20 Sep

Über den Status der Philosophie im Kompetenzdschungel

von Christian Prust (Siegen)


Mindestens dreißig zu entwickelnde oder zu fördernde Kernkompetenzen stehen in jedem Schulfach – wohl auch oder gar primär als eine Reaktion auf den Pisa-Schock – in den entsprechenden Curricula und Kernlehrplänen – ein nahezu undurchschaubarer Kompetenzdschungel. Das gilt freilich auch für die Philosophie. Aber ist ein kompetenzorientierter (Philosophie)-Unterricht wirklich eine gute Lösung für etwaig erhobene Missstände im Bildungssystem? Ich werde anhand einiger komparatistischer Säulen, z. B.  Kompetenz versus (philosophische) Bildung, Kompetenzorientierung versus Vermittlung von Fachwissen, pädagogische, didaktische und bildungsphilosophische Vorstellungen versus zentrale Vorgaben der OECD, Probleme skizzieren und einleiten, die mit der Kompetenzorientierung einhergehen. Der prominenten Definition von Franz E. Weinert zufolge sind Kompetenzen „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen (d. h. absichts- und willensbezogenen) und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“[1] Auffällig ist auf den ersten Blick, dass hier Kompetenz notwendig an Motivation und Volition geknüpft sein soll; hier stellt sich die Frage: habe ich die Argumentationskompetenz nur dann, wenn ich auch argumentieren will? Das ist höchst diskussionswürdig, dafür ist hier aber nicht der geeignete Ort, auch weil dies nur eine Definition unter vielen ist.[2] Ich möchte den Fokus auf den weniger strittigen Teil der Definition legen, demzufolge die Kompetenzorientierung sich vor allem dadurch auszeichnet, den Blick darauf zu richten, dass Schülerinnen und Schüler die Probleme der jeweiligen Disziplin besser verstehen und entsprechend auch besser lösen können, d. h. Kirsten Meyer zufolge auch  „besser philosophieren können sollen.“[3]

Wenn wir diese Definition oder Explikation zugrunde legen, stellt sich aber unmittelbar die Frage, ob die starke Fokussierung auf spezifische Problemlöse-Kompetenzen nicht offenkundig einem philosophischen (und humanistischen), etwa dem Humboldt´schen Bildungsideal diametral gegenübersteht, der eine umfassende und ganzheitliche Bildung (regeste, freieste und allgemeinste Bildung) forderte, die autonome, mündige und vernunfttätige Weltbürger hervorbringen sollte und nicht etwa Kompetenzen (bzw. die jeweils intendierte Performanz) als normatives telos oder (Selbst-)Zweck des Unterrichts. Die These, dass mit der Kompetenzorientierung eine „bessere“ Bildung gewährleistet werden kann, steht eo ipso auf einem sehr wackeligen Gerüst, wenn moniert werden kann, dass ebenjener Kompetenzbegriff dem Bildungsbegriff entgegensteht. Carsten Roeger argumentiert etwa oppositionell zum angeführten Zitat von Kirsten Meyer: „Durch Kompetenzorientierung degeneriert der Philosophieunterricht, weil genau das verhindert wird, was für den Philosophieunterricht charakteristisch ist: das Philosophieren.“[4] Es scheint also einen Streitpunkt an der Schnittstelle zwischen Philosophie, Philosophieunterricht, Bildung und Kompetenz zu geben und das obwohl die Kompetenzorientierung ja gerade aufgrund etwaig erhobener Missstände in der Bildung als Lösungsweg eingeführt wurde – vielleicht ist der Kompetenzbegriff doch nur ein bildungspolitischer Kampfbegriff? Damit sind wir auch gleich bei der nächsten Säule angelangt, denn es drängt sich unweigerlich die Frage auf, wer überhaupt Kompetenzen festlegt und wozu? Eine mögliche nüchterne Antwort: der Begriff der Kompetenz resp. Kompetenzorientierung – zumindest so wie es derzeit im Bildungssystem angewandt wird – ist eine OECD-Erfindung[5] und keine genuin pädagogisch und fachdidaktisch (insbesondere philosophiedidaktisch) konzessionierte Maßnahme, wobei zu betonen ist, dass viele Pädagogen und Fachdidaktiker die Kompetenzorientierung affirmieren oder wenigstens das Beste daraus machen. Hier generiert sich unmittelbar das nächste Spannungsfeld, denn philosophische Kompetenzen sollten sich doch wohl vielmehr aus der über zweieinhalbtausend Jahre alten philosophischen Tradition heraus selbst ergeben und nicht von außen vorgegeben werden um genau jene Probleme zu lösen. Auch hier zitiert Roeger kritisch – wie ich finde treffend – eine Pressemitteilung der KMK: „Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen, die aus PISA gezogen werden muss, ist die klare Ausrichtung des Unterrichts weg von theoretischer, lebensferner Bildung hin zu einer handlungs- und anwendungsorientierten Kompetenz der Schülerinnen und Schüler in Deutschland.“[6] Und hier sollte ergänzt werden, dass die Vereinheitlichung des Bildungssystems durch Kompetenzen eben auch die Funktion hat, eine bessere Messbarkeit und Testbarkeit herzustellen, die zentral gelenkt wird und die vornehmlich auf ökonomischen Erfolg abzielt.[7]

Die übersteigerte Aufmerksamkeit und bildungspolitische Forderung der Kompetenzorientierung in der Schule kann und sollte also aus philosophiedidaktischer Perspektive kritisch hinterfragt werden.[8] Kritiker der Kompetenzorientierung sollten zurecht den drohenden Verlust der philosophischen Inhalte monieren.[9] Und welchen Stellenwert hat ein Fach noch, wenn das Fachwissen zugunsten von diversen, aber oft fächerübergreifenden, d. h. nicht genuin philosophischen Kompetenzen in den Hintergrund gerückt wird? Freilich sind Handlungskompetenzen, Reflexionskompetenzen oder Urteils- und Argumentationskompetenzen elementar wichtig, aber ohne Fachwissen, Begriffsgeschichte und methodisch-didaktisches oder wissenschaftstheoretisches Bewusstsein besteht die Gefahr, dass besonders die Philosophie auf die Ausbildung elementarer Kompetenzen reduziert wird und ihren Status als eigenständiges Fach mit hohem inhaltlichen Anspruch verliert.[10] Besonders die Philosophie läuft hier Gefahr, zur Lebenshilfe degradiert zu werden.

Die entsprechenden Kompetenzen sollen – den Befürwortern der Kompetenzorientierung zufolge – zwar grundsätzlich im handelnden Umgang mit Fachwissen und damit verbunden Problemen entwickelt werden. Damit reduziert man die Fächer aber oftmals auf Praxisnähe, Problemorientierung Lebensweltorientierung und Lebensvorbereitung.[11] Ob man damit einem Fach wie Philosophie gerecht wird, in welchem es besonders auch um Abstraktionen (z. B. was-wäre-wenn-Fragen in Gedankenexperimenten), Fiktionen, überweltliche Themen (z. B. Metaphysik) und schwierige, vielleicht unlösbare Probleme[12] geht, mit denen Staunen, Neugier oder Kontemplation einhergehen können, muss kritisch hinterfragt werden.[13]

Ferner ist es ohnehin umstritten, ob die Schule überhaupt lebensvorbereitende und lebensweltproblemorientierte Aufgaben übernehmen sollte? Und sollte dies bejaht werden – und ich bejahe dies, aber darin erschöpft sich Unterricht nicht, besonders nicht der Philosophieunterricht –, bleibt fraglich, ob die Kompetenzorientierung innerhalb der Fächer die zielführende Strategie ist? Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den medienwirksamen Tweet einer 17-jährigen Schülerin aus Köln, die im Januar 2015 schrieb, dass sie mit knapp 18 Jahren keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen habe, aber eine Gedichtanalyse in vier Sprachen verfassen kann. Dies hat in Deutschland eine kontroverse Diskussion ausgelöst, die genau die Frage nach der Bildungsaufgabe von Schulen zum Diskussionsgegenstand hatte. Die Frage ist also: Wenn sich Schulen die Lebensvorbereitung und lebensweltlichen Kompetenzen auf die eigene Fahne schreiben, warum bleibt der Fächerkanon derselbe und wird nicht ersetzt oder mindestens ergänzt durch die Vorbereitung auf typische Erwachsenenaufgaben?

Ferner – und damit schließe ich auch bereits den Problemaufriss – ist bedenkenswert, dass der mit der Kompetenzorientierung einhergehende Paradigmenwechsel zur Output- und Outcome-Orientierung[14] (im Gegensatz zur Input-Orientierung) besonderen Wert legt auf Selbstreflexion, „Lernen lernen“, „Lebenslanges Lernen“ und „Forschendes Lernen“. Doch wer zeigt den Schülerinnen und Schülern wie das geht, wenn Wissensvermittlung und wissenschaftstheoretisches und angeleitetes methodisches Vorgehen geradezu zum Tabuthema werden? Lehrerinnen und Lehrer sollten nicht nur als Mentoren und Lernbegleiter, sondern auch als Wissensvermittler und Prüfer tätig sein.

Summa summarum: ich möchte – entgegen dem bildungspolitischen Zeitgeist – die überzogene und vielleicht übereilte Kompetenzorientierung kritisch auf den Prüfstand stellen, deren Auswirkungen auf den vermeintlichen Bildungserfolg in Frage stellen und die Wichtigkeit von Fachwissen in den Schulen betonen, ohne dabei die Thesen zu vertreten, dass die Philosophie nicht auch im kompetenzorientierten Schulsystem und Kompetenzen nicht auch im Philosophieunterricht fruchtbar verortet werden können – im Gegenteil. Dieser Problemaufriss soll dazu anregen, die Vorteile und Nachteile resp. die Pro-Argumente und Contra-Argumente der Kompetenzorientierung besonders auch im Hinblick auf den Philosophieunterricht abzuwägen und kritisch-konstruktiv zu diskutieren.


Christian Prust ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am philosophischen Seminar der Fakultät I der Universität Siegen mit dem Schwerpunkt Philosophiedidaktik und im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekts: Den Sachunterricht vernetzen – Perspektiven öffnen.


Fußnoten

[1] Weinert 2001, 27.

[2] So vertritt Bettina Bussmann in einer ihrer „10 Thesen zum kompetenzorientierten Philosophie- und Ethikunterricht“ (2016, 3) etwa eine Position, der zufolge Kompetenzerwerb (als Ziel des Philosophieunterrichts) nichts anderes ist als philosophische Bildung im umfassenden Sinne. Ein solcher Kompetenzbegriff – dem ich als Ziel des Unterrichts nichts entgegenzusetzen hätte – wird m. E. in der Diskussion und Anwendung (z. B. in den entsprechenden Lehrplänen) aber selten zugrunde gelegt. Bussmann betont allerdings auch, dass Kompetenzausbildung kein Selbstzweck ist, aber notwendiges Mittel schulischer philosophischer Bildung. Einen ähnlich positiv konnotierten Kompetenzbegriff finden wir auch bei Ekkehard Martens (z. B. 2016), der – und hier paraphrasiere ich Martens – das Philosophieren genau dann als kompetent beschreibt, wenn die fünf Methoden der Phänomenologie, Hermeneutik, Analytik, Dialektik und Spekulation beherrscht werden; eine einseitige, inhaltslose Kompetenzorientierung kritisiert Martens zurecht. Auf der Grundlage solcher Kompetenzbegriffe resp. solcher Lehrpläne, die eben einen solchen Kompetenzbegriff berücksichtigten, würde mein folgendes Plädoyer sicherlich weniger kritisch ausfallen.

[3] Meyer 2017, 111. Wobei hier anzumerken ist, dass Meyer nicht durchweg befürwortend für die Kompetenzorientierung im Philosophieunterricht argumentiert.

[4] Roeger 2016, 12. Roeger definiert Kompetenz etwa wie folgt: „Kompetenz ist eine Fertigkeit zu Erfüllung fachspezifischer Anforderungen.“ (2016, 157).

[5] Diese absichtlich provokative Formulierung entlehne ich dankenswerterweise Andreas Gruschka 2018 (entnommen aus einem Interview, Onlinequelle: https://bildungsklick.de/schule/meldung/kompetenzorientierung-ist-nicht-eine-erfindung-von-paedagogen-sondern-von-der-oecd-in-paris/, zuletzt abgerufen am 05.09.2018).

[6] Roeger 2016, 4 bezugnehmend auf eine Pressemitteilung der KMK von 2001, 1.

[7] Vgl. dazu auch Ladenthin o. J., 1. Ladenthin bezeichnet die mit der Kompetenzausrichtung einhergehende Vereinheitlichung – anlehnend an George Ritzer – spitzfindig als McDonaldisierung (ebd.). Hier sollte man besonders aus philosophiedidaktischer Perspektive hellhörig werden, denn sowohl die ethische Dimension (Werte und Normen) als auch die abstrakte Dimension der Philosophie sind schwer messbar oder dürfen – im Hinblick auf Werte und Normen – gar nicht vereinheitlicht und gemessen werden.

[8] Zur Kritik an der Kompetenzorientierung aus philosophiedidaktischer Perspektive vgl. u. a. Kraus 2012; Tichy 2012.

[9] An dieser Stelle sei wiederholt, dass dies nicht auf alle Kompetenzbegriffe- und Definitionen zutrifft. Viele Fachdidaktiker verteidigen einen Kompetenzbegriff, der an Inhalte geknüpft ist.

[10] Hierzu schrieb Klafki treffend: „Der Versuch, den Schüler mit einer oder einigen Universalmethoden auszurüsten, um ihn so allen ihm künftig begegnenden Inhalten gewachsen zu machen, vergewaltigt die Fülle der Inhaltlichkeit (1975, 37 zit. n. Roeger 2016, 118).

[11] Dass sich die Philosophie auf der anderen Seite klarerweise paradigmatisch als lebensvorbereitendes Fach eignet, das lebensweltliche Probleme der Schülerinnen und Schüler aufgreift und Raum für die Auseinandersetzung bietet, sollte unstrittig und evident sein. Das ist aber eben nur die eine Seite der Medaille. Mir geht es hier darum, dass die Philosophie, neben all den Funktionen, die sie im kompetenzorientierten Schulsystem erfüllen kann, auch in besonderem Maße Ansprüche erhebt, die über die von der Bildungspolitik geforderten (Problemlöse-)Kompetenzen weit hinausgehen. Man kann und sollte die philosophische Tradition sowie die theoretisch abstrakte, systematische Philosophie nicht allein bloß deswegen kritisch beäugeln, weil sie scheinbar keine relevanten problemorientierten und lebensvorbereitenden Kompetenzen fördern.

[12] Und unlösbare Probleme stehen ja offenkundig auch mit der Problemlösekompetenz im Widerstreit – oder ist der Zweifler und Grübler etwa inkompetent?

[13] Henke und Rolf (2016, 24f), die der Kompetenzorientierung positiv gegenüberstehen, sehen zwar das Problem, dass ein Lehrplan solche Dinge nicht abdecken kann, verweisen aber darauf, dass kein Lehrplan die hohen Ziele philosophischer Bildung abbilden kann und diese (Lehrpläne) sich genau deswegen sehr pragmatisch auf nachprüfbare Kompetenzen beschränken müssen und sollten.

[14] Vgl. dazu auch Ladenthin o. J., 1.


Bibliographie

Bussmann, Bettina (2016): 10 Thesen zum kompetenzorientierten Philosophie- und Ethikunterricht. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik (ZDPE) 4/2016, 3.

Henke, Roland W./Rolf, Bernd (2016): „Philosophieren Können“ – Zum Kompetenzbegriff des nordrhein-westfälischen Kernlehrplans Philosophie. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik (ZDPE) 4/2016, 14-25.

Kraus, Andreas (2012): Achtung: „Kompetenz“! – Von einem Paradigma zu einer semantischen Virusinfektion. Ein kleiner humoriger Zwischenruf. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik (ZDPE) 34/2012, 214-220.

Ladenthin, Volker: Kompetenzorientierung als Indiz pädagogischer Orientierungslosigkeit. Online verfügbar unter http://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/kompetenzorientierung-als-indiz-padagogischer-orientierungslosigkeit.html, zuletzt abgerufen am 12.09.2018.

Gruschka, Andreas (2018): Kompetenzorientierung ist nicht eine Erfindung von Pädagogen, sondern von der OECD in Paris. Aus einem Interview mit dem Bildungsklick (https://bildungsklick.de/schule/meldung/kompetenzorientierung-ist-nicht-eine-erfindung-von-paedagogen-sondern-von-der-oecd-in-paris/, zuletzt abgerufen am 12.09.2018).

Martens, Ekkehard (92016): Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Hannover: Siebert.

Meyer, Kirsten (2017): Kompetenzorientierung. In:  Nida-Rümelin, J. & Spiegel, I. & Tiedemann, M. (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band 1: Didaktik und Methodik. Paderborn: Schöningh, 104-113.

Roeger, Carsten (2016): Philosophieunterricht zwischen Kompetenzorientierung und philosophischer Bildung. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Büdrich.

Tichy, Matthias (2012): Eine Zweideutigkeit des Kompetenzbegriffs und deren Bedeutung für die Philosophiedidaktik. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik (ZDPE) 34/2012, 221-229.

Weinert, Franz E. (2001): Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – Eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: Weinert, Franz E. (Hrsg.): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim u. Basel: Beltz, 17-32.

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