20 Jun

Die Not-Wende. Denken in der Krisis

Von Gabriel Valladão Silva (Berlin)

Das Denken fühlt sich von der Krisis dazu genötigt, rasch zu urteilen. Die gegenwärtige Zeit ist eine solche, in der sich die Zeit von Krisis zu Krisis verkürzt. Sie ist eine überraschende Zeit für das Denken. Das über-raschte Denken denkt notgedrungen und urteilt vorschnell. Sein Urteil ist ein unbedachtes Vorurteil, das unmittelbar aus dem Gefühl der Entrüstung verurteilt. Das entrüstete Verurteilen steht dem Denken aber ganz und gar nicht. Nietzsche behauptet, die Entrüstung sei sogar das unfehlbare Zeichen der Abwesenheit des eigentlich philosophischen Humors. Er bezeichnet sie als „die perfideste Art der Rache“.

Wieso ist die Entrüstung eine Art Rache? Das Gefühl der Entrüstung gehört wie das platonische θαυμάζειν in den Anfang eines Denkweges als etwas, was zum Denken auffordert. Denn auch die Entrüstung ist wie das Staunen eine Art Überraschung. Nur ist sie eine solche, bei der das Denken sich schämt und geärgert ist darüber, dass es sich überraschen ließ. Es steht auf und ist empört. Deswegen ist die Entrüstung für Nietzsche auch ein moralisches Phänomen, nämlich weil ihr Urteil zugleich ein Aufstand und eine Verurteilung ist: Sie stammt aus dem ressentiment

Zugegeben: Es ist eine undankbare Aufgabe, überrascht denken zu müssen. Die Krisis aber ist überraschend, denn sie nötigt das Denken zur raschen Entscheidung. ‚Krisis‘ ist nämlich wie bekannt ein Ausdruck aus dem Wortschatz der Medizin, der den kritischen, d. h. den entscheidenden Augenblick im Verlauf einer Krankheit bezeichnet. Auf Griechisch bedeutet κρίσις auch ‚teilen‘ und ‚urteilen‘. Demzufolge ist die Krisis der entscheidende Augenblick in dem Sinne, dass sie zum Urteil nötigt, das über den weiteren Verlauf der Krankheit entscheiden wird. Sie verlangt ein rasches Urteil, und dieses überraschte Vorurteil gilt dann als der kritische Gedanke, womit das Denken die Not der Krisis abzuwenden sucht.

Urteilen gehört aber zum Denken, und das gute Denken ist immer bedächtig. Als solches ist es leider eine Sache, die Zeit braucht. Deshalb sieht das Denken sich in Zeiten rasch aufeinanderfolgender Krisen oft dazu gezwungen, nach der Empörung zu greifen als den schnellsten Weg, eine Sache zu beurteilen und zu verurteilen. Es übt Kritik. Allein die Empörung ist bloß der Aufstand des entrüsteten Denkens, nachdem es auf ein unvorhergesehenes Problem gestoßen ist. Amoralisch betrachtet ist jedes Urteil aus Empörung bloß ein Notschrei und gehört damit zum Anfang, und nicht zum Ende eines Denkweges. Die Entrüstung ist etwas Bedenkliches, das erst bedacht werden muss, ehe es gedanklich wird.

Ein neuer Denkweg beginnt nämlich damit, dass das Denken auf seinen gewohnten Wegen auf ein Problem stoßt. Ein Problem (πρόβλημα) ist ein Vor-Geworfenes, etwas, was von außen in den Weg des Denkens geworfen wird, und somit dem Denken vorfällt. Deswegen, also weil das Problem aus einem außergedanklichen Bereich in den Raum des Denkens hineinfällt, ist der Vorfall des Problems für das Denken auch ein Zufall. Das zufällige Stoßen des Denkens auf ein vorgefallenes Problem ist der Ein-Fall, wodurch es vorgefunden wird.

Im Augenblick der Krisis geschieht es aber, dass das Problem dem Denken nicht nur einfällt, sondern es überfällt. Jede echte Krisis ist ein Notfall: Sie sprengt die gewohnten Bahnen, die dem jeweiligen Denken vertraut sind, indem sie ihm unversehens ein Problem in den Weg wirft, das es zu gehen gewohnt ist. Sie überrascht das Denken mit ihrem Vorwurf. Das zerstreut in seinen gewohnten Bahnen vor sich hin denkende Denken fällt auf den Kopf und streckt die Beine in die Höhe. Sein Einfall ist ein Unfall. Der Vorwurf hat das Denken ent-rüstet. Es richtet sich ärgerlich wieder empor: Es empört sich. So ist die Empörung der Aufstand des Denkens, wenn es auf seinen gewohnten Denkwegen auf einen Stein des Anstoßes stoßt. In seiner Empörung spricht das entrüstete Denken unbedacht sein Urteil über das Problem aus. Das empörte Urteil ist das gedankenlose Wüten des Denkens gegen das, was es entrüstet hat. Es will in seiner Verlegenheit das verlegende vorgeworfene Problem zerschlagen, um den gewohnten Denkweg wiederherzustellen. Es will sich am Problem rächen.

Ein echtes Problem ist aber hart und schwer zu beseitigen. Es bleibt fest an seiner Stelle und lässt sich nicht lösen. Ist es zu hart, um durch den raschen Schlag des empörten Vorurteils geteilt zu werden, so steht das Denken vor einem in zwei geschiedenen Denkweg und ist selber entzweit. Es ist verzweifelt, denn seine Kritik hat versagt. Will es weiter denken, so muss es nun in dieser Zwiefalt entscheiden, in welcher Richtung es seinen Denkweg wenden wird, um seinen Denkraum wieder bewohnbar zu machen – denn dieser ist durch das vorgefallene Problem ungewöhnlich und unheimlich geworden. Durch das Versagen des empörten Urteilens gegenüber einem schweren Problem wird also das Denken dazu genötigt, sich selber vor dem nun geschiedenen Weg zu entscheiden. Darum sagt auch Hegel, dass der Weg der Verzweiflung der Weg der Wahrheit ist: Das verzweifelte Denken sucht und versucht, sich auf einem neuen Weg zu sammeln.

Somit leitet das Problem das Denken endlich in unbetretene Denkwege ein. Es nötigt das Denken in neue Bahnen, indem es den Ort wo das Denken bis dahin ansässig war unheimlich macht.

Ein solches Umdenken eines altgewohnten Denkraums kostet jedoch viel Zeit und Mühe. Das zweifelnde Denken muss oft lange hin und her um das Problem herum suchen, bis es sich fest dazu entscheiden kann, sich einem neuen Denkweg zuzuwenden, der auch das Problem umfasst. Aber dann ist der entscheidende Augenblick der Krisis schon längst vorbei.

Einer der großen Denker unserer Zeit ist jüngst auf das Problem gestoßen, das die gegenwärtige Krisis uns allen vorwirft. Er ist im unmittelbaren Augenblick der Entrüstung aufgestanden und hat geurteilt: Es ist empörend, dass unsere Gesellschaft an nichts mehr glaubt, als an das nackte Leben, dass der Mensch um des bloßen Überlebens willen alle seine übrigen Werte preisgibt und einen Ausnahmezustand ohne Widerstand hinnimmt.

Mit diesem Aufstand versucht der Denker, das ihm vorgefallene Problem mit einem Schlag zu zerschmettern. Er nimmt Anlauf in seinem gewohnten Denkweg und verpasst ihm einen kräftigen Kopfstoß. Er trifft es zwar zur rechten Zeit, aber unvorsichtig, und ist ohnmächtig. Das Problem bleibt trotz des Kopfzerbrechens ungelöst an seiner Stelle.

Ein solcher Vorgang ist gewöhnlich für das Denken in einer Zeit wie die unsere, in der überraschende Notstände rasch aufeinanderfolgen. Kaum hat man sich um ein Problem gesammelt, schon trifft der nächste Vorwurf ein. Insofern ist es richtig, zu sagen, dass diese Zeit überhaupt eine ungünstige Zeit für das Denken ist. Denn das Maß des guten Denkens ist seine Bedächtigkeit. Bedächtig bedeutet so etwas wie nachdenklich. Gutes Denken denkt nach, es kommt erst später, und das heißt für unsere Zeit: es kommt zu spät, es ist verspätet, der Gedanke verfault, ehe er reif werden konnte. Aber faules Denken ist anrüchig. Deswegen ist es auch kein Wunder, dass wer sich heutzutage zum Denken genötigt sieht, sich oft überraschen und entrüsten lässt. Kein Wunder auch, dass in einer Krisis viele Denker nicht über die Entrüstung hinausgelangen und notgedrungen aus der Empörung heraus vorschnell urteilen müssen. Sie nennen diesen sauren Giftapfel des Vorurteils ‚Kritik‘. Anders als das Nachdenken ist diese sogenannte Kritik zeitig und kann somit rechtzeitig in der Zeitung erscheinen.

Diese Feststellung der Zeitgemäßheit des zeitigen Denkens soll hier aber keineswegs als Tadel gelten. In einer überraschenden Zeit wie die unsere ist es eine gefährliche Torheit, auf die Zeitung verzichten zu wollen. Vor allem in der Krisis ist die Rechtzeitigkeit unentbehrlich. Denn rechtzeitig heißt hier: im kritischen Augenblick, wo die Entscheidung noch entscheidend ist. Die Kritik hat also Recht, wenn sie rechtzeitig erscheinen will. Sie will schließlich in der Not der Krisis das notwendige Urteil aussprechen, das die Not zu wenden vermag. Das notgedrungene Denken ist aber leider notdürftig. Es liefert den Gedanken zwar zur rechten Zeit, aber es ist der falsche Gedanke. Die Lage des Denkens in der Krise scheint also folgende zu sein: Die Kritik erscheint als der einzig mögliche Gedanke in der Dringlichkeit der Krisis, aber sie ist ungenießbar und unvermögend, und das bedeutet so viel wie: unmöglich.

Ist also der einzig mögliche Gedanke in der Krisis ein unmöglicher Ungedanke, nämlich der ohnmächtige Aufstand der rachsüchtigen Entrüstung? Wenn dem so ist, dann ist das Denken in der Krisis überhaupt abzuraten. Aber muss das Denken sich vor einer Überraschung immer gleich entrüsten? Ist jedes Denken rachsüchtig gegen die Vorwürfe, die seinen gewohnten Gang verhindern? Das würde ja heißen, dass jedes Denken eitel und somit nicht der Rede wert ist. Denn das Eitle ist vergeblich, und das Vergebliche ist nicht wert, behalten zu werden.

Aber wir sagten, dass das gute Denken bedächtig und nachdenklich ist. Und Nachdenken schafft Nachsicht. Die Nachsicht aber ist das, was das Vergebliche vergibt. Sie ist eine ‚schenkende Tugend‘ und somit die Erlösung von der eitlen Rachsucht der Entrüstung.

Darüber hinaus ist die Bedächtigkeit nicht nur eine nachdenkende Nachsicht, sondern ebenso sehr eine im Voraus denkende Vorsicht. Denn bedächtig heißt so viel wie: umsichtig. Nur das schlechte Denken spaziert zerstreut durch die gewohnten Bahnen seines Denkgrundstücks und bildet sich ein, dass es sein unabdingbarer Besitz wäre. Es lässt sich von dem Vorwurf überraschen und entrüsten, weil es eingebildet ist. Aber die Einbildung ist ein Wahnsinn. Das bedächtige Denken dagegen sieht sich um und weiß Bescheid: Es ist bescheiden. Es ist mäßig und maßt sich nichts an. Bescheidenheit und Mäßigkeit in diesem Sinne haben nichts mit Gemeinheit zu tun. Im Gegensatz zur Rachsucht der enttäuschten Einbildung ist die Vorsicht (prudentia) wie die Nachsicht (indulgentia) eine vornehme Tugend, die anständig macht. Beide rüsten das Denken gegen das Kopfzerbrechen des entrüstenden Einfalls und des empörten Aufstands.

Andererseits darf diese Rüstung der umsichtigen Bescheidenheit nicht mit der harten Panzerung des nihil admirari verwechselt werden, womit der Stoiker die Sinne gegen die Verzweiflung abhärtet. Der Stumpfsinn macht hartnäckig. Aber das bescheidene Denken weiß darüber Bescheid, dass gerade die Scheidung der Verzweiflung dasjenige ist, was es zur Entscheidung nötigt und somit neue Denkwege eröffnet. Es will dem Zufall nicht vorbeugen, sondern biegsam sein, um ihn sich gefallen lassen zu können. Der Hut, womit das bedächtige Denken sich vor dem Zufall hütet, ist nicht die Narrenkappe des eingebildeten Wahnsinns, aber auch kein gepanzerter Schutzhelm des Stumpfsinns, sondern die besonnene Obhut über die eigenen Gedanken. Die Besinnung ist also das Gegenteil sowohl der wahnsinnigen Eingebildetheit, als auch der hartnäckigen Stumpfsinnigkeit: denn sie macht umsichtig. Der umsichtige Fürsorger kennt die Stärken und Schwächen seiner Schützlinge. Er macht sich keine Illusionen, er schaut sich ständig um und ist stets bereit und willig, seine Denkwege nötigenfalls umzudenken.

Wir sagten am Anfang, dass das Denken sich von der Krisis zum Urteilen genötigt fühlt. Nachdem wir das Verhältnis von Krisis und Denken durchdacht haben, scheint es jedoch, dass das von der Dringlichkeit der Not notgedrungene Denken diese Nötigung umgekehrt begreift. Es ist ja schließlich von dem Vorwurf überfallen worden und auf den Kopf gefallen. Das Denken ist durch diesen Unfall entrüstet, es empört sich, und will sich rächen. Sein überraschtes Urteil ist vorschnell und unbedacht und ist somit ein verurteilendes Vorurteil. Das Denken will die Not abwenden, um seinen gewohnten Denkraum wiederherzustellen. Gegenüber einem schweren Problem ist seine Rachsucht aber eitel und vergeblich. Das kritische Denken will das notwendige Denken sein, erweist sich jedoch als notdürftig. Es ist unreif, ungenießbar, unmöglich.

Dagegen sahen wir, dass, obwohl das notgedrungene Denken in der Krisis unvermögend ist, die Krisis doch umgekehrt ein wichtiger Anreiz für das Denken sein kann. Sie wirft dem Denken schwere Probleme vor und bringt es zur Verzweiflung über seine gewohnten Denkwege. Das von der Not gedrungene Denken vermag zwar kaum, die Not der Krisis abzuwenden; aber die Krisis nötigt das Denken dazu, sich selber zu wenden und neue Wege zu versuchen. Um dieser Nötigung zu entsprechen darf das Denken nun weder eingebildet noch stumpfsinnig sein. Es muss auch in der Krisis bedächtig bleiben können. Bedächtig aber heißt: vorsichtig und nachsichtig, also: umsichtig. Das notwendige Denken in der Krisis ist somit nicht so sehr ein Denken, das im kritischen Augenblick die Not abwendet, sondern ein Denken, das es versteht, sich selber in der Not zu wenden. Für ein solches Denken ist die Krisis eine Not-Wende. Es verwendet die Not für die Wendung, mit der es sich neuen Wegen zuwendet.


Gabriel Valladão Silva (geb. 31.08.1989 in São Paulo, Brasilien) ist Übersetzer und Doktorand an der TU-Berlin. Sein Themenschwerpunkt ist die Philosophiegeschichte, insbesondere Herders Sprachphilosophie, Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger, Benjamin, sowie die französische Philosophie und Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts.

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