09 Apr

Es gibt keine Freiheit, Teil einer Infektionskette zu sein: Solidarität und Pflicht in der Pandemie

Von Christoph Bublitz (Hamburg)

Dieser Beitrag möchte in die Diskussionen um den normativen Umgang mit Sars-CoV2 eine rechtsprinzipielle Sicht auf die Frage einwerfen, was sich Bürger in diesen Tagen schulden. Kritisch betrachtet werden soll v.a. das derzeit vorherrschende Narrativ, es sei ein Akt der Solidarität der weniger Gefährdeten, ihre Freiheiten zum Schutz von Risikogruppen aufzugeben, wie es etwa in der Ad Hoc Empfehlung des Ethikrates vom 27.03. zum Ausdruck kommt.

Solidarität erfüllt derzeit zwei argumentative Funktionen: Sie trägt zur Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen bei – das Ertragen der negativen Folgen gegenwärtiger Maßnahmen als Akt der Solidarität, und zugleich zur Bestimmung ihrer Schranken. Solidarität habe Grenzen, die bald erreicht sein könnten; sie würde Personen etwas „abverlangen“ und „besteh[e] weder automatisch noch unbegrenzt“, schreibt der Ethikrat (S. 5).

Doch so sehr Solidarität in diesen Tagen gefragt ist und vielerorts praktiziert wird, ist sie zur Beschreibung der normativen Verhältnisse bezüglich der derzeitigen Freiheitseinschränkungen irreführend. Analytisch erweisen sich diese zu großen Teilen nicht als Erscheinungsformen der Solidarität, sondern als Ausformung des Nichtverletzungs- bzw. Nichtschadensgebots (neminen laedere) sowie seiner staatlichen Durchsetzung unter besonderen epistemischen und epidemiologischen Bedingungen. Das Bild der Solidarität läuft Gefahr, das Verhältnis von Gefährdern zu Gefährdeten umzukehren, was sich wiederum auf Vorschläge zur Lockerung des Lockdown durch Isolation gerade letzterer auswirkt.

Ausgangspunkt des Arguments ist das basale Modell einer Rechtsgemeinschaft von Freien und Gleichen, in der jeder nur einfordern kann, was Anderen in gleichem Maße zusteht; darunter das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf Seiten des Adressaten also das Nichtschadensgebot. Die Aufgabe des Staates liegt in der Sicherung der Freiheitssphären, unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Dieses parsimonische Modell legt den Blick auf die normativen Grundverhältnisse zwischen Bürgern frei, die in tagespolitischen Debatten derzeit keine Rolle spielen, und es bietet einen Ansatzpunkt für Argumentationen, die einem rein epidemiologischen Blick entkommen wollen, ohne sich in Güterabwägungen zu erschöpfen. Selbstverständlich haben solche Urbilder liberaler Rechtsordnungen notorische Schwierigkeiten mit positiven Pflichten, kollektiven Risiken und kooperativem Handeln. Doch in der Überbetonung der individuellen Freiheit liegt ihr heuristische Wert für hiesige Zwecke: Sie markieren die äußeren Grenzen von Freiheit, die Einzelnen in rechtlich verfassten Gemeinschaften zukommen können. Was schon in ihnen Rechtspflicht und nicht bloß Solidarität, ist dies erst recht unter den gemeinschaftsgebundeneren Parametern des Grundgesetzes. Auch sind Maßnahmen, die sich auch in „staatsfernen“ Modellen als angemessene Lösungen von Konflikten zwischen Bürgern erscheinen, des staatlichen Machtmissbrauchs weniger verdächtig.

Die faktische Prämisse des Arguments ist die exponentielle Ausbreitung eines hochinfektiösen Virus, der ohne verlangsamende Maßnahmen innerhalb eines überschaubaren Zeitraums (3–12 Monate) die Mehrheit der Bevölkerung (50-70%) infizieren wird. Die Erkrankung verläuft bei 1-5% der Betroffenen tödlich, weitere 5% bedürfen intensivmedizinischer, die Kapazitäten des Gesundheitswesens übersteigender Behandlung. Bei 50% verläuft die Erkrankung ohne Symptome. Infizierte sind ihrerseits infektiös. Hinsichtlich der Vulnerabilität lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: die Risikogruppe bzw. die Gefährdeten (Alter, Vorerkrankungen) sowie eine risikoarme Gruppe (junge gesunde Menschen). Anzunehmen ist, dass erstere aus rationaler Selbstsorge sich und andere vor Ansteckungen zu schützen suchen und angesichts der drohenden Folgen hohe Kosten dafür hinzunehmen bereit sind, während letztere eine Infektion zur Förderung anderer Interessen eher in Kauf nehmen. Dies ist der Boden für eine auch realiter langsam zum Vorschein kommende Konfliktlinie zwischen beiden Gruppen. Was schulden die einen den anderen, und warum?

1. Solidarität

Die allgegenwärtige Aufforderung an die Risikoarmen, aus Solidarität (Fürsorge, Rettung) mit den Gefährdeten zuhause zu bleiben, ist menschlich gut gemeint, normativ aber irreführend. So wie Solidarität zu den höchsten moralischen Tugenden zählt, so unscharf sind ihr Gehalt und Ausmaß. Ohnehin davon bedroht, als Vokabel des virtue signalling zur Plattitüde zu verkommen, wird sie dieser Tage zu einer normativen Zauberformel, die alles zu rechtfertigen vermag – und bei näherer Hinsicht natürlich nicht viel. Weitgehend bleibt unklar, worin Solidarität in der gegenwärtigen Situation besteht, was sie begründet und wozu sie wen verpflichtet. Der gemeinsame Kern unterschiedlicher Begriffsverständnisse dürfte ungefähr hierin liegen: Jemand anderem, meist schwächeren, in einer ungünstigen Lage aufgrund eines besonderen Gemeinsamkeitsverhältnisse beizustehen, und zwar ohne dass dazu ein Anspruch besteht. Solidarität ist superegoratorisch. Wer solidarisch handelt, tut dies aus Einsicht in die Sache, aus Anteilnahe oder auch strategischem Interesse – aber nicht aus Pflicht. Solidarität folgt nicht der „Logik“ des Vertrages. Gerade daraus erwächst ihre hohe moralische Kraft, und deswegen schwingt bei rechtlichen Solidarpflichten stets eine contradicito in adiecto mit (Das Recht mag den Begriff anders definieren, muss dann aber auch dessen normative Kraft anderswoher beziehen. Mit der Semantik der Freiwilligkeit geht das nicht).

Kritisiert werden soll nicht ihr Gebrauch als rhetorische Figur (etwa in der Fernsehansprache der Bundeskanzlerin), sondern ihre Übernahme als normative Figur und das dadurch vermittelte Bild der Verhältnisse: Die Risikoarmen würden solidarisch einen Verzicht erbringen, worüber man ihnen wohl zu Dank verpflichtet sei und was jedenfalls nicht unbegrenzt andauern könnte – Solidarität habe eben Grenzen. Diese Sicht mag bei einer Naturkatastrophe, die von außen gleichzeitig über alle hereinbricht, treffend sein. Bei Sars-CoV2 handelt es sich aber um eine „Naturkatastrophe in Zeitlupe“ (Drosten), die durch menschliche Körper verläuft und durch menschliches Verhalten verändert werden kann. Jede Neuinfektion ist die Ansteckung eines Menschen durch einen anderen, und zwischen diesen bestehen – anders als zu Erdbeben – Rechtsbeziehungen.

2. Der eigene Körper als Gefahrenquelle

Grundsätzlich gilt die Pflicht eines jeden, andere nicht zu verletzten, und zwar auch hinsichtlich von Gefahren, die vom eigenen Körper ausgehen und unabhängig davon, ob man diesen freiwillig oder zurechenbar zu einer Gefahrenquelle gemacht hat. Auch gilt sie unabhängig davon, ob man vorsätzlich, fahrlässig oder gänzlich schuldlos handelt (oder gar nicht handelt, sondern niest). Diese „subjektiven“ Elemente betreffen die Strafbarkeit, um die es hier nicht geht. Die Verletzung der Gesundheit eines anderen bleibt objektiv ein Übergriff auf dessen Freiheitssphäre, sie steht im Verhältnis zum anderen nicht zu. Wie bei anderen Infektionskrankheiten wie HIV sind Ansteckungen mit dem Cov-Sars2-Virus sind daher zu unterlassen und ggf. durch Maßnahmen wie Mundschutz oder Quarantäne zu verhindern. Dies gilt nicht nur (aber erst recht) für die Ansteckung von Gefährdeten, und nicht bloß als Gebot der Solidarität. Vielmehr gibt es keine rechtliche Freiheit, Teil einer andere treffenden Infektionskette zu sein. Infizierte haben die Verpflichtung, die Kette zu beenden. Daraus folgt, dass sich jedenfalls im Grundsatz nicht die Gefährdeten aus der Öffentlichkeit in Haus oder Heim zurückzuziehen haben, sondern die Gefährder. Besuchen die Jungen die Alten nicht mehr, mögen sie das psychologisch aus Fürsorge tun, rechtlich erfüllen sie damit häufig ihre Nichtschädigungspflicht (sie gilt zunächst für Infektiöse, unter diesen Umständen aber vielleicht auch darüber hinaus, dazu sogleich).

Potentielle Opfer müssen keine Ansteckungen dulden und können sich gegen drohende wehren – auch im öffentlichen Raum (Gedanke des Defensivnotstandes). Niemand muss bei der „Durchseuchung“ zur Herstellung einer „Herdenimmunität“ mitwirken. Es gibt also auch keine Pflicht, Teil einer Infektionskette zu sein. Zwar können Betroffene in eigene Verletzungen durch Viren einwilligen, doch wenn dadurch eine Kausalkette in Gang gesetzt wird, die alsbald und ohne weitere Handlungen nicht-Einwilligende trifft, lässt sich bereits die Erstansteckung als unzulässige Schaffung einer nicht abschirmbaren Gefahr erachten.

3. Epistemische Sondersituation

Die gegenwärtige Situation ist zudem von epistemischen Besonderheiten geprägt: Viele Menschen wissen nicht, ob sie infiziert oder infektiös sind, und können es auch nicht. So mussten viele symptomatische Personen in den vergangenen Wochen die Erfahrung machen, aufgrund enger Kriterien nicht getestet zu werden. Andersherum scheinen asymptomatisch Infizierte dies nicht zu bemerken. Da Ansteckungen im täglichen Leben unbemerkt und überall stattfinden können, vermag im Grunde niemand, der sich nicht aus der Öffentlichkeit zurückziehen kann, mehr einzuschätzen, ob er infiziert ist oder nicht. Diese epistemische Ungewissheit führt zu psychischen Unsicherheiten sowie der faktischen Unerfüllbarkeit des Gebots, andere nicht zu verletzten. (Die Ansicht, die große Zahl negativer Tests zeige, dass vielfach „die Falschen“ getestet würden, verkennt neben berechtigter Selbstsorge den Umstand, dass die Kenntnis der eigenen Pflichten gegen andere ein geradezu gesellschaftskonstitutives Gut ist, zu der auch negative Ergebnisse beitragen, auch wenn sie gegenüber akutmedizinischer Diagnostik nachrangig ist). 

4. Staatliche Gefahrenabwehr gegen Nichtstörer

In dieser Unübersichtlichkeit muss der Staat unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit Verletzungen durch Ansteckungen unterbinden. Während deren Gesamtzahl rasant und exponentiell wächst, sind kaum Anhaltspunkte zur Identifikation von Infektiösen vorhanden. Wenn der Staat seine Rolle als Garant der Freiheitssphären ausüben soll, müssen ihm weitreichende Befugnisse für Maßnahmen zur Verbesserung der epistemischen Lage, „Gefahrerkundungseingriffe“, zukommen. Dazu zählen auch Testungen oder Beobachtungen.

Dass in dieser epistemischen Sondersituation Handydaten sakrosankt sein sollen, drängt sich nicht auf. Sie sind bei Bewegungen im öffentlichen Raum unter Umständen das einzige Mittel zur Identifizierung anderer Infizierter. Zugleich könnte das digital contract tracing im Konzert mit anderen Maßnahmen und unter Ausnutzung technischer Möglichkeiten zum Datenschutz das in toto mildere Mittel etwa gegenüber einem Lockdown darstellen (siehe Südkorea und diesen Beitrag in Science).  Jedenfalls ansteckende Personen dürften kaum behaupten können, dass ihre (durch Bewegungsdaten nicht im Kern angegriffene) Privatheit gegenüber der Vermeidung der objektiv rechtswidrigen Ansteckung anderer durch sie überwiegt. Das nähme die eigene Pflicht, andere nicht zu verletzen, nicht ernst.

Bezüglich weiterer Maßnahmen zur Gefahrenabwehr ist auch rechtsprinzipiell zwischen Gefährdern bzw. Störern (Infektiösen) und Nichtstörern (nicht-Infektiösen) zu unterscheiden. Während verhältnismäßige Maßnahmen gegen erstere zur Verhinderung weiterer Ansteckungen gerechtfertigt sind, lassen sich Einschränkungen der Freiheit letzterer so nicht begründen. Das Vorgehen gegen sie ist „objektiv“ nicht geboten, weil es unter den gegebenen Umständen nicht erforderlich wäre, da sie keine echte Gefahr darstellen. Nur sind diese Umstände aufgrund der epistemischen Einschränkungen nicht erkennbar: Niemand ist derzeit in der Lage anzugeben, welche Individuen zu welcher Gruppe gehören, nicht einmal sie selbst. Zudem wechseln sie ihre Rollen: Befinden sich momentan noch die Nichtstörer in der Mehrheit, würde sich dies bei ungehinderter Ausbreitung durch Infizierung von 50-70% der Bevölkerung rasch ändern. Und auch wenn weiter zu differenzieren wäre zwischen infektiösen und nicht-infektiösen Personen, lässt sich folgendes sagen: Im Laufe der kommenden Wochen verschieben sich sowohl die Mengenverhältnisse zwischen den beiden Gruppen als auch die zu ihnen zählenden Individuen. In dieser Gemengelage dürfte man wohl alle dieser 50-70% als Störer behandeln (was das Infektionsschutzgesetz über die Kategorie des „Ansteckungsverdächtigen“ auch grob tut). Angesichts der hohen zeitlichen und epidemiologischen Dynamiken und den begrenzten Möglichkeiten zur post-infektiösen Gefahrbeherrschung verschwimmt die ohnehin brüchige Linie zwischen Nichtschädigung und bloßer Gefährdung. Daher dürfte man schon heute Maßnahmen wie einen Lockdown gegen die gesamte Gruppe als direkte Durchsetzung des Nichtschadensgebot rechtfertigen können.

Als echte Nichtstörer verbleiben die 30-50% der Bevölkerung, die beim kontrafaktischen, ungehinderten Fortgang ohne Lockdown andere nicht anstecken würden. Doch auch ihre Pflichten zur Duldung der derzeitigen Maßnahmen folgen, ebensowenig wie andere polizeirechtliche Pflichten, aus einem Gedanken der Solidarität, sondern aus der in einem Rechtstaat zu einem gewissen Teil inhärenten Notwendigkeit, Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des rechtlich verfassten Allgemeinwesens und dem Schutz anderer zu ertragen. Hinsichtlich der verständlichen Besorgnis über die gegenwärtige Expansion, ja Explosion des Gefahrenabwehrrechts ist zu bedenken: Das freiheitliche Bild, aus der sich liberale Kritiken entwickeln lassen, beruht auf faktischen Präsuppositionen. Es setzt den freiverantwortlichen Bürger voraus, dessen Verhalten durch Gründe und Normen steuerbar ist. Von dieser Voraussetzung ist trotz aller legal fictions in diesem Bereich jedenfalls dann nicht auszugehen, wenn Verletzungen nicht zu verhindern sind, weil es an Kenntnis der Gefahren sowie Möglichkeiten zu ihrer Abschirmung fehlt. In dem Maße, in dem es einer normtreu motivierten Bevölkerung nicht gelingt, massenhafte Verletzungen zu verhindern, geraten liberale Steuerungsmodelle an ihre Grenzen. Daher lassen unter den besonderen Prämissen der Pandemie auch freiheitlich orientierte Modelle weitreichende Eingriffe zum Schutz anderer zu. Gleichwohl verbleiben auf zweiter Ebene nicht kompensierbare Freiheitseinschränkungen von den 30-50% Nichtstörern, die auch ohne Lockdown keine weiteren Personen angesteckt hätten.

5. Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems 

Mit Blick auf sie sei jedoch kurz die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems erwähnt. Maßnahmen zum flattening the curve lassen sich auch mit Verweis auf dessen Schutz rechtfertigen, jedenfalls gegenüber allen, die daraus selbst Leistungen beziehen möchten (wozu der Großteil der Nichtstörer zählen dürfte). Wer Leistungen beanspruchen möchte, muss die Leistungsfähigkeit erhalten wollen, anderes wäre selbstwidersprüchlich. Handelt es sich hierbei um eine Form der Solidarität? Zwar wird das System der Gesetzlichen Krankenkassen häufig als Solidarsystem bezeichnet, aber im Kern geht es hier nicht um einen supererogatorischen Schutz von anderen, sondern um den Erhalt der Bedingungen, um die für sich selber gewünschte Leistung in Anspruch nehmen zu können. Entsprechender Verzicht ist mehr logisch notwendige Vertragsbedingung anstatt eines Akts der Solidarität, jedenfalls in einem starken Sinn.

6. Konsequenzen

Nach alledem lassen sich die derzeitigen Maßnahmen zur Verflachung der Kurve weitgehend und gegenüber den meisten Betroffenen durch das Nichtschadensgebot sowie den Erhalt der Leistungsfähigkeit der Gesundheitssystems rechtfertigen, wenngleich sich über Erforderlichkeit bestimmter Maßnahmen und das Augenmaß bei ihrer polizeilichen Durchsetzung gewiss streiten lässt. Der entscheidende rechtstheoretische Punkt ist, dass es für ihre Rechtfertigung keines Rückgriffs auf die Solidarität bedarf. Ein echter Akt (überobligatorischer) Solidarität wäre es etwa, sich zum Zwecke der Herdenimmunität freiwillig anzustecken. Ansonsten ist das, was ihr am nächsten kommt – weil sie unter idealen epistemischen Bedingungen überobligatorisch wären –, das Ertragen der Einschränkungen von Nichtstörern. Welche Individuen zu dieser Gruppe gehören, lässt sich kontrafaktisch nicht bestimmen. Doch vermutlich sind es vor allem die Mitglieder von Risikogruppen, die aus Selbstsorge Infektionsrisiken reduzieren, gerade weil sie sich auf den Schutz der Norm nicht mehr verlassen können. Für sie ist social distancing dann self-protection, ohne staatliche Maßnahmen würden sie sich als erste aus der Öffentlichkeit zurückziehen und andere weniger gefährden. Auch wenn einige herzzerreißende Geschichten aus Pflegeheimen anderes nahelegen, dürften die meisten Risikopatienten besondere Vorsicht vor Ansteckung und Weitergabe walten lassen; viele taten das bereits vor dem Lockdown und trauen sich derzeit kaum aus dem Haus. Hingegen dürften die Risikoarmen weniger Rücksichtsmaßnahmen treffen und andere eher anstecken. Nicht ihnen gilt daher Dank, sondern ersteren. Doch gerade sie werden in der gegenwärtigen Debatte eher als Last wahrgenommen.

Die Verschiebung der Perspektive von Solidarität zum Nichtschadensgebot ist auch in anderer Hinsicht nicht nur Nuance. Letzteres erlaubt intensivere Eingriffe in Grundrechte. Vor allem wäre bei künftigen Maßnahmen nach allgemeinen Prinzipien vorrangig gegen Störer vorzugehen. Die derzeit erörterten Maßnahmen zur Isolation von Risikogruppen weisen jedoch in die gegensätzliche Richtung – sie richten sich gegen die Gefährdeten, nicht die Gefährder (auch wenn beiden Gruppen Überschneidungen haben). Dieser Gedanke findet sich auch in der Rechtsprechung des BVerwG, nach der „vorrangige Adressaten“ staatlicher Maßnahmen gem. § 28 I IfSG eben Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächige und Ausscheider sind (NJW 2012, 2823, 2826). Als Konsequenz sollten Maßnahmen, die sich primär gegen Gefährder richten wie das contact tracing, auch durch Handydaten, Vorrang haben. Nun können Rechtsprinzipien die anstehenden politischen Entscheidungen nicht vorgeben. Der Virus diktiert derzeit nicht nur die Timeline (Fauci), sondern auch die zu ergreifenden Maßnahmen. Gleichwohl sind Unterschiede zwischen dem epistemologisch Gebotenen und dem normativ Richtigen deutlich zu markieren und etwa bei Auswahl zwischen Optionen zu berücksichtigen. Vor allem aber kann und sollten diese Unterschiede das gegenwärtige Narrativ verändern. Es macht einen Unterschied, ob man gegenüber andere nicht-gefährdenden Risikogruppen erklärt, dass man ihnen eigentlich mehr als objektiv erforderlich zumute, aber aufgrund der Umstände leider nicht anders könne, oder dass die Grenzen der Solidarität mit ihnen erreicht seien, weswegen man ihnen weder weiteres schulde, noch anders handeln müsse.

Dies wirkt sich auch auf die anstehenden Abwägungen mit anderen Belangen aus. Die Grenzen der Solidarität dürften angesichts massiver Auswirkungen auf andere Lebensbereich bald erreicht sein, nicht aber zugleich die des Nichtschadensgebots, die deutlich weiter sind und der Rechtfertigung bedürfen. Warum und wodurch findet es Grenzen? Der Ethikrat verweist hier auf „erlaubte Risiken“ und weicht der Gretchenfrage damit aus. Im Klartext bedeutet dies nichts anderes als den insbesondere Risikogruppen zukommenden Schutz zur Förderung anderer Interessen herunterzufahren, mithin „Risiken mit Todesfolge“ zu erlauben. Möglicherweise sind solche harten Entscheidungen notwendig, doch dann muss man darlegen, wie etwa wirtschaftliche Interessen mit dem Rechtsgut des Lebens auszutarieren sind. Wie viele Arbeitsplätze, um es zuzuspitzen, erlauben welches Todesrisiko gegenüber wie vielen Betroffenen? Diese Fragen sind vertrackter als jene der medizinischen Triage, denn die Verteilung von Beatmungsplätzen betrifft immerhin dieselben Rechtsgüter auf allen Seiten. Verständlicherweise verstecken sich Politiker bei solchen harten Abwägungen hinter faktischen Unwägbarkeiten und dem Schleier aus Prognosen, Ermessen und der Expertise anderer. Doch Rechts- und Politikwissenschaft müssen hier Orientierungspunkte anbieten. Dazu bedarf das hier skizzierte freiheitliche Modell aufgrund seiner Unzulänglichkeiten mit dem Kollektiven der Erweiterung durch Gedanken zur politisch gerechten Verteilung von gesundheitlichen, wirtschaftlichen und epistemischen Risiken. Dennoch hilft seine Perspektive, die Natur der Maßnahmen analytisch klar zu erkennen und richtig zu benennen. Letzteres erfordert die Abkehr von den derzeitigen talking points, nach der Gesundheit stets vorgehe und man einander Solidarität schulde. Gerade die Idee von Freiheitseinschränkungen aufgrund von Solidarität atmet einen überzogen individualistischen Geist, da sie erst dort greifen kann, wo die Pflicht, andere nicht zu verletzten, nicht besteht. Jedenfalls hätte es einen zynischen Beigeschmack, Gefährdungen von Risikogruppen mit Todesfolgen durch den Verweis auf Solidarität und ihre impliziten Grenzen zu rechtfertigen. Damit verlöre man auch jeden Begriff von Solidarität.


Christoph Bublitz ist Rechtswissenschaftler an der Universität Hamburg und forscht zu Themen an der Schnittstelle von Normwissenschaften und Psychologie.

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