13 Jul

Biopolitik und Vulnerabilität in der Corona-Pandemie

Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Aufsatz, der in einem Schwerpunkt zur COVID-19 Pandemie in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift für Praktische Philosophie (ZfPP) erschienen ist. Der Aufsatz kann auf der Website der ZfPP kostenlos heruntergeladen werden.


Von Sonja Gassner (Wien)


Seit dem Beginn der Corona-Pandemie steht die politische Philosophie vor neuen Herausforderungen. Unbestritten ist, dass es Maßnahmen zum Schutz der Menschen und zur Eindämmung des Virus bedarf. Im letzten Jahr hat sich jedoch gezeigt, dass diese vor allem dort greifen, wo es um die Gesundheit und die Leben sozial anerkannter und ökonomisch bessergestellter Bevölkerungsgruppen geht. Währenddessen sind ohnehin schon benachteiligte Gruppen in unverhältnismäßiger Weise vom Virus betroffen. Sei es durch den fehlenden Zugang zu Gesundheits- und Sozialsystemen und dem dadurch erhöhten Infektionsrisiko, sei es durch Arbeitslosigkeit oder unbezahlte Mehrarbeit – soziale Ungleichheiten spitzen sich weiter zu.

Michel Foucaults Konzept der Biopolitik sowie Donna Haraways und Judith Butlers Überlegungen zu Körperlichkeit, Immunität und Vulnerabilität bilden Ansätze, um die Ungleichverteilung von Vulnerabilität zu problematisieren.

Biopolitik und Rassismus

In den 1970ern entwickelte der französische Philosoph Michel Foucault das Konzept der Biopolitik. Im Zentrum steht dabei die Idee, dass sich ab dem 17. Jahrhundert eine Transformation der Machtformen vollzieht. Die souveräne Macht, gekennzeichnet durch das Recht „sterben zu machen und leben zu lassen“ (Foucault 2014a, 65), wird zunehmend überlagert von einer Biomacht, welche auf die Erhaltung und Steigerung sowohl des individuellen Lebens als auch des Lebens der Gesamtbevölkerung abzielt. Die Beobachtung und Regulation biologischer Prozesse wie „der Geburtenrate, Lebensdauer und öffentlichen Gesundheit“ (Foucault 2014a, 69) wird zum entscheidenden Instrument der Regierung. Die neue Devise lautet: „Leben ‚machen‘ und sterben ‚lassen‘“ (Foucault 2014b, 90).

Der zweite Teil dieser verkürzten Formel verweist bereits darauf, dass Biomacht aber nicht nur produktiv wirkt, das heißt lebenserhaltend und -steigernd, sondern ebenso eine exkludierende Dimension hat. In seiner 1976 gehaltenen Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft argumentiert Foucault, dass Biopolitik Hand in Hand geht mit der Entstehung des modernen (Staats-)Rassismus. Dieser wird zum wichtigsten Instrument, um Differenzierungen und Hierarchisierungen vorzunehmen, innerhalb eines als Ganzheit imaginierten, mehr oder minder homogenen biologischen Kontinuums (wie einer Bevölkerung oder der menschlichen Gattung) (vgl. Foucault 2014b, 107). Mit anderen Worten: Indem sie bestimmte Bevölkerungsgruppen zur Bedrohung des Lebens und der Gesundheit des Gattungskörpers erklären, machen rassistische Logiken es nicht nur möglich, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen als „besser“ oder „schlechter“ wahrgenommen oder bewertet werden. Sie schaffen auch eine weitgehende Akzeptanz dafür, dass abgewertete Individuen und Gruppen erhöhten (Todes-)Risiken ausgesetzt werden. Biopolitik äußert sich in diesem Sinne, wie Daniele Lorenzini in einem 2020 publizierten Artikel erinnert, immer auch in einer Politik der Ungleichverteilung von Vulnerabilität.[1]

Betrachtet man Infektions- und Todesstatistiken seit Ausbruch der Corona-Pandemie, so zeigt sich, dass in den USA, in Großbritannien, Brasilien, aber auch in vielen anderen Ländern, People of Color und Indigene überproportional von Krankheit oder Tod durch das Virus betroffen sind.[2] Die Frage nach den biopolitischen Rahmenbedingungen zu stellen, innerhalb der solche Statistiken zu Stande kommen, bedeutet auch danach zu fragen, wer Zugang zu Hygiene- und Schutzmaßnahmen hat. So ist es in einem überfüllten Flüchtlingslager, in dem selbst einfachste Sanitäranlagen fehlen, schlichtweg nicht möglich notwendige Hygienestandards zu wahren. Ebenso können unter schlechten Bedingungen arbeitende, nicht versicherte Personen, und dies betrifft PoC (aber auch Frauen* oder sexuelle Minderheiten) im erhöhten Ausmaß, nicht auf Homeoffice umstellen. Innerhalb rassistischer oder strukturell diskriminierender Logiken geschaffene und aufrechterhaltene Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie institutionalisierte Formen von Gewalt führen zu einer Ungleichverteilung von Vulnerabilität und Verschärfung von Prekarität.

Körperlichkeit und Immunität

Seit Beginn der Pandemie spitzen sich diese Ungleichheiten nicht nur weiter zu, zum Teil wird die Krise auch zum Vorwand, um bereits bestehende Exklusionspolitiken voranzutreiben. Wo Politiker*innen andeuten, dass Migrant*innen für den Import oder die Verbreitung des Virus verantwortlich zu machen seien, vermischen sich Ideen der Gesundheit und Immunität von Individual- und Gesellschaftskörpern mit rassistischen Trennungsfantasien. Dass diese nicht nur inhärent gewaltsam sind, sondern ebenso auf der Verleugnung von Abhängigkeitsbeziehungen beruhen, zeigt sich auf der Ebene des Immunsystems.

Dieses kann, so die These der amerikanischen Philosophin Donna Haraway, als „ausgearbeitete Ikone für Systeme symbolischer und materieller ‚Differenz‘ im Spätkapitalismus angesehen werden“ (Haraway 1995, 162). In anderen Worten haben wir es beim Immunsystem nicht einfach mit einem präexistenten, von Seiten der Biologie auf eine neutrale Beschreibung wartenden Gegenstand zu tun. Wie wir uns das Immunsystem vorstellen – als Bollwerk der Verteidigung oder aber als Netzwerk, in dem das Selbst „semipermeabel“ ist und sich erst in seinem Angewiesensein auf andere menschliche und nichtmenschliche Organismen konstituiert (vgl. Haraway 2000, 70) – ist immer auch schon von historischen, sozialen und kulturellen Faktoren abhängig. Ob wir auf die Offenheit und Verletzbarkeit unserer Körper (im individuellen wie im kollektiven Sinne) mit Leugnung oder aggressiver Abwehr reagieren oder ethische Verpflichtungen daraus ableiten, hat nicht nur philosophische, sondern auch weitreichende sozialpolitische Konsequenzen.

Vulnerabilität und Interdependenz

Eine Position, die die bei Haraway bereits angelegte Einsicht in eine grundlegende Abhängigkeit und der daraus resultierenden Vulnerabilität, die allen Körpern gemeinsam ist, weiterentwickelt, ist jene Judith Butlers. Butler argumentiert, dass wir, gerade weil wir zeitlebens von einer ökologischen und sozialen Umwelt abhängig und daher vulnerabel sind, immer schon – d.h. „noch vor jeder bewussten Entscheidung“ – verantwortlich sind (Butler 2018, 147).

Vor allem in einer globalen Gesundheitskrise gilt es sich daran zu erinnern, dass wir, sobald wir in der Welt sind, nicht nur von anderen affiziert werden, sondern auch andere affizieren. Die Bedingungen, die unser Leben erst ermöglichen – Luft, Nahrung, Berührung und Fürsorge – werden mehr denn je zu den Bedingungen unserer Gefährdung (vgl. Butler 2020a). Dies bedeutet aber auch, dass sämtliche Handlungen, die wir als Individuen oder als nationale und transnationale Gemeinschaften setzen – so zum Beispiel die Art und Weise, wie wir uns im öffentlichen Raum bewegen, oder die Entscheidungen darüber, welche Hygiene- und Schutzmaßnahmen wir ergreifen und wem Zugang zu diesen gewährt wird – immer auch schon andere betreffen und umgekehrt.

Im Kontrast zu rassistisch motivierten Verteidigungsfantasien und Fantasien der Unverwundbarkeit, wie sie von Coronaleugner*innen gelebt werden, bedeutet das Ernstnehmen von Vulnerabilität und die Affirmation wechselseitiger Abhängigkeit eine ethische Verpflichtung gegenüber allen anderen einzugehen – unabhängig davon, ob ich diese kenne oder nicht. Die Reflexion auf Vulnerabilität und Interdependenz geht über jegliche Identitätskategorien hinaus (vgl. Butler 2010, 20; Butler 2020b).

Die Basis sowohl für Butlers als auch Haraways ethisches Denken bilden somit nicht das individuelle Leben oder das Leben eines national oder anders konstituierten Gesellschaftskörpers, sondern die sozialen und materiellen Beziehungen, „die Leben und Handeln erst möglich machen“ (Butler 2018, 172). Dies ist entscheidend, insofern selbst Forderungen nach einem Recht auf Leben Exklusionsmechanismen reproduzieren können. Schließen sie doch jenes problematische Urteil darüber ein, was ein Leben ist oder wessen Leben als solches zählt.

Dass unser Leben mit dem anderer verwoben, d.h. grundlegend relational ist, zeigt sich im Angesicht eines hochinfektiösen Virus auf schmerzhafte Weise. Unsere Körper sind offen, d.h. anfällig für Verletzungen und Infektionen, aber auch angewiesen auf Fürsorge – selbst wenn sich diese darin äußert, Abstand zu halten.

Die Pandemie konfrontiert nicht nur Individuen, sondern auch Nationalstaaten mit ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und Vulnerabilität. Um Versorgungsengpässen bei Impfstoffen, medizinischer Ausrüstung und Pflegepersonal entgegenzuwirken, scheint eine inter- und transnationale Zusammenarbeit unumgänglich. Aber auch der Mangel an Arbeitskräften aufgrund nationaler Grenzschließungen, der noch zu Beginn des Jahres 2020 unter anderem in Österreich und Deutschland beklagt wurde – man denke hier an Altenpfleger*innen oder Erntehelfer*innen – regt dazu an, nicht nur Abhängigkeitsbeziehungen, sondern auch gesellschaftlich dominierende Anerkennungsökonomien zu überdenken. Wer trägt tatsächlich für unser Leben Sorge und unter welchen Bedingungen? Für wen spitzen sich Gefährdungslagen in der Pandemie weiterhin zu? Um wessen Leben trauern wir und wessen Leben scheinen lediglich als einkalkulierte Größen in den Todesstatistiken auf? Wie kommt es z.B., dass konservative Mitglieder der britischen Regierung inmitten einer Pandemie, von der PoC im erhöhten Ausmaß betroffen sind, und angesichts einer globalen antirassistischen Bewegung Critical Race Theory zur nationalen Gefahr erklären, nicht aber den strukturellen Rassismus?

Diese Fragen zu stellen, bedeutet vorherrschende biopolitische und strukturell rassistische Logiken in den Fokus zu nehmen. Mit Haraway und Butler lässt sich zudem, über Foucault hinausgehend, Verantwortlichkeit dort einklagen, wo Abhängigkeit missbraucht und Vulnerabilität maximiert wird, wo unterschiedliche Leben dem Risiko der Infektion und des Todes in ungleicher Weise ausgesetzt werden.


Sonja Gassner war von 2017 bis 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte Wien. Sie studiert derzeit Philosophie im Master an der Universität Wien und ist Tutorin am Philosophieinstitut Wien.


Literatur

Butler, Judith. 2010. Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Aus dem Englischen von Reiner Ansén. Frankfurt/M.: Campus.

Butler, Judith. 2018. Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versamm-lung. Aus dem Amerikanischen von Frank Born. Berlin: Suhrkamp.

Butler, Judith. 2020a. Judith Butler on COVID-19, the politics of non-violence, necropolitics, and social inequality. Interview with Amia Srinivasan, veranstaltet von Whitechapel Gallery und British Library, 23. Juli 2020, URL: https://www.youtube.com/watch?v=6Bnj7H7M_Ek (zuletzt aufgerufen am 26.8.2020).

Butler, Judith. 2020b: „Judith Butler on the Violence of Neglect Amid a Health Crisis.  A conversation with the theorist about her new book, The Force of Nonviolence, and the need for global solidarity in the pandemic world. Interview with Francis Wade“. The Nation, 13. Mai 2020, URL: https://www.thenation.com/artic-le/culture/judith-butler-force-of-nonviolence-interview/ (zuletzt aufgerufen am 31.8.2020).

Foucault, Michel. 2014a. „Recht über den Tod und Macht zum Leben“. In Biopolitik. Ein Reader, hg. v. Andreas Folkers und Thomas Lemke, 65–87. Berlin: Suhrkamp.

Foucault, Michel. 2014b. „In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesung vom 17. März 1976“. In Biopolitik. Ein Reader, hg. v. Andreas Folkers und Thomas Lemke, 88–114. Berlin: Suhrkamp.

Haraway, Donna.1995. „Die Biopolitik postmoderner Körper. Konstitutionen des Selbst im Diskurs des Immunsystems.“. In dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hg. v. Carmen Hammer und Immanuel Stieß, 73–97. Frankfurt und New York: Campus.

Haraway, Donna. 2000. How Like a Leave. An Interview with Thyrza Nichols Goo-eve. New York: Routledge.

Lorenzini, Daniele. 2020. „Biopolitics in the Time of Coronavirus“. Critical Inquiry, 2. April 2020. URL: https://critinq.wordpress.com/2020/04/02/biopoli-tics-in-the-time-of-coronavirus/ (zuletzt aufgerufen am 22.10.2020).


[1] Vgl. Lorenzini, Daniele. 2020.„Biopolitics in the Time of Coronavirus“. Critical Inquiry, 2. April 2020. URL: https://critinq.wordpress.com/2020/04/02/biopoli-tics-in-the-time-of-coronavirus/ (zuletzt aufgerufen am 09. 02.2021).

[2] Vgl. https://www.apmresearchlab.org/covid/deaths-by-race (zuletzt aufgerufen am 09.02.2021), Vgl. https://www.ons.gov.uk/peoplepopulationandcommunity/birthsdeathsandmarriages/deaths/articles/coronaviruscovid19relateddeathsbyethnicgroupenglandandwales/2march2020to15may2020 (zuletzt aufgerufen am 09.02.2021), vgl. https://www.thelancet.com/journals/langlo/article/PIIS2214-109X(20)30285-0/fulltext (zuletzt aufgerufen am 09.02.2021).