COVID 19 – Solidarpflichten ohne Ende?
Von Frank Dietrich (Düsseldorf)
Um alle COVID 19-Patienten behandeln zu können, erscheint eine Abflachung der Infektionskurve dringend geboten. Wenn die Ausbreitung des Virus verlangsamt wird, verzögert sich aber auch der Aufbau von Herdenimmunität. Damit entsteht die Frage nach der Zumutbarkeit langfristiger Schutzmaßnahmen. Verpflichtet uns das Ziel der Lebensrettung unbegrenzt, Freiheitsbeschränkungen und wirtschaftliche Nachteile hinzunehmen?
In meinem Beitrag erörtere ich zunächst, ob es eine überzeugende Alternative zu den weitreichenden Kontaktverboten gibt, die gegenwärtig gelten (1). Danach diskutiere ich, ob wir dem Ziel der Lebensrettung auch auf lange Sicht absoluten Vorrang vor anderen Interessen einräumen sollten (2). Die Ergebnisse meiner Überlegungen fasse ich abschließend kurz zusammen (3).
(1) Eine Infektion mit COVID 19 ist insbesondere für betagte Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen lebensbedrohlich. Zurzeit wird in fast allen betroffenen Ländern das öffentliche Leben zum Schutz besonders vulnerabler Personen stark eingeschränkt. Um eine Überlastung der intensivmedizinischen Versorgung zu vermeiden und Zeit für den Aufbau zusätzlicher Kapazitäten zu gewinnen, soll die Zahl der Neuinfektionen verringert werden. Zu Beginn der Pandemie stand aber noch eine Alternative zur so genannten Lockdown-Politik im Fokus, die eine genauere Betrachtung verdient. Insbesondere Großbritannien und die Niederlande haben eine „kontrollierte Ansteckung“ erwogen, um eine schnelle Immunisierung der Bevölkerung zu erreichen. Besonders vulnerable Personen sollten konsequent isoliert werden, ohne das öffentliche Leben durch massive Kontakt- oder Ausgangssperren einzuschränken. Diese Strategie, von der sich die Regierungen beider Länder inzwischen distanziert haben, bringt zwei Probleme mit sich.
Erstens ist auch für jüngere Menschen ohne Vorerkrankung, die sich mit COVID 19 infizieren, ein leichter Verlauf keineswegs garantiert. Obwohl die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen geringer ist, werden sie nicht zu unterschätzenden gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Meines Erachtens müsste ihnen daher die Möglichkeit eingeräumt werden, sich der „kontrollierten Ansteckung“ zu entziehen und soziale Kontakte zu vermeiden. Dazu könnte ihnen z. B. ein Anspruch auf Homeoffice gewährt und die Schulpflicht für ihre Kinder ausgesetzt werden. Eine Politik der „kontrollierten Ansteckung“ wäre vertretbar, wenn jeder eigenverantwortlich zwischen der Inanspruchnahme von Freiheiten und der Reduzierung von Gefahren wählen könnte. Allerdings sind längst nicht alle in der Lage, im Homeoffice zu arbeiten, und der soziale Druck zum Schulbesuch dürfte groß sein, wenn viele andere ihre Kinder dort belassen.
Zweitens muss der Schutz besonders vulnerabler Personen auch tatsächlich gewährleistet werden können. Nun sind aber gerade ältere und kranke Menschen häufig auf Hilfe angewiesen, um ihren Alltag zu bewältigen. In vielen Fällen dürfte sich eine konsequente soziale Isolation nicht realisieren lassen, weil Körperhygiene, medizinische Versorgung usw. von Dritten erbracht werden müssen. Soweit die betroffenen Personen nicht auf Kontakt zu Pflegekräften, Angehörigen oder Nachbarn verzichten können, sind sie einem signifikant erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt. Diese Gefahr wiegt umso stärker, als keine oder nur wenig Zeit bleibt, die Kapazitäten an Intensivbetten zu erhöhen und neue Therapien zu entwickeln.
(2) Wenn meine Überlegungen richtig sind, stellt der Versuch einer „kontrollierten Ansteckung“ keine überzeugende Alternative zu der aktuell praktizierten Lockdown-Politik dar. Die Strategie, die Ausbreitung von COVID 19 zu verlangsamen, wirft aber die Frage nach der Dauer der Schutzmaßnahmen auf. Die Freiheitsbeschränkungen sind umso belastender und die ökonomischen Folgen umso gravierender, je länger weitreichende Kontaktverbote aufrechterhalten bleiben. Der Schutz des Lebens vulnerabler Personen ist zweifellos ein sehr hohes Gut, das tiefgreifende Eingriffe in das öffentliche Leben rechtfertigt. Aber stellt er auch ein absolutes Gut dar, das jegliche Abwägung gegen unser Interesse an Freiheit oder Wohlstand verbietet? Ich denke nein.
In anderen Entscheidungskontexten akzeptieren wir ganz selbstverständlich, dass das Ziel der Lebensrettung nicht alle anderen Gesichtspunkte übertrumpft. So könnten viele der über dreitausend Unfalltoten, die noch im letzten Jahr zu beklagen waren, vermieden werden, wenn wir den Autoverkehr einstellen oder radikal begrenzen würden. Wir sind aber nicht zu drastischen Einschnitten bereit, weil uns der Verlust an Freizügigkeit und der zu erwartende ökonomische Schaden als zu hoher Preis erscheinen. Das Beispiel erscheint mir aufschlussreich, weil hier die Lebensrettung mit denselben Gütern konkurriert, die durch die Lockdown-Politik betroffen sind.
Auch im engeren Bereich der Gesundheitsversorgung verfügen wir bereits über eine etablierte Praxis der Abwägung, die kaum Anlass zu Kritik gibt. Vermutlich könnten wir durch eine massive Erhöhung der öffentlichen Ausgaben für Arzneimittelforschung auf lange Sicht eine Vielzahl von Leben retten. Wir sind aber nicht ohne Weiteres bereit, in anderen gesellschaftlichen Bereichen – z. B. in der Bildung – Kürzungen hinzunehmen, für die dann Mittel fehlen würden. Ferner könnte durch eine verpflichtende Grippeimpfung die Zahl der Todesfälle – das Robert-Koch-Institut geht z. B. für 2017/18 von 25.100 Toten in Deutschland aus – deutlich reduziert werden.[1] Der Schutz vulnerabler Personen gilt hier aber offenbar nicht als hinreichender Grund, um staatliche Zwangsmaßnahmen zu rechtfertigen.
Interessant ist auch ein Blick auf die Transplantationsmedizin, die sich permanent mit Knappheitsproblemen konfrontiert sieht. Bekanntlich versterben in Deutschland und andernorts viele Patienten auf den Wartelisten, weil Spenderorgane fehlen. Obwohl die – in Österreich praktizierte – Widerspruchslösung verspricht, den Mangel an Spenderorganen zu reduzieren, hat sich der Deutsche Bundestag im Januar 2020 für die Beibehaltung der erweiterten Zustimmung entschieden. Und der noch über die Widerspruchslösung hinausgehende Vorschlag, zwangsweise auf die Organe Verstorbener zuzugreifen, wird kaum ernsthaft diskutiert.[2] Auch hier wird dem Respekt vor der individuellen Selbstbestimmung offenbar Vorrang vor der Möglichkeit eingeräumt, das Leben schwer kranker Menschen zu retten.
(3) Im ersten Teil meiner Überlegungen habe ich die Gründe dargelegt, die gegen eine Strategie der „kontrollierten Ansteckung“ sprechen. Angesichts der aufgezeigten Risiken scheint gegenwärtig kein Weg an weitreichenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens vorbeizuführen. Da die Lockdown-Politik auf eine Verlangsamung der Neuinfektionen angelegt ist, muss aber die zeitliche Reichweite von Solidarpflichten erörtert werden. Es gilt zu diskutieren, unter welchen Umständen eine schrittweise Rückführung und Beendigung von Schutzmaßnahmen verantwortet werden kann.[3] Wenn sich die COVID 19-Pandemie nicht schnell eindämmen lässt, sind grundlegende Konflikte zwischen Lebensschutz auf der einen und Bewahrung von Freiheit und Wohlstand auf der anderen Seite zu erwarten.
Im zweiten Teil meiner Überlegungen habe ich dafür argumentiert, in der Lebensrettung zwar ein sehr hohes, aber kein absolutes Gut zu sehen. Wie die angeführten Beispiele zeigen, verfügen wir in Hinblick auf die Lebensrettung – vielleicht ohne uns dies hinreichend klar zu machen – bereits über eine gesellschaftliche Praxis der Abwägung. Sowohl im außermedizinischen wie auch im medizinischen Bereich behandeln wir die Lebensrettung nicht als Gut, das notwendig alle anderen Werte aussticht. Zudem würde sich bei nüchterner Betrachtung wohl kaum jemand wünschen, in einer Gesellschaft zu leben, die sich konsequent am Primat der Lebensrettung orientiert. Wenn man die Beispiele durchdenkt, wird schnell deutlich, welch problematische Folgen es hätte, auf jegliche Abwägung gegen andere Werte zu verzichten.
Das Ziel der Lebensrettung vermag daher gravierende Freiheitsbeschränkungen und Wohlstandsverluste nicht zeitlich unbegrenzt zu rechtfertigen. Ein Ausstieg aus der Lockdown-Politik kann grundsätzlich auch dann zulässig sein, wenn weiterhin beträchtliche Risiken für vulnerable Personen bestehen. Die Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen Schutzmaßnahmen zurückgenommen werden dürfen, lässt jedoch tiefgreifende Kontroversen erwarten. Offenkundig verfügen wir nicht über klare Abwägungskriterien, die es uns ermöglichen, so unterschiedliche Güter wie Leben, Freiheit und Prosperität gegeneinander „aufzurechnen“. In den schwierigen Diskussionen, die uns bevorstehen, gibt es meines Erachtens aber zumindest eine Gewissheit: Die – sehr erwartbare – Behauptung, dem Lebensschutz gebühre absoluter Vorrang, sollten wir nicht akzeptieren.
FrankDietrich ist Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität
Düsseldorf.
[1] Siehe Deutsches Ärzteblatt 2019, 116 (41).
[2] Die einzige mir bekannte Ausnahme stellt Norbert Hoerster (1997), Definition des Todes und Organtransplantation, in: Universitas 52, S. 42-52, dar.
[3] Die Forderung nach einer kontinuierlichen Re-Evaluation freiheitsbeschränkender Maßnahmen wird auch vom Deutschen Ethikrat in seiner Ad-hoc-Empfehlung „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“ vom 27. März 2020, S. 7 erhoben (abrufbar unter https://www.ethikrat.org/publikationen).