Ansteckende Freiheit

Von Arnd Pollmann (Berlin)

Es war abzusehen: Je länger die coronabedingten Notgesetze und Zwangsmaßnahmen aufrechterhalten werden, umso stärker wächst der Unmut vieler Bürgerinnen und Bürger über Einschränkungen ihrer Grundrechte. Manchen Menschen scheint überhaupt erst jetzt so richtig klar geworden zu sein, dass sie diese Grundrechte haben: Mit der verhängten Kontaktsperre ist die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit außer Kraft gesetzt. Die Religions- und Gewissensfreiheit leidet, weil Gläubige nicht mehr öffentlich zusammenkommen dürfen. Zahllose Menschen können derzeit ihren Beruf oder ihr Gewerbe nicht frei ausüben. Einreise- und Aufenthaltsverbote, etwa in Mecklenburg-Vorpommern, setzten dem Recht auf Freizügigkeit „alte“, längst überwunde geglaubte Grenzen. Die Zwangsquarantäne nach Grenzübertritten beschneidet die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Und die Regierung in Sachsen erwägte gar die Einweisung von Quarantäneverweigerern in die Psychiatrie. Man muss selbst nur einmal kurz ins Grundgesetz schauen, um zu erschrecken, was unzähligen Menschen derzeit so alles an Freiheit und vielleicht auch an Würde fehlt.

Sicher, die Grundrechte gelten nicht „absolut“. Das Verfassungsrecht sieht die Möglichkeit von Eingriffen in diese Rechte ausdrücklich vor. Nicht nur, aber besonders in Krisenzeiten. Daher sollte man nicht schon, wie das mancher überspannte Zeitdiagnostiker in den letzten Wochen getan hat, von „Krieg“, einem „Staatsstreich“, einem „Feuerwerk des Wahnsinns“ oder gar von „Ermächtigung“ sprechen. Auch sind uns die Grundrechte nicht „genommen“, sie sind keineswegs „ausgehebelt“ oder gar „abgeschafft“. Sie sind eben nur massiv eingeschränkt, und das bedeutet zunächst auch: Wir haben diese Grundrechte sehr wohl noch! Allerdings sieht das Verfassungsrecht ebenfalls vor, dass jede einzelne dieser Einschränkungen ihrerseits Schranken unterliegt – im Verfassungsjargon „Schranken-Schranken“ genannt. Und dies sind Schranken einer in jedem Einzelfall erforderlichen Rechtfertigung durch abwägende Verhältnismäßigkeitsprüfung.

Die geradezu panische Pauschalität jedoch, mit der die seuchenbedingten Maßnahmen nicht zuletzt auch völlig gesunde Menschen treffen, lässt an der Rechtfertigung vieler dieser Grundrechtseingriffe zweifeln. Auch wenn der Vergleich ein wenig hinkt: Es ist, als wolle man die Kriminalität bekämpfen, indem man sogleich auch alle Unschuldigen als Gefährder einstuft und vorsichtshalber einsperrt. Hier drängen sich mindestens zwei Fragen auf: Treffen die Zwangsmaßnahmen stets die „Richtigen“ oder manchmal eben auch die Falschen? Und selbst wenn sie die Richtigen treffen: Sind die Maßnahmen in jedem dieser bislang eher pauschal regulierten Fälle individuell verhältnismäßig? Wie wir noch sehen werden, hängen diese beiden Fragen eng zusammen, und doch ist es wichtig, sie auseinanderzuhalten. Beginnen wir mit der ersten Frage und dem Hinweis vorab, dass es sich dabei um eine keineswegs unstrittige Interpretation der Grundrechte handelt. Diese Rechte sind nicht in Stein gemeißelt. Anders als die „zehn Gebote“ vielleicht – und selbst die sind inhaltlich auslegungsbedürftig.

Wenn die coronabedingten Eingriffe in Grundrechte tatsächlich und ausschließlich der Eindämmung der Seuche dienen sollen, müssen sie die Richtigen treffen. Das aber bedeutet im verfassungsrechtlich sensiblen Fall, in dem wir es mit unverlierbaren und unveräußerlichen Grundrechten zu tun haben, zugleich auch: Sie dürfen nicht die Falschen treffen. In der epidemischen Panik mag hier so manche voreilige und pauschale Entscheidung politisch verständlich gewesen sein. Aber irgendwann wird es Zeit, Bilanz zu ziehen, und wenn es geht, so früh wie möglich. Dazu ein Gedankenexperiment: Nehmen wir an, wir wüssten in jedem einzelnen Fall sehr genau, was wir faktisch natürlich nicht wissen und vielleicht auch gar nicht wissen dürfen, wer alles infiziert oder schon krank oder aber noch immer gesund ist. Und nehmen wir zudem an, es sei gerechtfertigt, infizierte oder kranke Menschen durch Einschränkungen ihrer Rechte bedingt abzuschotten. Wäre dies auch dann gerechtfertigt, wenn es um nachweislich gesunde Menschen ginge? Das sind allein hierzulande noch immer rund 83 Millionen Menschen. Muss man auch diese allesamt davon abhalten, infiziert zu werden?

In einem liberalen Rechtsstaat muss die Antwort lauten: nein! Der Staat hat nicht schon paternalistisch oder auch mütterlich dafür Sorge zu tragen, dass es uns allen gut geht. Er sagt uns ja auch nicht jeden Morgen: „Zieh’ dich warm an, wenn du das Haus verlasst!“. Der liberale Rechtsstaat mag die Aufgabe haben, Kranke zu versorgen und gegebenenfalls auch abzuschotten, aber die Freiheit, die im Wörtchen „liberal“ steckt, ist immer auch die Freiheit, persönliche Gefahren bis hin zur eigenen Ansteckung in Kauf nehmen zu dürfen – solange ich niemand anderem schade. Und wenn ich dann doch infiziert und ansteckend sein sollte, ändert sich alles, und so falle ich umgehend – aber auch nur dann – in jene erste Gruppe, mit Blick auf die solche Zwangsmaßnahmen gerechtfertigt sein mögen. Die gute epidemiologische Absicht allein rechtfertigt jedenfalls nicht schon die präventive Einschränkung der Freiheit gesunder Menschen. Ob diese das Haus verlassen oder nicht, muss der liberale Rechtsstaat der vielbeschworenen Vernunft dieser autonomen Rechtsubjekte überlassen. Und deshalb ist die von vielen ersehnte Möglichkeit, bald schon massenhaft und schnell testen zu können, auch grundrechtlich essenziell. Denn um im Gedankenexperiment zu bleiben: Wären tatsächlich alle getestet und blieben alle Infizierten daheim, so wäre es in einem Rechtsstaat nicht länger auch nur denkbar, weiterhin auch diejenigen ans Haus zu fesseln, deren Test nachweislich negativ ausgefallen ist.

Zwar mag man hier umgehend einwenden: Gerade weil Menschen oft unvernünftig sind, weil wir faktisch eben doch nicht wissen, wer ansteckend ist und wer nicht, und weil zudem eine gefährliche Knappheit an Intensivbetten herrscht, ist die Pauschalität der Maßnahmen dann doch gerechtfertigt. Aber das ist ein Irrtum. Für diese unverantwortliche Knappheit an medizinischer und medizintechnischer Versorgung sind Politik und Wirtschaft, nicht aber die individuellen Grundrechtssubjekte verantwortlich. Es ist schlicht unerträglich, dass jene auf eklatantem Systemversagen basierende Knappheit von diesen Grundrechtssubjekten mit Einschränkungen ihrer Grundrechte bezahlt werden müssen.

Damit ist zugleich auch schon eine Teilantwort auf die wichtige zweite Frage gegeben: Wie unterscheidet man verhältnismäßige von unverhältnismäßigen Eingriffen in die Grundrechte? Da viele der derzeitigen Zwangsmaßnahmen zumindest mit Blick auf nicht-infizierte Personen ungerechtfertigt sind, sind sie mit Blick auf diese Personen notwendig auch unverhältnismäßig. Schwieriger aber ist die Frage immer dann zu beantworten, wenn es um nachweislich infizierte oder schon erkrankte Personen geht; wobei hier alte oder vorerkrankte Menschen als Grenzfälle verstanden werden sollten, über die man diskutieren kann. Ab wann ist hier eine Maßnahme der Seuchenbekämpfung unverhältnismäßig, selbst wenn sie epidemiologisch notwendig sein mag? Die Dogmatik des Verfassungsrechts spricht bei solchen Abwägungen gern vom Schutz „höherer Rechtsgüter von Verfassungsrang“. Gemeint sind zum Beispiel die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, der Schutz der Verfassung insgesamt, der Fortbestand der Demokratie, die Bewahrung des Friedens oder eben der Gesundheit der Bevölkerung. Das aber würde bedeuten, dass es auch andere als bloß grundrechtliche Gründe für derartige Eingriffe geben mag, und zwar solche, die vornehmlich dem Schutz des „Kollektivs“ und weniger dem Schutz des Individuums dienen. Können die Grundrechte tatsächlich durch diese anderen Rechtsgüter „übertrumpft“ werden?

Entgegen dem verfassungsrechtlichen Mainstream muss auch hier die Antwort lauten: nein! Die Grundrechte sind vielmehr ihrerseits als „Trümpfe“ (Ronald Dworkin) zu verstehen. Es gehört zum Begriff der Grund- und auch der Menschenrechte, dass sie eben nicht schon durch außer-menschenrechtliche Erwägungen außer Kraft gesetzt werden dürfen. Daraus folgt notwendig, dass etwaige Eingriffe in Grundrechte, die sich ihrerseits nicht selbst wieder auf grundrechtliche Ansprüche (anderer) zurückführen lassen, illegitime Verletzungen dieser Rechte darstellen. Jeder Eingriff übernimmt daher die Bürde einer spezifisch grund- oder auch menschenrechtlichen Rechtfertigung. Diese Rechtfertigung kann im Zuge einer nachvollziehbaren Abwägung erbracht werden, sobald gezeigt wird, dass die Unterlassung eines bestimmten Grundrechtseingriffs konkrete höherwertige Grundrechte anderer Menschen gefährden würde. Die Freiheitsbeschränkung der Zwangsquarantäne kranker Menschen zum Beispiel wird durch den Schutz des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit anderer Personen übertrumpft. Hier kollidieren Grundrechte, und der geplante Eingriff in mindestens eines dieser beiden Rechte würde dann lediglich bedeuten, dass der jeweils andere Rechtsanspruch aus dem betreffenden Abwägungsfall als „Sieger“ hervorgegangen ist.

Doch wie gesagt: Dazu muss die zwangskasernierte Person, erstens, krank oder zumindest infiziert sein. Und die Maßnahme muss ihr, zweitens, auch selbst in dem Sinn zugemutet werden können, dass damit nicht zugleich auch schwerer wiegende Verletzungen ihrer Rechte einhergehen. Besonders unverhältnismäßig wird die Zwangsmaßnahme dann, wenn sie die „Menschenwürde“ antastet. Artikel 1 des Grundgesetzes ist ein ganz besonderes Grundrecht, da es ausnahmsweise keine Ausnahmen zulässt. Der Würdebegriff selbst mag schwammig anmuten. Aber wenn etwa das Land Sachsen über die Zwangseinweisung von Quarantäneverweigerern in die geschlossene Psychiatrie nachdenkt oder wenn alte Menschen in unfreiwilliger Isolation von ihren Familien sterben müssen, ist auch diese Grenze überschritten.

Nur zur historischen Erinnerung: Die Grund- und Menschenrechte wurden und werden in Verfassungen und international verbindlichen Konventionen festgeschrieben für genau solche Momente – in denen das politische Kollektiv meint, sich über das Individuum hinwegsetzen zu dürfen. Dass der Protest in der Bevölkerung gegen die derzeitigen Grundrechtsbeschränkungen anschwillt, ist verständlich und auch richtig. Dass dieser Widerstand seitens der Bevölkerung inzwischen sehr viel stärker anmutet als auf Seiten vieler einschlägiger Verfassungsrechtlerinnen oder Rechtsphilosophen, die sich allzu sehr der epidemiologischen Kraft mutmaßlicher Alternativlosigkeit beugen, wirkt momentan eher unprofessionell oder sogar beschämend.


Eine stark gekürzte Version dieses Textes ist am 21.4.2020 in der taz erschienen.


Arnd Pollmann ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin und u.a. Autor sowie Mitherausgeber zahlreicher Publikationen zur Philosophie der Menschenrechte. Weitere Informationen unter www.a-pollmann.de.