Biologische und geistige Selbsterhaltung des Menschen in Zeiten der Pandemie
Von Max Gottschlich (Linz)
Die Eindämmung der ersten Welle der Covid-19-Pandemie scheint in einigen Ländern Europas gelungen zu sein. Die Zeit für Zwischenbilanzen ist gekommen. Einerseits gibt es Bilanzen im Feld der Fachwissenschaften. Da geht es um die Beurteilung der Effektivität der Maßnahmen anhand von Rechenmodellen, in die unsere „hyperkomplexe“ menschliche Wirklichkeit übersetzt wird, um Ereignisfolgen handhabbar zu machen. Andererseits wird die Frage diskutiert, ob die im Wortsinne radikalen, also an die Wurzel des Rechts reichenden Regelungen im Umgang mit der Pandemie angemessen und legitim waren und sind. Die öffentliche Diskussion und politische Auseinandersetzung damit wird lauter. Kein Wunder, geht es doch an die Substanz des modernen Lebens und Selbstverständnisses des Menschen: die Freiheit. Man fragt wieder vermehrt nach Grundsätzlichem. Man sucht größere Deutungshorizonte, in die die Handlungen und Ereignisse einzuschreiben sind.
Die Deutungen der gegenwärtigen Lage sind gegensätzlich. Flacht sich die berühmte „Kurve“ ab und bleibt das befürchtete Katastrophenszenario im medizinischen Sektor aus, so verbuchen dies die einen als Bestätigung der Zweckmäßigkeit und damit auch schon der Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen. Die anderen sehen darin einen Beleg dafür, dass übertrieben Ängste geschürt wurden, in fahrlässiger oder gar vorsätzlicher Weise ohne Not Grundrechte im großen Maßstab ausgehebelt wurden und in unverantwortlicher Weise unabsehbare Kollateralschäden in Kauf genommen wurden. Beide Seiten beanspruchen zudem, sich auf wissenschaftliche sowie rechtliche Grundlagen stützen zu können.
Diese Auseinandersetzung hat, im Abstand betrachtet, zwei erfreuliche Aspekte:
Erstens dies, dass diese stattfindet. Der Mensch ist nämlich nicht einfach handelndes Wesen, das durch Anweisungen möglichst zweckmäßig zu steuern wäre. Der Mensch muss sein Handeln immer auch deuten. Warum? Weil er sich in jeder Handlung schon selbst, sein Verständnis von sich und seiner Welt, seine Freiheit in gewisser Weise gedeutet hat. Das versteht sich alles nicht von selbst. Natürlich: In Zeiten drängender Not sind schnelle Handlungsanweisungen und technisches Verfügungswissen im Interesse der biologischen Selbsterhaltung erforderlich. Doch es gibt auch eine geistige Selbsterhaltung. Diese fordert, sich über die Voraussetzungen und Konsequenzen dieser Handlungsanweisungen Gewissheit zu verschaffen. Gerade im „Ausnahmezustand“ sollte das Bewusstsein der Regel oder Norm, an der sich ein Leben in Freiheit bemisst, wachgehalten werden.
Zweitens finden wir, mitten im Ringen um verbindliche normative Voraussetzungen des menschlichen Gemeinwesens, gewichtige Punkte, die weitgehend außer Streit gestellt sind: etwa der Gedanke, dass Recht nicht gesetzliches Unrecht werden soll, dass die Einschränkung von Grundrechten nicht bloß Sache einer willkürlichen Setzung sein kann, sondern belastbare Gründe braucht; dass diese Gründe transparent gemacht werden müssen; dass die Maßnahmen sowohl im Einzelnen als auch in Summe verhältnismäßig sein müssen; dass diese Verhältnismäßigkeit in der Wahl jener Mittel besteht, die nicht nur zweckmäßig überhaupt sind, sondern die gelindesten zum Ziel führenden Maßnahmen darstellen und dass diese ständig evaluiert und nötigenfalls modifiziert werden müssen.
Dies alles beruht auf einem Konsens in grundsätzlicher Hinsicht: dass Recht und Staat freiheitsermöglichend sind, ja selbst Präsenz von Freiheit sind und sein sollen. Recht ist nicht bloß ein Instrument zur effektiven Verhaltensregulierung, das durch den Staat als übermächtigen Souverän gesichert wird, der uns davon abhält, uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Ein Staat, der nur auf Todesangst beruht, der kennt für seine Sicherheitsgesetze kein Maß. Würden wir unter diesen Prämissen denken, dann bestünde kein Problem, Rechte zum Zweck des Gesundheitsschutzes beliebig einzuschränken. Manche meinen, dass wir uns heute bedenklich an ein solches Verständnis von Recht und Staat angenähert haben. Verfechter der Maßnahmen bestreiten dies. Beide Seiten sind, so scheint es, getragen von der Überzeugung, dass sich die praktischen Regeln letztlich durch ihre Rückbezüglichkeit auf das Recht als Ausdruck der Freiheit legitimieren. Wenn ein Konsens darüber besteht, ist schon viel gewonnen.
Auch im Umgang mit einer Pandemie muss sich also der Mensch nicht nur biologisch, sondern als biologisch-geistiges Wesen erhalten. Es muss klar sein, dass das Grundrecht auf Freiheit auch dort noch anerkannt ist, wo es limitiert wird. Kriterium einer solchen Anerkennung ist nicht zuletzt dies, dass die politische Urteilsfindung hinsichtlich so weitreichender Maßnahmen transparent gemacht wird. Wird anerkannt, dass der Bürger ein Recht darauf hat zu erfahren, wie genau und aus welchen Gründen sein Recht auf Rechte beschränkt wird? Wird die Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Prüfbarkeit ernst genommen? Denn wo das Recht auf Rechte rechtlich limitiert werden können soll, muss im Ausgleich auf die Effektivität der Kontrolle dieser Beschränkung besonderes Augenmerk gelegt werden.
Ass.-Prof. DDr. Max Gottschlich lehrt am Institut für Praktische Philosophie/Ethik der Katholischen Privatuniversität Linz. Arbeitsschwerpunkte: Logik, Grundlegungsfragen der praktischen Philosophie, Philosophie der Sprache, Naturphilosophie.