Schule als ‚Bollwerk der Bildung‘
von Thomas Rucker (Bern)
„Schule muß heute eine Institution zur Verteidigung der Bildung werden. Ja, sie stellt vielleicht das letzte Bollwerk dar, in dessen Schutz Bildung in dem ihrer Geschichte angemessenen Sinn bewahrt, aber auch gewährt werden kann“ – Dieser Satz stammt von Theodor Ballauff und findet sich in einem kleinen Bändchen aus dem Jahre 1964 mit dem Titel Die Schule der Zukunft.[1] Der Satz könnte ebenso heute formuliert worden sein, denn Bildung im pädagogischen Verständnis ist auch im Jahre 2018 keine Selbstverständlichkeit, auf die man rekurriert, wenn Schule zum Thema gemacht wird. Ballauff ist sich freilich darüber im Klaren, dass die Schule zunächst einmal als eine Institution, d.h. eine auf Dauer gestellte Problemlöseinstanz der Gesellschaft begriffen werden muss und in diesem Sinne nicht nur ein Ort der Ermöglichung von Bildung ist bzw. sein kann. Gleichwohl insistiert Ballauff darauf, dass es für eine pädagogische Perspektive auf Schule, die sich ihrer philosophischen Tradition verpflichtet weiß, von großer Bedeutung ist, Schule als einen (möglichen) ‚Ort‘ der Bildung in den Blick zu rücken.
Mit den folgenden Überlegungen möchte ich zumindest einen kleinen Beitrag zur Klärung der Frage leisten möchte, wie Schule beschrieben werden kann, wenn sie als ein (möglicher) ‚Ort‘ der Bildung in den Blick genommen wird. Ich beschränke mich hierbei jedoch auf ein Teilproblem dieser allgemeinen Problemstellung, nämlich auf die Frage, was es bedeutet, zumindest aber bedeuten könnte, schulischen Unterricht unter den Anspruch der Bildung zu stellen. Zugespitzt gefragt: Was macht Unterricht eigentlich zu einem potentiell bildungsstiftenden Unterricht?
Wenn wir im Alltag von Unterricht sprechen, so meinen wir damit gemeinhin ein Geschehen, das sich in Räumen abspielt, die wir Klassenzimmer nennen und die in Gebäuden untergebracht sind, die wir als Schulen bezeichnen. Nennen wir das den naiven Alltagsbegriff von Unterricht. Wir unterscheiden im Alltag üblicherweise nicht zwischen der Institution Schule (als einer auf Dauer gestellten gesellschaftlichen Problemlöseinstanz) und dem Schulgebäude, und wir unterscheiden in diesem Zusammenhang in der Regel auch nicht zwischen dem besagten Geschehen namens Unterricht und dem Unterricht als einer spezifischen Grundform pädagogischen Handelns. Dies bleibt nicht ohne Konsequenzen, denn unser Begriff von Unterricht bestimmt letztlich darüber, welche Sachverhalte in ihrem Zusammenhang als Unterricht unsere Aufmerksamkeit beschäftigen. Operieren wir mit dem naiven Alltagsbegriff von Unterricht, so müssten wir letztlich eine Reihe von Aktivitäten als ‚Komponenten‘ von Unterricht beschreiben, die wohl niemand von uns ernsthaft als solche beschreiben wollen würde: Eine Lehrerin unterhält sich mit einem Schüler über dessen Wochenendaktivitäten, die Sitzordnung wird verändert, man lässt Papierflieger durch das Klassenzimmer segeln, gerade fertiggestellte Zeichnungen der Schülerinnen und Schüler werden an einer Pinnwand aufgehängt, ein Schüler popelt vor Langeweile in der Nase, man feiert gemeinsam den Geburtstag einer Mitschülerin, es werden Lieder gesungen und Kuchen gegessen, etc.
Im Unterschied zu einem naiven Alltagsbegriff möchte ich als Unterricht eine spezifische Grundform pädagogischen Handelns verstehen. Dies macht es erforderlich, zunächst zu klären, was pädagogisches Handeln ‚ist‘ bzw. was der Begriff des pädagogischen Handelns bezeichnet. Ich greife hierzu auf Überlegungen von Thomas Mikhail zurück, der die Struktur pädagogischen Handelns anhand von drei Prinzipien beschreibt, die er als Bildsamkeit (eidetisches bzw. anthropologisches Prinzip), Selbstbestimmung (teleologisches Prinzip) und Dialogizität (methodisches Prinzip) bezeichnet.[2]
Am besten können diese Prinzipien und ihr Zusammenhang verständlich gemacht werden, wenn wir die Erläuterung bei dem ‚teleologischen‘ Prinzip pädagogischen Handelns beginnen lassen. Pädagogisches Handeln ist darauf gerichtet, einer Person die Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit zu ermöglichen. Darin besteht der Bildungsanspruch, der mit pädagogischem Handeln verbunden ist.[3] Pädagogisches Handeln ist nicht darauf bezogen, Geltungsansprüche – den Anspruch, dass 2 + 2 = 4, den Anspruch, dass es die Höflichkeit gebietet, älteren Damen und Herren im Bus den Platz anzubieten, den Anspruch, dass Mädchen keine Hosen und Jungen keine Röcke tragen sollen, etc. – durchzusetzen, sondern dem Einzelnen die Möglichkeit zu eröffnen, sachliche Einsichten und eigene Urteile zu entwickeln.
Mit pädagogischem Handeln ist deshalb zugleich eine spezifische Vorstellung vom Menschen verbunden. Wenn wir pädagogisch handeln und einer Person z.B. einen bestimmten Sachverhalt erläutern, damit diese Einsicht in den jeweiligen Sachverhalt gewinnen kann, dann operieren wir nolens volens mit einer spezifischen ‚anthropologischen‘ Voraussetzung. Wir kommen in diesem Fall nämlich nicht daran vorbei, den Einzelnen oder die Einzelne als Personen vorzustellen, die auf dieses Handeln hin ansprechbar sind. Kurzum: Im pädagogischen Handeln kommen wir nicht umhin, den einzelnen Menschen als bildsam anzuerkennen. Pädagogisches Handeln wäre geradezu sinnlos, würden wir nicht davon ausgehen, dass eine Person unter den Bedingungen pädagogischen Handelns lernen kann und diese von daher nicht schon auf bestimmte Orientierungsmuster hin festgelegt ist – weder von Natur aus noch durch die jeweiligen Bedingungen des Aufwachsens. Stattdessen nehmen wir im pädagogischen Handeln immer schon eine prinzipielle Veränderbarkeit bereits angeeigneter Orientierungsmuster an. Ohne diese Voraussetzung käme pädagogisches Handeln überhaupt nicht in Gang. Insofern ist es durchaus treffend, wenn Bildsamkeit als pädagogische ‚Betriebsprämisse‘ (Heinz-Elmar Tenorth) bezeichnet wird.
Pädagogisches Handeln ist also ein Handeln, dass Bildsamkeit unterstellt und darauf gerichtet ist, Menschen die Entwicklung sachlicher Einsichten und eigener Urteile, d.h. die Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit zu ermöglichen. Damit sind das anthropologische und das teleologische Prinzip pädagogischen Handelns bestimmt, und es stellt sich die Frage, welche Konsequenzen methodischer Art sich hieraus ergeben. Der Vorschlag lautet, pädagogisches Handeln in methodischer Hinsicht als dialogische Führung, d.h. als Aufforderung zur Prüfung von Geltungsansprüchen zu begreifen. Hierbei ist es wichtig, sich klarzumachen, dass dies auch im Falle solcher Geltungsansprüche gilt, die (aktuell) wohl kaum jemand ernsthaft in Zweifel ziehen würde. Die Inhalte, die im Schulunterricht thematisiert werden, sind von dieser Art. Nur dasjenige nämlich, was als „vollzogene Erkenntnis“ bereits vorliegt, „kann gelehrt und gelernt werden“ – was Bildung jedoch keineswegs ausschließt, solange die „Berufung auf Tradition nicht zum Ersatz der Begründung von Geltungsansprüchen“ avanciert und den Einzelnen davon abhält, „in kritischer Frage zu ihnen Stellung zu nehmen“.[4] Man denke etwa an den Satz des Pythagoras. Niemand würde heute bezweifeln, dass für alle rechtwinkligen Dreiecke gilt: a2 + b2 = c2. Pädagogisches Handeln bedeutet auch in diesem Fall, Geltungsansprüche nicht einfach durchzusetzen, sondern die Heranwachsenden in eine Praxis des Gründe-Gebens und Nach-Gründen-Verlangens hineinzuziehen und damit so zu führen, dass diese den Satz des Pythagoras als gültig einsehen und in diesem Sinne akzeptieren können.
Vor diesem Hintergrund kann man sagen, dass pädagogisches Handeln die Kultur – auch immer wieder neu – zur Disposition stellt. Heranwachsende zu einer Prüfung von Geltungsansprüchen aufzufordern, ist freilich nicht ohne Risiko, doch kann dieses Wagnis im Vertrauen darauf eingegangen werden, dass tradierte Geltungsansprüche sich einer Begründung verdanken, die eingesehen werden kann. Insofern ist davon auszugehen, dass die jeweiligen Geltungsansprüche der Prüfung standhalten werden. Es mag jedoch auch dazu kommen, dass sie nicht mehr die Anerkennung einer Person finden. Dieses Risiko ist unvermeidlich, wenn pädagogisches Handeln unter den Anspruch gestellt wird, Bildung zu ermöglichen.
Fazit: „Um die pädagogische Orientierung auf eine Formel zu bringen: Handle so, als ob das Gegenüber bildsam sei, um ihn durch dialogische Argumentation zum Selberdenken, Selberwerten und Selberentscheiden zu führen. Oder was dasselbe ist: Pädagogisches Handeln ist die Aufforderung zur Prüfung von Geltungsansprüchen.“[5] Dabei gilt: Pädagogisches Handeln kann die Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit nicht im strengen Sinne bewirken. Deshalb ist pädagogisches Handeln als Aufforderung zur Prüfung von Geltungsansprüchen zu bestimmen. Dies gilt auch für pädagogisches Handeln in der Form von Unterricht: Schülerinnen und Schüler sind und bleiben in der Prüfung von Geltungsansprüchen nicht hintergehbar und in diesem Sinne auch nicht vertretbar. Kommen diese der Aufforderung nicht nach, verläuft Unterricht ins Leere. Hierbei handelt es sich um eine prinzipielle Grenze allen pädagogischen Handelns, die nicht außer Acht gelassen werden sollte – schon allein deshalb, um nicht etwaigen Machbarkeitsillusionen zu erliegen.
Begreift man Unterricht als eine spezifische Grundform pädagogischen Handelns, so stellt sich die Frage, worin das Spezifikum dieser Grundform besteht. Lutz Koch beschreibt Unterricht als „Hinführung zum Wissen“[6] und weist in diesem Zusammenhang explizit darauf hin, dass diese ‚Hinführung‘ nicht als Instruktion (miss-)verstanden werden darf, sondern als Aufforderung zur Prüfung sachlicher Geltungsansprüche begriffen werden muss – was auf der Seite der Lehrerinnen und Lehrer nach spezifischen Aktivitäten verlangt: Sie müssen erklären und erläutern, Begründungen geben und einfordern sowie schließlich den Geltungsanspruch des in diesem Sinne ‚vermittelten‘ Wissens prüfen lassen.[7]
Wird Unterricht als Hinführung zum Wissen begriffen, so geht damit das theoretische Erfordernis einher, Kriterien anzugeben, denen eine Beschreibung genügen muss, damit diese als Wissen bezeichnet werden kann. Traditionell wird Wissen als wahre, gerechtfertigte Überzeugung bestimmt. Dieser Begriff des Wissens führt bekanntlich zu einer Reihe von Problemen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, die für unsere Überlegungen aber auch vernachlässigt werden können.[8] Es dürfte für unsere Zwecke ausreichend sein, von Wissen dann zu sprechen, wenn es sich um Beschreibungen handelt, die bis dato der kritischen Prüfung standgehalten haben, und für deren Geltung entsprechend gute Gründe angeführt werden können. Den Inhalten, die an der öffentlichen Schule gelehrt und gelernt werden, kommt der Status des Wissens insofern zu, als diese Inhalte unter dem Anspruch stehen, nicht dem aktuellen Stand der Wissenschaft zu widersprechen – was freilich nicht bedeutet, dass es sich bei Unterrichtsinhalten lediglich um ein vereinfachtes Abbild wissenschaftlichen Wissens handeln würde.
Wissen – und das ist hier entscheidend – ist in einem Unterricht mit Bildungsanspruch nicht davon ausgenommen, von Seiten der Schülerinnen und Schüler befragt zu werden. Im Gegenteil: Unterricht mit Bildungsanspruch fordert Schülerinnen und Schüler dazu auf, Geltungsansprüche, die mit einem bestimmten Wissen verbunden sind, zu prüfen. Die Schülerinnen und Schüler sollen Wissen nämlich nicht einfach unbefragt akzeptieren, sondern eben nur dann, wenn es sich in der Prüfung tatsächlich als überzeugend erweist.
Unterricht in diesem Sinne ist von Aktivitäten der Unterweisung zu unterscheiden. Im Unterschied zum Unterricht ist die Unterweisung nicht auf die Prüfung von Geltungsansprüchen, sondern auf die Anerkennung von Gültigem gerichtet. Das bedeutet freilich nicht, dass auf Unterweisung verzichtet werden könnte oder gar sollte. Vielmehr dürfte Unterweisung in vielen Fällen unabdingbar sein, damit Unterricht im Sinne einer Grundform pädagogischen Handelns überhaupt erst möglich wird. So müssen Schülerinnen und Schüler im obigen Beispiel etwa zunächst darin unterwiesen worden sein, welche Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks als Ankathete, Gegenkathete und Hypotenuse bezeichnet werden, ehe die Bedeutung des Satzes des Pythagoras erarbeitet und der damit verbundene Geltungsanspruch in verschiedenen Beweisen auf die Probe gestellt werden kann.
Doch damit nicht genug: Ein Unterricht mit Bildungsanspruch, der auf die Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit auf der Seite der Schülerinnen und Schüler gerichtet ist, ist als Hinführung zum Wissen noch unterbestimmt. Dies ist deshalb der Fall, weil Wissen, wie es im Schulunterricht eine Rolle spielt, als solches (noch) keinen Bezug zur Lebensführung der Schülerinnen und Schüler besitzt. Ein Unterricht mit Bildungsanspruch ist aber darauf bezogen, Schülerinnen und Schüler für ein Leben in Selbstbestimmung freizusetzen. Hieraus folgt, dass ein Unterricht mit Bildungsanspruch dafür Sorge tragen muss, dass Schülerinnen und Schüler eine Verbindung zwischen sachlichen Einsichten und der eigenen Lebensführung herstellen können.
In der Pädagogik ist der ‚Ort‘ dieser Verbindung als das Werturteil der Schülerinnen und Schüler bestimmt worden. Im Fällen von Werturteilen beziehen Schülerinnen und Schüler zu einem bestimmten Sachverhalt Position und ‚machen‘ sie diesen damit für die eigene Lebensführung bedeutsam. So hat z.B. die Einsicht in die Ursachen des Klimawandels als solche zunächst einmal noch keinen Bezug auf die Lebensführung einer bestimmten Schülerin. Wenn diese Schülerin nun den Entschluss fällt, dass sie sich zukünftig nicht mehr mit dem Auto zur Schule bringen lassen will, sondern lieber mit dem Fahrrad kommen möchte, so gehen einem solchen Entschluss eine Reihe von Werturteilen voraus, die das Wissen erst mit der eigenen Lebensführung verbinden – allen voran das Urteil, dass dem Klimawandel entgegengearbeitet werden sollte.
Ein Unterricht mit Bildungsanspruch kann es nicht dem Zufall überlassen, ob Schülerinnen und Schüler die Bedeutung sachlicher Einsichten für die eigene Lebensführung ermessen und schließlich eigene Werturteile fällen. Die Hinführung zum Wissen muss deshalb mit der Aufforderung der Schülerinnen und Schüler zum Entwurf eigener Werturteile verbunden werden. Das bedeutet, ein Unterricht mit Bildungsanspruch ist zwingend als erziehender Unterricht auszulegen.
Eigene Werturteile entstehen, werden aufrechterhalten und verändert vermittelt über eine Prüfung von Geltungsansprüchen. Hieraus folgt, dass Schülerinnen und Schüler nicht nur zur Prüfung sachlicher Geltungsansprüche aufgefordert werden müssen, sondern darüber hinaus auch zu einer Prüfung von Geltungsansprüchen, die mit bestimmten Werteorientierungen verbunden sind. Am Beispiel des Themas ‚Digitalisierung‘ lässt sich dies veranschaulichen. Unterricht mit Bildungsanspruch erschöpft sich nicht darin, Schülerinnen und Schüler zu einem Wissen zu führen, das diese sich ohne Unterricht nicht aneignen könnten („Wie arbeite ich mit einem bestimmten Programm?“, „Was ist ein Algorithmus?“, „Welche Interessen stehen hinter Big Data?“, etc.). Die Freisetzung zu einer selbstbestimmten Lebensführung verlangt darüber hinaus, dass Unterricht sich für Fragen des gelingenden Lebens und Zusammenlebens öffnet: Welche Informationen über mich möchte ich im Internet preisgeben? Wie soll ich damit umgehen, wenn ich selbst oder meine Mitmenschen Opfer von Hate Speech oder Cybermobbing werden? In welchem Ausmaß will ich mich von bestimmten technischen Errungenschaften abhängig machen? Für welche Politik setze ich mich ein, um den Herausforderungen des digitalen Zeitalters in einer humanen Art und Weise zu begegnen?
Ein Unterricht mit Bildungsanspruch, genauer: ein erziehender Unterricht mit Bildungsanspruch kann als die Verknüpfung einer Hinführung zum Wissen mit einer Aufforderung zum Entwurf eigener Werturteile begriffen werden, wobei Schülerinnen und Schüler jeweils zur Prüfung von Geltungsansprüchen veranlasst werden müssen, sollen diese für ein Leben in Selbstbestimmung freigesetzt werden. Eine Schule, die als ‚Bollwerk der Bildung‘ begriffen wird, wäre in diesem Sinne nicht zuletzt daran erkennbar, dass Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit eröffnet wird, Wissen mit Werturteilen zu verbinden, ohne dabei Geltungsansprüchen, die erhoben werden (sei es von Seiten der Lehrerinnen und Lehrer, der Mitschülerinnen und Mitschüler, oder etwaiger Dritter), unbefragt folgen zu müssen. Vor diesem Hintergrund ist ein erziehender Unterricht mit Bildungsanspruch nicht nur von einer Unterweisung der Schülerinnen und Schüler in feststehenden Wissensbestände, sondern auch von deren Gewöhnung an vorgegebene Werteorientierungen zu unterscheiden – was nicht bedeutet, dass es nicht gute Gründe dafür geben kann, in bestimmten Situationen beide Handlungsformen einem erziehenden Unterricht mit Bildungsanspruch vorzuziehen.[9] Ein Unterricht, der auf die Unterstützung der Entwicklung von Selbstbestimmungsfähigkeit gerichtet ist, ist aber auch nicht mit einer Aufforderung zum Widerstand gegen eine vorgegebene Wissens- oder Werteordnungen zu verwechseln. Ein erziehender Unterricht mit Bildungsanspruch leistet allein dies: Er hält „die Möglichkeit zum Widerspruch offen – Widerspruch freilich nicht im Sinne beliebiger Subjektivismen, sondern als alleiniger Anerkennung des Geltungsanspruchs von Wahrheit und Wert, im Konflikt also auch gegen die Autorität und das Wort des Lehrers: Amicus Plato, magis amicus veritas!“[10]
Thomas Rucker ist seit 2014 Dozent für Grundlagen der Erziehungswissenschaft an der Universität Bern, 2016-2017 hat er eine Professur für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität der Bundeswehr München, 2018 den Lehrstuhl für Allgemeine und Historische Erziehungswissenschaft an der Universität Bern vertreten. Zu seinen Forschungsgebieten zählen Bildungstheorie, Allgemeine Didaktik und Wissenschaftstheorie der Erziehungswissenschaft.
Fußnoten
[1] Ballauff, Theodor: Die Schule der Zukunft. Bochum: Kamp 1964, S. 28.
[2] Mikhail, Thomas: Pädagogisch handeln. Theorie für die Praxis. Paderborn: Schöningh 2016, S. 129ff.
[3] Vgl. Rucker, Thomas: Komplexität der Bildung. Beobachtungen zur Grundstruktur bildungstheoretischen Denkens in der (Spät-)Moderne. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2014, S. 61ff. u. S. 210ff.
[4] Heitger, Marian: Der Begriff der Bildung unter den institutionellen Bedingungen von Schule. In: M. Heitger (Hrsg.): Umgang mit der Schulkritik. Münster: Aschendorf 1984, hier: S. 42f.
[5] Mikhail 2016, S. 208.
[6] Koch, L.: Allgemeine Theorie des Lehrens. Ein Abriss. In: H.-C. Koller/R. Reichenbach/N. Ricken (Hrsg.): Philosophie des Lehrens. Paderborn: Schöningh 2012, S. 15-30, hier: S. 18.
[7] Rucker, Thomas: Unterricht als Praxis des Gründe-Gebens und Nach-Gründen-Verlangens. Zur methodischen Grundstruktur eines Unterrichts mit Bildungsanspruch. Pädagogische Rundschau 72 (2018) 4, S. 465-484.
[8] Zum Einstieg: Gabriel, Markus: Wissen und Erkenntnis. In: Politik und Zeitgeschichte 63 (2013) 18-20, S. 3-9.
[9] Vgl. Mikhail 2016, S. 211ff.
[10] Blankertz, Herwig: Kritische Erziehungswissenschaft. In: Klaus Schaller (Hrsg.): Erziehungswissenschaft der Gegenwart. Prinzipien und Perspektiven moderner Pädagogik. Bochum: Kamp 1979, S. 28-45, hier: S. 42, Hervorhebung von mir.