15 Nov

Denken mit Geländer

von Bettina Bussmann (Salzburg)


Wer in den 1980er Jahren seine Schule beendet und ein Studium begonnen hat, der weiß, was es bedeutet, einer Lehrkraft oder einem Dozenten[i] stundenlang zuzuhören und wenig Möglichkeiten zu haben, sich Wissen kreativ und mit unterschiedlichen Methoden anzueignen. Der weiß auch, dass (bis heute) in vielen Ländern der Philosophieunterricht nicht schülerinnen-,  sondern dozentenorientiert aufgebaut ist. Ähnliches galt für die Uni. Es gab immer nur wenige – häufig ausschließlich männliche Studierende, – die den Mut hatten, sich in philosophischen Veranstaltungen an Diskussionen zu beteiligen.

Die seit den 1990er Jahren vorgeschriebene Kompetenzorientierung wurde von vielen engagierten Lehrpersonen daher zunächst positiv aufgenommen. Viele sahen sich auch ohne die lernpsychologischen und bildungswissenschaftlichen Studien, die die bedeutsame Rolle eigenständiger Lernprozesse zum ersten Mal empirisch verdeutlichten, von ihrer eigenen Praxis her bestätigt: Wenn die Schüler im Zentrum stehen, aus Fehlern lernen, sich mit anderen austauschen und sich Wissen nach bestimmten Methoden selber aneignen, dann kann von einem “nachhaltigen”  Lernen gesprochen werden. Lehrkräfte sollen nicht dozieren und „vordenken“, sondern die Schüler zum eigenständigen Denken und Handeln anleiten. Soweit, so Kantisch bekannt und so gut. Kompetenzorientierung, so wird behauptet, ist lediglich die notwendige institutionalisierte Umsetzung dieser Schülerbefähigungstheorie. Doch irgendetwas scheint “schief zu laufen“, wie Volker Ladenthin in seinen Beobachtungen zur heutigen Studierendengeneration feststellt.[ii] Seine seit sieben Jahren vergleichbaren Klausuren machen deutlich, dass z.B. fundamentale Kompetenzen zur Erschließung und Analyse, d.h. zum Verstehen von Texten, nicht mehr vorhanden sind. Hier müssten Untersuchungen durchgeführt werden, ob und in welcher Weise seine Befunde auf die Kompetenzorientierung zurück zu führen sind. Ladenthin ist nicht der einzige, der diese gravierenden Veränderungen benennt. So antwortet Ralf Konersmann auf die Frage, worüber er sich momentan am meisten ärgert: “Über die Leichtfertigkeit (oder soll ich sagen: die kalte Entschlossenheit), mit der in Schule und Hochschule hingegeben wird, was einmal Bildung hieß.”[iii]

Sind wir dabei, die Kompetenzorientierung in ein technizistisches Wissensvermittlungsprogramm zu überführen? Oder ist es gar nicht die Kompetenzorientierung selber, die als Ursache für bestimmte Fehlentwicklungen und Veränderungen verantwortlich gemacht werden kann? Sind es lebensweltliche Transformationen, allen voran die digitalisierte Umwelt? Beides könnte miteinander zusammenhängen, dem möchte ich aber hier nicht weiter nachgehen.

Ich möchte im Folgenden einige Schlaglichter auf diese Fragen werfen und durch eigene Erfahrungen aus der Lehrerausbildung ergänzen. Dabei geht es mir nicht darum, mit dem Finger der Überheblichkeit auf all diejenigen zu zeigen, die versuchen, kompetenzorientiertes Lehren umsetzbar zu machen. Es geht mir eher darum zu umreißen, dass es, erstens, zu einer Überforderungssituation gekommen ist, die zu uneinlösbaren oder unüberprüfbaren Versprechen führt und die, wenn diese Tendenz unreflektiert bleibt, die Illusion eines planbaren philosophischen Denkens nährt.[iv] Und dass, so zweitens, durch die Beschäftigung mit der Vielzahl an Kompetenzen und ihren möglichen Umsetzungen keine Zeit für andere wichtige philosophische Denkbereiche bleibt — und kaum Zeit für gründliche inhaltliche Denkarbeit. Ich werde hierfür zwei Beispiele heranziehen, die diese Tendenz deutlich machen: Erstens, die Überkomplexität von Kompetenzforderungen, die zentrale Bildungsbegriffe zu Worthülsen verkümmern lässt und die zweitens ohne genügend Zeit zur vertieften Erarbeitung – und diese Zeit haben wir in aller Regel nicht – , ein bloß oberflächliches Verständnis dieser Begriffe entstehen lässt und zu einer Rationalisierung (oder Ökonomisierung) von Verstehensprozessen führt.

Vor allem Lehrplanersteller und Lehrbuchautoren haben den Auftrag, überprüfbare Kriterien anzugeben, die bestimmte Kompetenzen definieren und unterschiedliche Kompetenzstufen angeben. Diese Kompetenzraster scheinen auch für ein kompetenzorientiertes Philosophieren notwendig zu sein, da sie angeben, was genau ein Schüler auf einer bestimmten Stufe können soll. Lehrkräfte benötigen diese für die Planung ihres Unterrichts, sowie für die Bewertung der Leistung und des Kompetenzzuwachses der Schüler. Das Standardwerk für den Philosophie-und Ethikunterrichts stammt von Anita Rösch, die als erstes dieses Feld erschlossen und eine wertvolle Systematik aufgestellt hat, an der wir uns orientieren können. Ihre ausführlichen, nach Kompetenzstufen eingeteilten Kompetenzraster werden auch von den anderen Fachdidaktiken rezipiert, wie z.B. der Biologie- oder Geographiedidaktik.[v] Die Kompetenzraster ist vermutlich nicht als bloße Abhakliste gemeint, sondern als ideale Orientierung. Wer jedoch Lehrer ausbildet, sieht sich mit großen Schwierigkeiten konfrontiert. In welchem zeitlichen Ausmaße kann man z.B. mit den Studierenden die Lesekompetenz auf Stufe C1 so erarbeiten, dass diese in der Lage sind zu erkennen und zu überprüfen, ob auch die Schüler dazu in der Lage sein werden? Für die Lesekompetenz auf Stufe C1 heißt es: Der Schüler “kann längere, unbekannte ethische/philosophische Texte vollständig und detailliert verstehen, sie für verschiedene Zwecke flexibel nutzen, sie mit dem eigenen Wissen in Verbindung setzen und kritisch bewerten“(Hervorhebungen von mir).[vi] Wie lassen sich solche Forderungen verstehen und vor allem überprüfen? Besteht hier nicht die Gefahr, dass Lernleistungen bloß  abgehakt werden, weil sie tatsächlich nicht einlösbar sind? Schon ein einzelner Satz, wie z.B.  Protagoras’ Satz “Der Mensch ist das Maß aller Dinge” ist unendlich schwer zu verstehen und wird wohl selten von einer Person überhaupt „vollständig und detailliert” verstanden werden können. Wenn der ethische Text ein Zeitschriftenartikel ist, sieht das sicherlich anders aus, aber es bleibt die Frage, was unter „flexibler Nutzung in verschiedenen Situationen“ und „kritischer Bewertung“ zu verstehen ist. Dass diese Frage nicht trivial ist und auch nicht mit der bekannten Lehrerausbildneraussage „Das lernt man dann im Laufe der Lehrpraxis“ abgetan werden sollte, wird von den Beobachtungen Ladenthins bestätigt. Denn Kritisches Bewerten versammelt eine Reihe von Fähigkeiten, über die selbst Studierende nicht mehr ausreichend zu verfügen scheinen: „Die Studierenden sind mehrheitlich kognitiv kaum zu Abstraktionen fähig, und daher zum Transfer fast gar nicht. (…) Es fehlt an Urteilskraft im Umgang mit parallelen oder gar widersprüchlichen Theorien.“[vii]

Ähnlich realitätsfern und einschüchternd sind die Anforderungen an die Argumentations- und Urteilskompetenz“. Sie erwarten von Schülern, dass diese „die Qualität von Argumenten unterscheiden, Argumente abwägen, Argumente der Gegenposition akzeptieren und reflektieren sowie zu einem gut begründeten Urteil“, auch gegen Widerstände, kommen können.[viii]

Über welche profunden Fähigkeiten muss eine Lehrkraft verfügen, um Schülern dieses beizubringen? Selbst Fachkollegen werden zugeben, dass es nur sehr wenige Studierende gibt, die in der Lage sind, die Qualität von Argumenten in einem Fachtext und erst recht in einem Gespräch unterscheiden zu können. Die Argumentations- und Urteilskompetenz ist die Königsklasse unserer Disziplin. Lehramtstudierende müssen dies im Verbund mit den anderen genannten Fähigkeiten allerdings selber beherrschen, damit sie in der Lage sind, diese den Schülern zu vermitteln. Kann ich das als Ausbildnerin schaffen? Gibt es genügend didaktische Lehrwerke, die diese Kompetenzen schulen? Was die Argumentationskompetenz angeht, nur sehr wenige.

Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn Studierende in ihren Stundenentwürfen zu Formulierungen greifen, die keinerlei Verstehen dessen dokumentieren, was von ihnen gefordert wird und was sie somit selber an ihre Schüler weiterreichen. Hier ein Auszug aus einem Stundenentwurf einer Studentin im 7. Semester:

„Während der ersten Informations-Phase erhalten die SuS [Schülerinnen und Schüler] einen Überblick über Teilbereiche der Philosophie und drei unterschiedliche Fragearten. Dies dient der Orientierungsgrundlage für weitere Arbeit, wodurch Orientierungskompetenz gefördert wird. Da die SuS die zur Unterscheidung der Fragearten verwendeten Bezeichnungen verstehen müssen, wird ihre Bedeutung anhand von Beispielen geklärt, was in den Bereich der sprachanalytischen Kompetenz fällt. In den Einzelarbeitsphasen des selbständigen Lernens unterscheiden sich die Kompetenzen je nach Text/Bild zu einem gewissen Grad. Was bei allen SuS zum Tragen kommt ist in erster Linie die Wahrnehmungskompetenz, die ihnen ermöglicht die vorgelegte Situation überhaupt erst zu erfassen.[…] Bei der Formulierung der Fragen geht es auch um die Verknüpfung des alltäglichen Lebens mit den behandelten Inhalten, was eine Reflexionskompetenz erfordert.”

Dieser Beleg macht sichtbar, was bei vielen anderen Studierenden nur nicht so deutlich offen liegt: Es fehlt ihnen trotz Kompetenzraster ein Verständnis dafür, welche „erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und  Fertigkeiten sowie motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten“ (Weinert) damit verbunden sind.

Die Verwendung von Operatoren zur Lernzielangabe ist ein ebenso zweischneidiges Schwert. Gut verstanden fordert sie von der Lehrkraft, dass diese bewältigbare Aufgaben formuliert. Ein Erwartungshorizont als deskriptiver Indikator gibt Hinweise darüber, was von einem Schüler erwartet werden kann. Er heißt aber nicht umsonst Horizont. Wird er nämlich normativ gelesen, dann wird daraus ein Schema, das vorgibt wie man denken muss.

Gegen diese Art eines engmaschig verstandenen Fachbegriffs wendet sich momentan ausgerechnet besonders deutlich die Mathematikdidaktik. Im März 2017 sorgte sie mit einem „Brandbrief“ für heftige Diskussionen. Die Operatoren seien “nicht nur wunderliche Formulierungen von Offensichtlichem; sie sind gefährlich, da sie die Lernenden davon entbinden, über die Sinnhaftigkeit ihrer Antworten nachzudenken. Der Operator „bestimmen, ermitteln“ mit der Beschreibung „ Zusammenhänge bzw. Lösungswege aufzeigen, das Vorgehen darstellen und die Ergebnisse formulieren“ klingt unschuldig und sinnvoll. In der Praxis läuft dieses Bestimmen und Ermitteln häufig auf nichts anderes hinaus, als das mechanische Übersetzen von sogenannten Modellierungsaufgaben in Taschenrechnerbefehle. (…) Es handelt sich (…) um standardisierte Aufgabentypen, die nach immer denselben zigfach eintrainierten Schemata abzuarbeiten sind.“[ix] Genau mit diesen Erwartungen nach klaren und unmissverständlichen Musteraufgaben, die nach einem bestimmten Schema abzuarbeiten sind, ist man in der Lehrerausbildung allerdings von Studierendenseite immer häufiger konfrontiert. Aporien, Widersprüche, offene Fragen, eigene Reflexionen werden zunehmend als Zumutung empfunden.

Hier besteht die große Gefahr, ein falsches Verständnis (nicht nur) philosophischen Denkens zu vermitteln, und zwar ein technizistisches. Die entscheidende Frage lautet: Wie stark kann und soll man Denkprozesse planen? Benötigt das Philosophieren nicht viel größere Räume der Nachdenklichkeit? Wo bleibt das Ringen um Wahrheit, die Sackgasse, der Stillstand, das Nichtwissen – alles wichtige Stationen philosophischen Denkens? Natürlich müssen wir gerade im Philosophieunterricht klares Denken schulen, man muss dabei allerdings „eine Zwischenstellung zwischen bloß mechanisch anwendbarer Sophistik und freiem personengebundenen Denken“ anstreben.[x] Für ein Fach wie Philosophie, von dem Hannah Arendt sagt, es sein ein „Denken ohne Geländer“, ist in den letzten Jahren durch eine Kultur überkomplexer Kompetenzforderungen ein stabiler Käfig gebaut worden. Statt ein Denken ohne Geländer zu fördern, hält einen die Beschäftigung mit dem Geländer vom Denken ab.


Bettina Bussmann ist seit 2014 Assistenzprofessorin für Philosophiedidaktik an der Universität Salzburg. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Frage, welche Rolle die empirischen Wissenschaften für unser Selbstverständnis, unser Handeln und die Beantwortung philosophischer Fragen hat. Aus diesem Interesse ging auch ihre Dissertation hervor, die ein Konzept einer lebensweltlich-wissenschaftsbasierten Philosophiedidaktik vorlegt und diese auf die Bereiche Wissenschaft, Esoterik und Pseudowissenschaft anwendet. Sie studierte in Hamburg, Philadelphia und München Philosophie, Logik/Wissenschaftstheorie und Volkswirtschaft und arbeitete nach ihrer Erziehungszeit als Lehrerin für Philosophie (Klasse 5-12), sowie als Dozentin für Didaktik an der Uni Hamburg.


Endnoten

[i] Ich verwende nur das männliche Genus, meine aber selbstverständlich alle Geschlechter.

[ii] Volker Ladenthin (2018): „Da läuft etwas ganz schief“. https://www.forschung-und-lehre.de/lehre/da-laeuft-etwas-ganz-schief-894/ (abgerufen 1.10.2018).

[iii] Ralf Konersmann (2018): „Zu Ende gedacht”. In: Forschung und Lehre 8/2018, S. 744.

[iv] Siehe Bettina Bussmann (2016): 10 Thesen zum kompetenzorientierten Philosophie- und Ethikunterricht. In: ZDPE 4/2016, S. 3.

[v] Siehe z.B. Eva-Marie Ulrich-Riedhammer (2018): Ethisches Urteilen im Geographieunterricht.Theoretische Reflexionen und empirisch-rekonstruktive Unterrichtsbetrachtung zum Thema „Globalisierung“. Münster. (= Geographiedidaktische Forschungen 68).

[vi] Anita Rösch (2009): Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht. LIT Verlag Münster. S. 218.

[vii] Volker Ladenthin: https://www.forschung-und-lehre.de/lehre/da-laeuft-etwas-ganz-schief-894/

[viii] Anita Rösch (2009): Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht. LIT Verlag Münster. S. 258.

[ix] Ysette Weiss/Rainer Kalenders: „Die Kompetenzfalle“. In: Spektrum der Wissenschaft 9/2018, S. 84.

[x] Ekkehard Martens (2003): Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Siebert Verlag, Hannover. S. 32f.