Generationengerechtigkeit braucht individuelle Freiheit
Von Charlotte Unruh (München)
Mit Generationengerechtigkeit lassen sich im Moment viele politische Ziele begründen. Emilia Fester, die jüngste Abgeordnete im Bundestag, zeigte sich enttäuscht nach der Ablehnung der Impfpflicht im Bundestag. In der Debatte zur Impfpflicht hatte sie vor einigen Wochen zum Impfen für die Freiheit junger Generationen aufgerufen, sinngemäß: wer sich impfen lasse, stelle sicher, dass Kinder und Jugendliche frei von Maßnahmen durch den nächsten Herbst und Winter kommen. Freiheit: das klingt richtig und wichtig.
Generationengerechtigkeit bedeutet, nachfolgenden Generationen ihren gerechten Anteil zu hinterlassen, an natürlichen, aber auch an sozialen und kulturellen Ressourcen. Der Wert der Nachhaltigkeit in Politik und Gesellschaft bringt das zum Ausdruck. Die Interessen junger und zukünftiger Generationen sollen bei heutigen Entscheidungen, die Auswirkungen auf die Zukunft haben, berücksichtigt werden.
Richtig ist: individuelle Freiheit ist viel wert. Die Freiheit, sein normales Leben zu leben, ist zunächst einmal bedingungslos. Junge Menschen dürfen sich mit Freunden treffen, ins Kino gehen, reisen. Diese Freiheit wurde in den letzten Jahren massiv eingeschränkt, um das Infektionsgeschehen einzudämmen und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Auch eine Impfpflicht wäre eine Einschränkung individueller Freiheit, ein Eingriff des Staates in die eigene Sphäre der Bürger.
Wichtig ist: gerade weil die individuelle Freiheit so viel wert ist, darf der Staat sie nicht ohne Weiteres einschränken. Wer es Menschen untersagt oder erschwert, ihr Leben zu leben, etwa Freunde zu treffen, der muss dafür gute Gründe vorweisen. Er muss zum Beispiel nachweisen können, dass eine Person mit diesen Handlungen anderen mit hoher Wahrscheinlichkeit direkt schadet. Die individuelle Freiheit ist der Normalzustand, und ihre Einschränkung muss begründet werden, nicht andersherum.
In den letzten Jahren hat aber scheinbar eine Beweislastumkehr stattgefunden: heute sind es die einzelnen Bürger, die nachweisen müssen, dass sie ungefährlich sind. Eine weitreichende Infrastruktur der Überwachung und Ausgrenzung, von digitalen Impfnachweisen bis zu Quarantänekontrollen, vor wenigen Jahren noch undenkbar, wird heute so begründet. Diese Umkehrung des gesellschaftlichen Konsenses gefährdet aber die Freiheit junger und zukünftiger Generationen, statt sie zu schützen.
Das Verschieben der roten Linien für die Einschränkung individueller Freiheit könnte sich als Bärendienst an jungen und zukünftigen Generationen erweisen. Zum einen bietet es ein nicht unwesentliches Missbrauchspotenzial. Denn wer definiert, wann eine Einschränkung von Freiheiten gerechtfertigt ist, und für welches Ziel? Warum nicht Rauchen verbieten, um die Krankenhäuser zu entlasten? Wieso nicht Autofahren untersagen, um das Klima schützen? Weshalb nicht zur Organspende verpflichten, um Leben zu retten? Etwas zugespitzt: wenn die Einschränkung von Grundrechten nicht mehr ultima ratio ist, sondern akzeptable Verhandlungsmasse im Diskurs über das Gemeinwohl, dann untergräbt das die Demokratie.
Mehr noch: wenn Freiheitseinschränkungen mit dem Verweis auf das Wohl der Mehrheit begründet werden, stellt sich die Frage, wieso wir davon ausgehen sollten, dass dieses „Wohl der Mehrheit“ in der Praxis auch das Wohl kommender Generationen ist. Wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie zu kurz gekommen sind. Die einschneidenden Maßnahmen haben junge Menschen mit am härtesten getroffen und ihnen gleichzeitig am wenigsten genutzt. Freiheitseinschränkungen für das Gemeinwohl bedeutet also nicht automatisch für das Wohl der nachfolgenden Generationen. Junge Menschen sind politisch unterrepräsentiert, zukünftige Generationen können ihre Interessen nicht selbst vertreten. Wenn in Zukunft Freiheitseinschränkungen nötig werden, wer stellt sicher, dass diese einem nachhaltigen, generationengerechten Ziel dienen? Und wer stellt sicher, dass sie nicht die Freiheit junger Menschen unverhältnismäßig betreffen? Nach den Erfahrungen der letzten Jahre haben wir Grund, den tatsächlichen Nutzen von Maßnahmen für kommende Generationen kritisch zu hinterfragen.
Es ist wichtig, vielleicht wichtiger als je zuvor, die Interessen junger und zukünftiger Generationen im politischen Handeln zu berücksichtigen. Was das genau bedeutet, darüber gehen die Meinungen auseinander. Mehr Wirtschaftswachstum, mehr Umweltschutz, oder geht beides: über solche Fragen und viele andere müssen wir weiter diskutieren. Was wir aber nicht tun sollten, ist, uns an Einschränkungen individueller Freiheit zu gewöhnen oder sie zu fordern. Es ist im Interesse junger und zukünftiger Generationen, die roten Linien staatlichen Handelns neu zu ziehen, um Missbrauch vorzubeugen, eine Gewöhnung an Einschränkungen zu verhindern und die Wichtigkeit der Grundrechte zu betonen. Im Gegensatz zu einer allgemeinen Corona-Impfpflicht könnte das dazu beitragen, die Freiheit nachkommender Generationen zu schützen.
Charlotte Unruh ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der School of Social Sciences and Technology der TU München. Sie engagiert sich auch ehrenamtlich für Generationengerechtigkeit.