20 Dez

Sollten wir alle Feministen sein? Feministische Bildung für junge Männer

von Johannes Giesinger (Zürich)


„We Should All Be Feminists“ – so lautet der Titel eines Ted-Talks, der von der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie im Jahre 2012 gehalten wurde und 2014 in Buchform erschien.[i] Der Titel traf gerade deshalb einen Nerv, weil der Begriff des Feminismus bei jungen Leuten heute nicht gut angeschrieben ist. Wenige männliche Jugendliche würden sich als „Feministen“ bezeichnen, und auch manche viele Frauen schrecken davor zurück, den Begriff auf sich selbst anzuwenden.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie eine feministische Bildung – insbesondere von jungen Männern – aussehen könnte. In Bezug auf die frühe Erziehung scheint die femininistische Standardauffassung darin zu bestehen, dass Kinder nicht auf bestimmte gender-spezifische Rollenmuster festgelegt werden sollen, sondern unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht unterschiedliche Lebensoptionen haben sollten. Eine feministische Früherziehung dieser Art macht junge Männer allerdings nicht notwendigerweise zu „Feministen“, wie ich am Beispiel meiner eigenen Söhne feststelle.

Wie also soll die spätere (schulische) Bildung mit diesem Thema umgehen? Wie soll auf antifeministische oder sexistische Äusserungen von Jugendlichen eingegangen werden? Mein Vorschlag lautet, eine „analytische“ Herangehensweise zu wählen, die den bewussten und kritischen Umgang mit Begriffen und Argumenten in den Mittelpunkt stellt. Das Hauptziel eines solchen Unterrichts besteht nicht darin, alle zu Feministen oder Feministinnen zu machen, sondern die Debatte um den Begriff des Feminismus zu versachlichen.

Die klassische Unterscheidung zwischen biologischem und kulturellem Geschlecht (sex und gender) bietet dazu einen guten Einstieg, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich gleichermassen auf Männer und Frauen bezieht. Mit der Unterscheidung verbindet sich die These, dass geschlechtsspezifische Rollen- und Verhaltensmuster weder faktisch noch normativ in biologischen Eigenschaften gründen. Zum einen können biologische Männer und Frauen faktisch ganz unterschiedliche Lebensformen wählen. Zum anderen verfehlen sie nicht ihre „wahre Natur“ und tun nichts Unangemessenes oder Abartiges, wenn ihre Lebensentwürfe nicht mit traditionellen Rollenbildern übereinstimmen. Es ist demnach falsch zu sagen, dass Frauen Kinder haben, den Haushalt machen und sich ihrem Mann unterordnen sollten. Ebenso falsch ist es, von Männern zu verlangen, die Rolle des Ernährers der Familie zu übernehmen.

Solche Argumente leuchten zumindest jenen männlichen Jugendlichen ein, deren Denken nicht von traditionalistischen oder militant frauenfeindlichen Vorstellungen bestimmt ist. Die Argumente fügen sich in die grundsätzlich liberalen Einstellungen   vieler Jugendlicher ein, die besagen, dass alle so leben sollten, wie es ihnen gefällt.

Nach diesem Einstieg könnte man sich dem Begriff des Feminismus selbst zuwenden. In Adichies Text findet sich eine Wörterbuch-Definition von „Feminismus“ – die entsprechende Stelle in ihrem Vortrag erscheint übrigens als Sample in Beyoncés Stück Flawless (2013).[ii] Ein Feminist oder eine Feministin ist nach dieser Definition „eine Person, die an die politische, soziale und wirtschaftliche Gleichheit der Geschlechter glaubt“.[iii] Damit ist eine normative Auffassung formuliert, die vielen Jugendlichen spontan einleuchten wird. Normative Gleichheit ist als Grundprinzip breit akzeptiert. Die Vorbehalte gegenüber dem Begriff des Feminismus rühren wohl teilweise daher, dass er mit Männerfeindlichkeit und der gesellschaftlichen Privilegierung der Frauen gleichgesetzt wird. Feministinnen, so wurde es Adichie in ihrer Jugend von einem gleichaltrigen Freund erklärt, seien eine Art Terroristinnen. Wären Feministinnen tatsächlich an der Marginalisierung oder gar Ausrottung der Männer interessiert, so wäre es für Männer selbstverständlich keine sinnvolle Option, selbst zu Feministen zu werden. Wer aber kann etwas gegen die Gleichheitsforderung haben?

Allerdings ist die Gleichheitsforderung allein wohl nicht ausreichend für ein angemessenes Verständnis dessen, was Feminismus bedeutet. Dazu kommt die Auffassung, dass Frauen in unseren westlichen Gesellschaften weiterhin sozial benachteiligt, diskriminiert oder gar unterdrückt sind. Spätestens hier sind Einwände zu erwarten – von jungen Männern, aber auch von gleichaltrigen Frauen. Gerade im Bereich der Bildung scheinen Frauen keineswegs benachteiligt zu sein. Die in den sechziger und siebziger Jahren festgestellte schulische Schlechterstellung der Mädchen scheint größtenteils behoben. Allerdings sind Frauen in wirtschaftlichen und politischen Spitzenpositionen nach wie vor stark untervertreten. Ebenfalls lässt sich aufzeigen, dass Frauen bei gleicher Arbeit weniger verdienen als Männer.

Darüber hinaus hat die feministische Theorie in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche begriffliche Tools entwickelt, die sich zur Identifikation und Kritik subtiler Formen von Ungerechtigkeit eignen. Neben Grundbegriffen wie Sexismus oder Diskriminierung denke ich an Konzepte wie Silencing (andere zum Schweigen bringen) oder Gaslighting (andere so manipulieren, dass sie ihre eigene Wahrnehmung infrage stellen). Weitere Beispiele sind kreative Neubildungen wie Mansplaining oder Himpathy. Der erste Begriff wurde im Anschluss an einen Essay von Rebecca Solnit[iv] geprägt und bezieht sich auf die Neigung mancher Männer, Frauen Dinge zu erklären, von denen sie weniger verstehen als diese Frauen selbst. Himpathy bezeichnet die Tendenz zu einseitiger Empathie gegenüber Männern, die aufgrund von Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung oder Vergewaltigung in Bedrängnis geraten. Wie die Erfinderin dieses Begriffs, Kate Manne, erläutert, wurde dies zuletzt im Fall von Brett Kavanaugh, der inzwischen als Richter am amerikanischen Supreme Court amtet, deutlich.[v] Trotz der glaubwürdigen Anschuldigungen von Christine Blasey Ford entstand auch bei Frauen zum Teil der Eindruck, Kavanaugh werde unfair behandelt. Von Manne stammt auch eine Neufassung des Begriffs der Misogynie, den sie vom Sexismus-Begriff abgrenzt.[vi] Während Sexismus nach Manne die Ideologie bezeichnet, wonach Frauen den Männern untergeordnet sind, ist Misogynie die Reaktion auf Verhalten, das von sexistischen Vorgaben abweicht. Misogynie versucht sexistische Regeln durchzusetzen und Frauen in ihre traditionellen  Lebensmuster zurückzudrängen. Donald Trumps verbale Angriffe auf Frauen sind für Manne ein Beispiel für Misogynie.

Stellt man diese verschiedenen begrifflichen Tools in einen größeren Rahmen, könnte man sie mit Miranda Frickers Konzeption von „hermeneutischer Ungerechtigkeit“ in Verbindung bringen, wie sie im Buch Epistemic Injustice[vii] entfaltet wird. Diese Art von Ungerechtigkeit liegt vor, wenn Mitgliedern benachteiligter Gruppen das Vokabular fehlt, um über ihre spezifischen Erfahrungen zu sprechen und Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren, zu benennen. Als Beispiel nennt Fricker den Begriff der sexuellen Belästigung, der früheren Generationen von Frauen nicht verfügbar war. Ist ein Begriff wie dieser nicht bekannt, wird es schwierig, entsprechende Verhaltensweisen von Männern – die als unangenehm empfunden werden, aber sozial teils akzeptiert sind – als moralisch problematisch zu identifizieren und sich dagegen zur Wehr zu setzen.

Feministische Bildung, so könnte man sagen, stellt die hermeneutischen Ressourcen bereit, um subtile Formen der Ungerechtigkeit oder Diskriminierung überhaupt als solche erkennen und darüber sprechen zu können. Zu diesen Ressourcen gehören Begriffe wie Sexismus oder Himpathy – dazu gehört aber auch der Begriff der hemeneutischen Ungerechtigkeit selbst. Bei vielen dieser Konzepte handelt es sich um sogenannt dichte Begriffe, Begriffe also, in denen sich beschreibende und wertende Aspekte verbinden. Begriffe wie Diskriminierung oder Sexismus etwa werden meist in dieser Weise verstanden: Sie beschreiben zum einen gewisse Verhaltensmuster der Benachteiligung und bewerten diese zum anderen als moralisch falsch. Indem Jugendliche mit diesen hermeneutischen Tools vertraut werden, werden sie zugleich in bestimmte Bewertungsmuster eingeführt.

Durch eine so verstandene (analytische – oder hermeneutische?) feministische Bildung werden insbesondere die Möglichkeiten junger Frauen erweitert, eigene Erfahrungen zu reflektieren und ihre spezifischen Schwierigkeiten in der heutigen Gesellschaft, in der sich die Stellung von Frauen gegenüber früher tatsächlich stark verbessert hat, besser verstehen zu können. Das Problem ist, dass dies nicht in gleicher Weise für männliche Jugendliche gilt. Diese können feministische Tools wie Mansplaining als gegen sich gerichtete Kampfbegriffe auffassen, als Begriffe , die sie als potenzielle Täter abstempeln. Die Diskussion um Himpathy kann bei ihnen den Eindruck erwecken, dass nur den Frauen geglaubt wird und man als Mann – selbst wenn wie im Fall Kavanaugh keine eindeutigen Beweise für ein sexuelles Fehlverhalten vorliegen – immer auf der Verliererseite steht. Wenn erfolgreiche Männer wie Kavanaugh oder Cristiano Ronaldo den Anschuldigungen beliebiger Frauen schutzlos ausgeliefert sind, kann es dann nicht jeden Mann treffen?

Diejenigen hermeneutischen Ressourcen, die jungen Frauen helfen, ihren eigenen Erfahrungen Sinn zu verleihen, können also von jungen Männern als Bedrohung empfunden werden. Aus feministischer Sicht könnte man die Auffassung vertreten, dass es durchaus angemessen ist, wenn Männer sich vom Feminismus bedroht fühlen: Es ist klar, dass die Privilegierten angesichts der Forderung nach Gerechtigkeit Angst um ihre Privilegien haben und allenfalls mit der Entwicklung misogyner Einstellungen reagieren. In der privilegierten Position übersieht man zudem oftmals diejenigen Ungerechtigkeiten, die den Benachteiligten widerfahren. Man neigt dazu, stattdessen auf vermeintliche Ungerechtigkeiten zu fokussieren, denen man selbst durch den Verlust der Privilegien ausgesetzt ist.

Dies mag gewisse Reaktionen junger Männer auf feministische Forderungen und Ideen erklären. Aus pädagogischer Sicht ist es jedoch unbefriedigend, hier stehenzubleiben. Das gilt insbesondere deshalb, weil sich männliche Jugendliche angesichts der feministischen Herausforderung ganz eigenen Schwierigkeiten in der Entwicklung ihrer (Gender)-Identität ausgesetzt sehen. Einerseits scheint es wichtig, dass sie die bestehenden Ungerechtigkeiten in den Geschlechterbeziehungen als solche sehen lernen. Die Abwehrreaktion männlicher Jugendlicher gegenüber dem feministischen Diskurs ist teils auf mangelnde Lebenserfahrung und fehlende Sensibilität für die Dynamik von sozialen Konstellationen zurückzuführen. Die anfänglich widerwillig aufgenommenen neuen begrifflichen Ressourcen können allenfalls zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Aha-Erlebnis führen.

Andererseits müssen die männliche Jugendlichen aber auch dabei unterstützt werden, hermeneutische Ressourcen zu entwickeln, die ihnen ermöglichen, ihre Identität positiv bestimmen. Dabei wird es sich im Kern um vertraute Ideen wie Gleichheit, Autonomie oder Authentizität handeln, die ausdrücken, dass Männer wie Frauen in einer nicht-patriarchalen Gesellschaft die Möglichkeit haben, ihre eigenen Lebensentwürfe zu verwirklichen. Darüber hinaus könnte versucht werden, in spielerischer Weise spezifisch männliche „Kampfbegriffe“ zu kreieren, die – entsprechend Begriffen wie Mansplaining – „typisch weibliche“ Verhaltensweisen kritisch beleuchten. Im schulischen Kontext ist speziell die Situation männlicher Jugendlicher in weiblich dominierten Schulklassen in den Blick zu nehmen und zu fragen, wie sich junge Männer in diesem Umfeld behaupten können, ohne zu Sexismus und Misogynie Zuflucht nehmen zu müssen.

In der kritischen Beschäftigung mit unterschiedlichen begrifflichen Tools wird sich herausstellen, dass viele der ursprünglich feministischen Ressourcen sich nicht nur auf die Situation von Frauen beziehen lassen. Auch Männer können bekanntlich Opfer von sexueller Belästigung werden. Angesichts der traditionellen Rollenerwartungen an Männer –  die als der sexuell aktive Part gesehen und zudem als fähig, sich gegen Frauen zur Wehr zu setzen – ist es womöglich für Männer sogar schwieriger als für Frauen, sich selbst einzugestehen, dass sie sexuell belästigt wurden. Umso schwieriger ist es, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Die teils von männlichen Jugendlichen vorgebrachte Auffassung, wonach die von Feministinnen angeprangerten „männlichen“ Verhaltensweisen gar nicht geschlechtsspezifisch seien, sondern von Frauen und Männern gleichermaßen an den Tag gelegt werden, kann an diesem Beispiel näher diskutiert werden.

Weiter sind viele der hermeneutischen Ressourcen der Feminismus-Debatte nicht allein für die Geschlechterdebatte relevant, sondern lassen sich auf unterschiedliche Formen von Marginalisierung und Benachteiligung beziehen. Viele Männer mögen als Männer privilegiert sein, sind aber aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrem Status als Immigranten, ihrer sozialen Herkunft, ihrer sexuellen Orientierung oder einer allfälligen Behinderung Opfer von Vorurteilen und Diskriminierung. Diese Männer können die neu entwickelten begrifflichen Tools in ähnlicher Weise nutzen wie Frauen.

Der analytisch-hermeneutische Ansatz in der feministischen Bildung, wie er hier in groben Zügen umrissen wird, stellt also zum einen unterschiedliche begriffliche Tools zur Identifikation und Kritik von Ungerechtigkeit bereit und eröffnet zum anderen Jugendlichen beiderlei Geschlechts Perspektiven für die Entwicklung und authentischer Lebensformen.

Der Text „We Should All Be Feminists“ wurde mir übrigens von männlichen Jugendlichen zur Lektüre empfohlen. Einer von ihnen brachte ihn von einem Sprachaufenthalt in England mit und gab ihn an seine Klassenkameraden weiter. Wichtige Anstöße für diesen Beitrag stammen aus Diskussionen mit Dominique Künzle, der mich auch auf das aktuelle Buch von Kate Manne hingewiesen hat.


Johannes Giesinger unterrichtet Philosophie an der Kantonsschule Sargans und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ethik-Zentrum der Universität Zürich. Er befasst sich vorwiegend mit Fragen der Erziehungsphilosophie und der Ethik der Kindheit.


Fußnoten

[i]    Chimamanda Ngozi Adichie: We Should All Be Feminists, London: Forth Estate 2014. Zum Ted-Talk von 2012: https://www.ted.com/talks/chimamanda_ngozi_adichie_we_should_all_be_feminists/transcript

[ii]      https://www.youtube.com/watch?v=IyuUWOnS9BY

[iii]      Zitiert aus der deutschen Übersetzung, die den Titel „Mehr Feminismus!“ trägt (Chimanda Ngozi Adichie: Mehr Feminismus! Ein Manifest und vier Stories, Frankfurt am Main: S. Fischer 2016, S. 33).

[iv]      Rebecca Solnit: Men Explain Things to Me (2008), http://www.tomdispatch.com/blog/175584/

[v]      Kate Manne: Brett Kavanaugh and America’s ‘Himpathy’ Reckoning, New York Times, 26. September 2018, https://www.nytimes.com/2018/09/26/opinion/brett-kavanaugh-hearing-himpathy.html

[vi]      Kate Manne: Down Girl. The Logic of Misogyny, New York: Oxford University Press 2018.

[vii]     Miranda Fricker: Epistemic Injustice. Power and the Ethics of Knowing, Oxford: Oxford University Press 2007.

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