03 Sep

Bildung zum Streit und zum gemeinsamen Widerstreit – eine Skizze

von Miguel Zulaica y Mugica (TU Dortmund)


Die Frage, wofür Bildung, scheint quasi selbsterklärend und die Antwort, um ein gutes, selbstbestimmtes Leben zu führen, ist wohl kaum strittig. Wäre da nicht die Unbestimmtheit dessen, was genau ein gutes und selbstbestimmtes Leben sein soll und was Bildung dazu beitragen soll.

In meinen Ausführungen wird es mir um eine Produktivität bzw. dialektische Spannung gehen, die sich um die Frage nach Bildung und Selbstbestimmung herum formiert. Ziel der Argumentation ist es, den sachlichen Streit im Sinne eines gemeinsamen Widerstreits als Form der Problembearbeitung zu skizzieren und als einen bildungstheoretischen Einsatz zu formulieren. (1) Hierfür werde ich im ersten Schritt auf die Konfliktualität von Bildung und die Produktivität der Idee der Selbstbestimmung für den Diskurs eingehen. (2) In einem zweiten Argumentationsschritt soll auf eine hegelianische Tradition zurückgegriffen werden, mit der Bildung als eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Allgemeinen und in Hinsicht einer Allgemeinwerdung verstanden wird. (3) In einer dritten gedanklichen Bewegung sollen bildungstheoretische Überlegungen zum gemeinsamen Widerstreit skizziert und an aktuellen Beobachtungen zum Verhältnis von Wissen und Öffentlichkeit konkretisiert werden.

(1) Die Konfliktualtität von Bildung und ihre Produktivität

In den differenten Diskursen um den Begriff der Bildung treffen interessierte Leserinnen und Leser häufig auf die argumentative Figur, dass dieser Begriff unterbestimmt, einseitig interpretiert oder missverständlich verwendet wird. Also die Bedeutung dessen, was mit dem Begriff der Bildung gemeint ist, strittig ist. Gestritten werden kann aber nur dann, wenn etwas als kontrovers gilt und kein gemeinsamer Standpunkt existiert. Zugleich wird auch nur dann gestritten, wenn es um etwas geht. Wenn etwas als richtig oder falsch betrachtet wird und die Richtigkeit oder die Falschheit Konsequenzen für einen Sachverhalt hat, der Gegenstand einer normativen, politischen und/oder ethischen Verhältnisbestimmung ist.

Die inflationäre oftmals politische Thematisierung vom Begriff der Bildung verweist auf normative Gegenstände, Probleme und Fragen, die mit Bildung verhandelt werden. Der Kern dieser Diskurse verläuft in der Regel entlang von gesellschaftlichen Verhältnissen, die als erstrebenswert, erhaltungswürdig oder veränderungsnotwendig markiert werden. „Bildung“ wird dabei quasi als Antwort auf jede gesellschaftliche Problemstellung aufgerufen (vgl. Winkler 2012) – sei es Digitalisierung, nationale Wohlstandsgenerierung, Populismus, Rassismus, Umweltschutz usw. Woher kommt aber dieses Versprechen und wieso scheint es derart überzeugend zu sein? Eine mögliche Antwort auf diese Frage lässt sich mit der Befähigungsidee von Bildung geben, die auf das selbstbestimmte und zur Selbstoptimierung freigegebene Individuum rekurriert. Die distinktive Annahme ist, dass eine individuelle Auseinandersetzung eines Ichs mit der Welt ein reflexives Selbst- und Weltverhältnis, vernünftige(re) Einsichten, Urteilsfähigkeit, eine ethische Haltung und eine Befähigung zur gesellschaftlichen Teilhabe ermöglicht (hierzu Schäfer 2011).

Beispiel: Die Förderung von MINT-Fächern in Zentrum „digitaler Bildung“ soll Schülerinnen und Schüler befähigen, Algorithmen zu lesen, zu gebrauchen, zu programmieren, ethisch zu bewerten und rational zu entscheiden. (Hierzu das Strategiepapier „Digitale Bildung. Der Schlüssel zu einer Welt im Wandel“ vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2016)

Diese mit dem Begriff der Bildung verbundenen Versprechen, in welchen ein Amalgam aus gesellschaftlichen Vorstellungen, politischen Sachzwängen, gemeinsamer Handlungskoordination und Identitätsfragen entsteht, ist folglich der Grund für die Konfliktualität der Bildung, die sich aus deren Semantik selbst strikt. Es ist meine These, dass es das Moment der individuellen Selbstbestimmung ist, welches die ganze Produktivität dieses Begriffs ausmacht und deren Interpretation zu einem Streit erwächst, der weder ein Ende zu finden scheint, noch einfach zu schlichten ist.[1] Die Idee der Selbstbestimmung ist aber auch die Bedingung für den Streit selbst, weil sie die Widerspruchsmöglichkeit in Form von Skepsis und kritischer Positionierung denkbar werden lässt. Hier liegt ein zentrales bildungstheoretisches Problem, in welchem die Frage nach dem Allgemeinen bzw. dem gesellschaftlich Verbindlichen und der Selbstbestimmung zusammenlaufen, und für dessen Konturierung im nächsten Schritt ein Blick zurück auf die Bildungsphilosophie Hegel gewagt werden soll, der Bildung auf ein Gemeinsames bezieht.

(2) Problemgeschichtliche Skizze einer bildungstheoretischen Perspektive in hegelianischer Tradition

Der Begriff der „Bildung“, wie er Anfang des 19. Jahrhunderts bei Humboldt, Herder, Hegel u.a. thematisiert wurde, ist eine Art kalaidoskopischer Begriff, in dem differente ideengeschichtliche Spektren eingegangen sind und reflektiert wurden. Zentral sind die historischen Ideen des Wissens-, Rechts- und Handlungssubjekts. Das Wissenssubjekt koppelt die Frage nach Wahrheit an die individuelle Einsicht in die Wahrheit einer Aussage, die sich in der kritischen Überprüfung als Wissen darstellen muss.  Mit dem Rechtssubjekt ist der Gedanke der Rechtsstaatlichkeit als Befreiung von Fremdherrschaft verknüpft. Das Zusammenleben sollte durch allgemeine Gesetze reguliert werden, die von partikularen Weltvorstellungen und Interessen abstrahieren. Allgemeine Gesetze, die als selbstgesetzte Gesetze erkannt werden können, sollten eine vernünftige soziale Ordnung strukturieren, in der jede Bürgerin und jeder Bürger sich als frei und gleich verstehen können sollte. Das Handlungssubjekt in einer sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft basiert u.a. auf dem individuellen, meritokratischen Leistungsprinzip. Insbesondere Hegel unternahm den Versuch, den Begriff der Bildung systematisch bezogen auf das Wissens-, Rechts- und Handlungssubjekt auszudeuten und strukturell in der Architektur seiner Philosophie zu verankern. Sein Zugriff auf den Begriff der Bildung entfaltet sich von der Allgemeinheit aus, womit er ein Grundproblem der Bildungsphilosophie zu bearbeiten versucht und zwar das spannungsreiche Verhältnis von Anpassung und Freiheit, von Allgemeinheit und Besonderem.

Zur Erläuterung dieses Zusammenhangs möchte ich folgendes Zitat zur Bildung aus Hegels Werk Grundlinien der Philosophie des Rechts heranziehen:

 „Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung die Befreyung und die Arbeit der höheren Befreyung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der, nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, eben so zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjectiven Substantialität der Sittlichkeit.“ (GPR, § 187)

Wenn Hegel über Bildung spricht, dann ist die Arbeit als ein physischer und kognitiver Prozess eine Charakterisierung, die auf die Widerständigkeit der Welt und der eigenen Natur hinweist. Es ist eine alltägliche Erfahrung, dass die ernsthafte Beschäftigung mit einem Gegenstand – seien es naturwissenschaftliche Phänomene, informationstechnische Systeme, einem historisch-politischen Geschehen oder einem Musikinstrument – eine spezifische Struktur und Materialität hat, die sich nicht unseren Wünschen oder Bedürfnissens fügt. Es bedarf eines Einlassens auf die Gegenständlichkeit („Gestalt der Allgemeinheit“) und einer Selbstdisziplinierung, in der sich das Ich von den unmittelbaren Vorurteilen, Vorstellungen oder Assoziationen lösen muss.  

Die Auseinandersetzung zwischen dem Ich und der Welt würde nach Hegel völlig falsch interpretiert, wenn sie allein vom einzelnen Individuum aus gedacht würde. Das Verstehen-Wollen stößt eben an die genannte Widerständigkeit der Sache und der Sperrigkeit der Begriffe, mit denen das Ich sich als Teil einer Welt zu lernen begreift. Selbst die Artikulation individueller Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle setzt den Umgang mit allgemeinen Ausdrucksformen voraus. Dem Erlangen von Subjektivität, als eine Persönlichkeit, die Wissen einzuschätzen gelernt, die Mündigkeit erworben hat, die ein selbstständiges Leben führen und sich kritisch positionieren kann, geht der Prozess der Allgemeinmachung voraus. Das Allgemeine ist nun kein starres System. Es ist ein dynamisches Ganzes, in dem das Ich als Individuum und die Wir-Formen als Institutionen bzw. Gemeinschaften im Werden begriffen sind (vgl. Siep 2017).

Dieses Werden interpretiert Hegel als einen Bildungsprozess, in welchem sich die Vernunft in der Natur realisiert, und diese Realisation nicht ohne Andere als konstitutive Dimension der Selbstwerdung denkbar wäre. Ohne die Abarbeitung am Allgemeinen und im Medium des Allgemeinen – vorherrschender Methoden, Wissensbestände, Begründungsfiguren und der Sache selbst – gelangt das Individuum nicht zu Aussagesystemen, die von anderen als Wissen anerkannt, oder zu Kommunikationsformen, die von anderen verstanden werden. Diese Argumentationsfigur, die Hegel bezüglich des Wissenssubjekts in seiner Phänomenologie des Geistes entwickelt hat, führt er in seiner Rechtsphilosophie auf den Bereich des Rechts- und Handlungssubjekts weiter aus. Hier betrachtet er die bürgerliche Gesellschaft als historisches Resultat eines Institutionalisierungsprozesses von Freiheitsformen, in denen sich Individuen abhängig von den sozialen Handlungssphären als Teilnehmende (Rechtssubjekt, Familienmitglied, ökonomisches Subjekt etc.) erlernen und die sie durch ihre Entscheidungen und Handlungen reproduzieren (vgl. Honneth 2013).  

Bildung ist in diesem Zusammenhang zugleich Anpassung und übersteigende Reflexivität im Sinne einer Befragung der gesellschaftlichen Struktur nach ihrer Rationalität bzw. Vernunft. Anlässe für Bildungsprozesse sind hierbei Differenzerfahrungen eines Nichtverstehens und einer Widersprüchlichkeit. Ein Widerspruch ist nach Hegel immer zugleich ein theoretischer, im Sinne begrifflicher Inkonsistenz, als auch ein praktischer, als ein erfahrbares Problem. Dies zeigt Hegel, wenn er den Widerspruch der bürgerlichen Gesellschaft bespricht, der im formalen und egalitären Versprechen einer meritokratischen Wertschätzung individueller Leistung bei gleichzeitiger Erzeugung sozialer Exklusion in Form der sozialen Klasse des „Pöbels“ (GPR, § 245) liegt, welcher gerade diese Wertschätzung verwehrt bleibt. Bildung, Anerkennung und Wissen werden in diesem Zusammenhang zum Kristallisationspunkt, indem die Problemstellung einer individualistischen Bildungsvorstellung hervortritt, da sie nach Hegel verkennen würde, dass sie ein spannungsreiches Verhältnis zwischen Allgemeinmachung, Teilhabe und Individuation darstellt (vgl. Zulaica 2019).

Die Produktivität und auch Ambivalenz von Hegels Bildungsverständnis ist, dass sie ein Bewusstsein darüber intendiert, dass die Formierung von Selbst- und Weltverständnissen einerseits ein sozialer Prozess ist, im Rahmen dessen Gemeinschaften bzw. Wir-Formen entstehen und andererseits diese Gemeinschaften nach Reflexionsniveau gestuft werden. Ein hegelianisches Kritikverständnis wäre aufgrund dessen nicht nur auf die Widersprüchlichkeit von Aussagensystemen zentriert, sondern würde folgende Fragen anstoßen: Welche Wir-Formen werden erzeugt? Wie wird die Wirklichkeit beschrieben und welche Wirklichkeit bringt sie hervor? Welche Problembeschreibungen legen die jeweiligen Wissenskonstruktionen nahe und welche Handlungsoptionen folgen aus diesen? Wie vernünftig wären die entsprechenden Problembearbeitungen?

Hegels Argumentation zur Aufhebung der Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft ist der absolute monarchistische Staat, den er im preußischen Nationalstaat seiner Zeit zumindest teilweise realisiert sah. Mit der kritischen Befragung nach der Rationalität von Gemeinschaften ist somit ein Hierarchisierungsmoment verbunden, da sie zwischen mehr oder weniger gebildeten Wir-Formen zu unterscheiden sucht. Hegels Idee von Bildung lässt sich zwar nicht von nationalistischen Natürlichkeitsvorstellungen instrumentalisieren. Kulturalisierenden Souveränitätsvorstellungen (z.B. „christliches Abendland“) bietet diese Theorie gleichwohl eine offene Flanke an (vgl. Siep 2015).

(3) Bildungstheoretische Überlegungen zum gemeinsamen Widerstreit

Aus einer kritischen Lesart Hegels heraus soll im Weiteren seine komplexe begriffliche Fassung des Bildungsbegriffs nach ihrer Produktivität für die Diskussion aktueller Fragen beleuchtet werden. Zur Klärung dieser ist es hilfreich sich auf drei Grunddimensionen der hegelianischen Bildungsphilosophie zu konzentrieren. Genauer dargelegt habe ich diese in meiner Studie zur Sozialität der Bildung. 1) Bildung verläuft erstens über ein sozialontologisches Selbst- und Weltverhältnis, d.h. in der Aneignung zur Teilhabe befähigender Handlungs- und Wissensformen. 2) Darüber hinaus exploriert Hegel mit dem Begriff der Bildung Reflexionsformen, die an der sachlichen Auseinandersetzung orientiert die Frage nach der Wahrheit und dem Verstehen-Wollen stellen. Hiermit kommen die Bedingungen von Wissen, deren Konsistenz und Adäquatheit in den Blick. Diese Betrachtung bleibt jedoch nicht auf einer wissenstheoretischen Ebene stehen. Sie fragt auch welches Wir mit dem jeweiligen Wissensverständnis verbunden ist und welche Bedeutung dieses für die erfahrbare Wirklichkeit hat. 3) Diese dekonstruktive Dimension wird ferner ergänzt durch eine Dimension von Bildung, die die Entscheidungs- und Handlungsebene betrifft. Letztlich sind Menschen gezwungen zu handeln und sich zu entscheiden. Sie realisieren in ihren Handlungen Deutungsformen und lassen diese konkret werden. Ohne die Notwendigkeit der Konkretisierung fände kein Handeln und ohne Positionierung im Handeln kein Streit statt (vgl. Zulaica 2019).

Die Frage, wie ein gemeinsamer Widerstreit denkbar wäre, soll nun an aktuellen Beobachtungen zum Verhältnis von Wissen und Öffentlichkeit konkretisiert werden. Eine erste Ebene wäre der Umgang mit Wahrheit und der legitimatorischen Funktion von Bewahrheitungen. Hier scheint es ein Erstarken von politischen Durchsetzungsformen zu geben, die die Haltung eines Rechthabens kultivieren und politische Konflikte mit absoluten Wahrheitsansprüchen konfrontrieren (augenfällig wird dies z.B. an Deutungskonflikten um Migrationsbewegungen). Als Kontrapunkt zu diesen Politiken des Rechthabens, in denen es nicht um die Klärung von Fragen sondern um die Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen geht, wäre das Nachfragen nach dem Fundament von Aussagen und deren Überprüfung ein kritischer Einspruch, in dem die Bedingungen von Wissen fokussiert würden. Es wäre eine bildungstheoretische Intervention, einerseits auf die Widerständigkeit der Sache zu verweisen und andererseits die Bedingtheit von Aussagen und deren Voraussetzungen sichtbar zu machen.

Eine weitere Perspektivierung ist die Reflexion der Wir-Formen, die mit spezifischen Selbst- und Weltverständnissen einhergehen und Lebensformen strukturieren. Die Idee eines Wissenssubjekts ist beispielsweise ein eurozentrisches Deutungsmuster, das u.a. in der Tradition des englischen Philosophen Francis Bacon (1561-1626) auf Beherrschung und in der Tradition des französischen Philosophen René Descartes (1596-1650) auf die Mathematisierung von natürlichen Phänomenen abzielt. Mit der Naturbeherrschungslogik und der Quantifizierung der Welt liegen technizistische Problembeschreibungen und -lösungen nahe, deren zerstörerisches Potential für Mensch und Natur Theodor W. Adorno und Max Horkheimer unter dem Titel Dialektik der Aufklärung diskutiert haben. Das Bewusstsein über die historische Bedingtheit von Deutungsmustern und die Begrenztheit von Wissen (Geltungsbedingungen) kann ferner zu eine Dezentrierung der subjektiven Perspektive führen, die eine Offenheit für Fremdheit im Anderen und im Eigenen implizieren kann.[2]  

Eine weitere Beobachtung ist der strategische Umgang mit Kontroversität, indem eine Vielfalt von widersprechenden Aussagensystemen als legitime Meinungsäußerungen betrachtet werden sollen und Wissen per se als subjektiver Zugriff auf die Welt interpretiert wird (vgl. Drerup 2019). Die Dekonstruktion von Geltungsbedingungen spielt diesem Argument scheinbar vordergründig in die Karten. Allerdings bedeutet diese Form der Dekonstruktion doch nicht, dass jedes Deutungsmuster unter Referenz auf die Kontroversität gleichbedeutend ist und es somit legitim wäre, Problembeschreibungen und Handlungsoptionen strategisch durchzusetzen. Es mag der Fall sein, dass Aussagen durch die Meinungsfreiheit gedeckt sind. Dies heißt aber nicht, dass Sie nicht kritisiert werden dürften oder gar begründet seien. Es ist eine paradoxale Konstruktion, dass Aussagen (z.B. zum Klimawandel) gegen Widersprüche von anderen betroffenen Menschen mit dem Verweis auf Kontroversität immunisiert und dass politische Positionen gerade hierdurch dem Streit entzogen werden. Die Reflexionsform, für die hier Position ergriffen wird, ist eine Analyse von und eine ethische Befragung der Wissensformen, nach den Problembearbeitungsformen, den gesellschaftlichen Strukturen und den Herrschaftsformen (hierzu Rahel Jaeggis und ihre Studie Kritik der Lebensformen).

Die unhintergehbare Bedingung dieses bildungstheoretischen Einsatzes ist es letztlich, an der orientierenden Idee einer gemeinsamen Problembearbeitung im politischen Handeln festzuhalten, in der es um eine menschenwürdige und sachlich adäquate Antwort gegenüber den sich stellenden Fragen geht. Eine Positionierung für eine mögliche Antwort kann hiernach zwar nicht auf eine universelle Wahrheit, eine Vernunft oder einen menschheitsumfassenden Konsens rekurrieren und die Problemadäquanz zeigt sich im Endeffekt auch erst in der historischen Retrospektive. Trotzdem bleibt das Faktum, dass Menschen gezwungen sind, zu handeln und zu entscheiden, und es eine offene Frage ist, wie sie das machen. Der Beitrag plädiert schlussendlich für eine demokratische Sittlichkeit, die jedem Streit als ein gemeinsamer Widerstreit vorweggeht und Orte gemeinsamer Auseinandersetzung braucht.

Ohne am Ende die Institution der Schule mit überhöhten Erwartungen überfrachten zu wollen, könnte sie als Bildungsinstitutionen doch ein gemeinsamer Ort für Fremdheitserfahrungen (z.B.: Es ist traditionell die Schule, in der Kinder miteinander und mit anderen Weltbildern umgehen lernen müssen) und für die Einübung diskursiver Auseinandersetzung im Kontext der Bearbeitung von sachlichen Fragen sein. Außerdem wäre für die Schule als Instanz der Wissensvermittlung nicht nur das „Wie“ der Vermittlung sondern auch die Fragen nach den Geltungsbedingungen und den ethischen Folgen von Wissensformen bedeutsam.[3]


Dr. phil. Miguel Zulaica y Mugica ist als akademischer Rat a. Z. am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik der TU Dortmund tätig und arbeitet zu systematischen Problemstellungen der Erziehungs- und Bildungstheorie. Darüber hinaus befasst er sich mit Fragestellungen der pädagogischen Ethik, der Wissenschaftstheorie im Kontext der Erziehungswissenschaft, der Anthropologie mit Blick auf Digitalisierungsprozesse und forscht zu den Gebieten Anerkennungs-, Handlungs- und Subjektivitätstheorien.


Literatur

Benner, Dietrich (2015): Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. 8. Aufl. Weinheim [u.a.]: Belt (Grundlagentexte Pädagogik).

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2016): Digitale Bildung. Der Schlüssel zu einer Welt im Wandel. Stand. November 2016. Berlin. Online verfügbar unter http://doku.iab.de/externe/2016/k161117r03.pdf, zuletzt geprüft am 13.05.19.

Drerup, Johannes (2019): Politische Bildung und die Kontroverse über Kontroversitätsgebote. praefaktisch.de. Online verfügbar unter https://praefaktisch.de/bildung/%ef%bb%bfpolitische-bildung-und-die-kontroverse-ueber-kontroversitaetsgebote/, zuletzt geprüft am 13.05.19.

Geiselberger, Heinrich (Hg.) (2017): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin: Suhrkamp.

Gelhard, Andreas (2018): Skeptische Bildung. Zürich: Diaphanes.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (2009-2011): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hg. v. Klaus Grotsch und Elisabeth Weisser-Lohmann. Hamburg: Meiner. (zitiert als GPR)

Honneth, Axel (2013): Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin: Suhrkamp.

Jaeggi, Rahel (2013): Kritik von Lebensformen. Berlin: Suhrkamp.

Klafki, Wolfgang (1996): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemässe Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. 5., unveränderte Aufl. Weinheim: Beltz.

Liessmann, Konrad Paul (2018): Bildung als Provokation. Zsolny.

Ruhloff, Jörg (1996): Bildung im problematisierenden Vernunftgebrauch. In: Michele Borelli (Hg.): Bildung im problematisierenden Vernunftgebrauch. Baltmannsweiler: Schneider, S. 148–157.

Schäfer, Alfred (2011): Das Versprechen der Bildung. Paderborn: Ferdinand Schöningh.

Siep, Ludwig (Hg.) (2017): G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin: de Gruyter.

Siep, Ludwig (2015): Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelischen Idee. Tübingen: Mohr.

Wigger, Lothar (2010): Institutionelle Zwecke, Anerkennungskonflikte und Bildung. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik (86), S. 542-557.

Winkler, Michael (2012): Bildung als Entmündigung? Die Negation des neuzeitlichen Freiheitsversprechens in den aktuellen Bildungsdiskursen. In: Klaus Vieweg und Michael Winkler (Hg.): Bildung und Freiheit. Ein vergessener Zusammenhang. Paderborn: Schöningh, S. 11–28.

Zulaica y Mugica, Miguel (2019): Die Sozialität der Bildung. Eine Studie zum Verhältnis von Anerkennungs- und Institutionentheorie. Bielefeld: Transcipt.


[1] Beispielsweise ist Konrad Liessmanns Studie Bildung als Provokation von 2016 als eine Streitschrift gegen die Dominanz eines simplifizierten Bildungsverständnisses zu werten.

[2] Der Sammelband Die große Regression von 2017 ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich.

[3] Das Bildungsverständnis, das ich hier dargelegt habe, referiert u.a. auf Überlegungen von Jörg Ruhloff und seinem Konzept eines problematisierenden Vernunftgebrauchs (Ruhloff 1996), Wolfgang Klafki und seinem Allgemeinbildungskonzept (Klafki 1996), Lothar Wigger und seinem institutionstheoretischen Ansatz (Wigger 2010), Dietrich Benner und seinem Begriff der negativen Bildung (Benner 2015) und Andreas Gelhard und seinem Begriff der skeptischen Bildung (Gelhard 2018).

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