Kokemohr, Rainer: Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Anspruch des Fremden. Eine theoretisch-empirische Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie. In: Koller, Hans-Christoph; Marotzki, Winfried und Sanders, Olaf (Hrsg.): Bildungsprozesse als Fremdheitserfahrung. Beiträge zu einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Bielefeld: transcript 2007, S. 13-68, hier S. 36f.

[6] Koller, Marotzki, Sanders: Einleitung. In: Dies.: Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung, S. 7-11, hier S. 7.

[7] Spaemann, Robert: Wer ist ein gebildeter Mensch? In: Hastedt, Heiner (Hrsg.): Was ist Bildung? Stuttgart: Reclam 2012,223-227, hier S. 224.

[8] Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Bd. X, Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, B 159.

[9] Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. München: Piper 1985, hier S. 97.

[10] Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München: Piper 2006, hier S. 142.

[11] Dies ist der Kerngedanke, den ich in meinem Buch zu Hannah Arendts Kant-Rezeption auszuformulieren versucht habe. Vgl. Torkler, René: Philosophische Bildung und politische Urteilskraft. Hannah Arendts Kant-Rezeption und ihre didaktische Bedeutung. Freiburg: Alber 2015, hier z.B. S. 443ff.

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