Ich zähle, also bin ich? – Über die Probleme der Corona-Politik das Ungezählte und Unzählbare angemessen zu erfassen
Von Björn Engelmann (Erlangen-Nürnberg)
Es scheint mir, politische Institutionen im Allgemeinen und die aktuelle deutsche Corona-Politik von Bund und Ländern im Besonderen haben ein Problem damit, diejenigen Aspekte der Pandemiebekämpfung angemessen zu berücksichtigen und zu würdigen, die sich nicht leicht in Zahlen fassen lassen oder die sich gar gänzlich der Welt der Zahlen entziehen.
Virologen*(m/w/d) und politisch Verantwortliche (m/w/d)[1] agieren in der Corona-Krise vor dem Hintergrund einer wahren Flut an Zahlen und Daten, die uns täglich in den Medien präsentiert und referiert werden: Neuinfektionen, Inzidenzwerte, Todeszahlen, Reproduktionsfaktoren, Intensivbettenkapazitäten, Staatshilfen, Nachtraghaushalte, Summen der Neuverschuldung und vieles mehr. Doch ist diese aufwendige Akkumulierung von Gesundheitsdaten und wirtschaftlichen und haushaltspolitischen Kennzahlen bereits ausreichend, um alle Aspekte angemessen zu erfassen, die eine verantwortungsvolle Corona-Politik berücksichtigen sollte? Die Antwort darauf lautet natürlich „nein“ und es gibt ja durchaus auch andere Studien und Evaluationen, die sich mit den psychosozialen Folgen der Corona-Krise und den Auswirkungen der Corona-Maßnahmen des Staates auf immaterielle Güter wie psychische Gesundheit, schulische Bildung und das zwischenmenschliche Zusammenleben befassen[2] und die mitunter auch von der Politik unterstützt werden. Indes es fällt auf: Hier werden zwar teilweise auch Zahlen und Daten erhoben, jedoch längst nicht so lückenlos und flächendeckend, wie dies bei den eingangs genannten Kennzahlen geschieht, die meist für ganz Deutschland auf Punkt und Komma genau berechnet und evaluiert werden. Und: die Zahl der Studien, die sich dezidiert mit den psychosozialen Auswirkungen der Corona-Pandemie in Deutschland befassen, erreicht bei weitem nicht die Zahl der deutschen virologischen Studien und Untersuchungen. Die ethische, politische soziale und juristische Frage, die sich an diesem Punkt stellt ist aber, ob es eben nicht erforderlich wäre, auch die genannten psychosozialen und psychischen Auswirkungen der staatlichen Corona-Politik von Bund und Ländern genauer und umfassender zu erfassen. Ich will dies nun exemplarisch am Beispiel zweier ethischer Theorien und am Beispiel der Jurisprudenz näher erörtern.
(1) Aus der Sicht konsequentialistischer Ethiken, insbesondere des herkömmlichen Handlungsutilitarismus, der menschliches Handeln (also auch die von Seiten des Staates ergriffenen Corona-Maßnahmen) allein nach der Nützlichkeit der Handlungsfolgen, vereinfacht ausgedrückt also nach der durch sie herbeigeführten „Lust“ oder „Unlust“ beurteilt, scheint es in der Tat zwingend geboten zu sein, hier eine umfassende. möglichst exakte Evaluierung vorzunehmen. Den immateriellen Auswirkungen von Corona-Maßnahmen wie verpassten Bildungschancen, dem ausgedünnten Kulturbetrieb und entfallenen zwischenmenschlichen Kontakten müsste demnach ein Wert an „Unlust“ zugewiesen werden, um sie ethisch angemessen erfassen zu können. So könnte man etwa verpasste Bildungschancen zunächst in ausgefallenen Schulstunden, kulturellen Kahlschlag in der Zahl abgesagter Veranstaltungen und zwischenmenschliche Kontakte in der Zahl entgangener Treffen bemessen und dann entsprechend evaluieren (dass eine genaue Bemessung hier faktisch mitunter sehr schwer möglich und noch schwieriger zu den positiven Folgen des Gesundheitsschutzes in Beziehung zu setzen ist, ist ein allgemeines Grundproblem des Utilitarismus, auf das an dieser Stelle aber nicht näher eingegangen werden soll).
(2) Vom Standpunkt deontologischer Ethiken her betrachtet ist die moralische Richtigkeit von Corona-Maßnahmen nicht alleine nach den durch sie hervorgerufenen Handlungsfolgen, sondern nach zusätzlichen Wertungskriterien zu beurteilen. Die einflussreichsten Denktraditionen stellen hier darauf ab, inwieweit durch menschliches Verhalten (Tun oder Unterlassen) in moralische Ansprüche und Rechte eingegriffen wird bzw. inwieweit Handlungsweisen mit der Würde der Person vereinbar sind. Vor dem Hintergrund eines solchen ethischen Modells ist zwar keine exakte zahlenmäßige Bezifferung erforderlich, wohl aber eine möglichst genaue Evaluierung nach Art und Umfang der durch die Pandemiebekämpfung hervorgerufenen psychosozialen Folgen. Dies gilt umso mehr für deontologische Ethiken, die wie Kants Menschenwürdekonzept die Unverletzlichkeit der Würde jedes einzelnen Individuums in den Mittepunkt stellen. Denn nur, was der Staat dezidiert wahrnimmt und erfasst, kann er auch in seine ethische Bewertung mit einstellen. Etwas anderes würde nur gelten, wenn sich (bestimmte) psychosoziale Folgen der Corona-Maßnahmen gar nicht als berücksichtigenswerte moralische Ansprüche und Rechte formulieren ließen. Dies scheint mir indes nicht der Fall zu sein, denn moralische Ansprüche auf Bildung, menschliche Nähe und sozialen Kontakt sind allgemein anerkannt, sodass etwa auch der abgesagten Geburtstagsfeier einer Freundin oder dem ausgefallenen Stammtisch ein moralisch fassbarer Wert zukommt.
(3) Ganz ähnlich wie eine deontologische Ethik sieht es naturgemäß die Jurisprudenz, die ebenfalls im Kern auf die Ansprüche und Rechte der von staatlichen Maßnahmen betroffenen Personen abstellt, nur, dass es nun eben nicht um moralische, sondern um juristische Ansprüche und Rechte geht. Eine Infektionsschutzmaßnahme ist aus juristischer Sicht nur dann verfassungsrechtlich zulässig, wenn sie zur Erreichung legitimer Zwecke geeignet und erforderlich ist und der durch sie verfolgte Zweck (hier Gesundheitsschutz) in einem angemessenen Verhältnis zu dem durch die Maßnahme hervorgerufenen negativen Auswirkungen auf andere Güter von Verfassungsrang – insbesondere Grundrechten – steht.[3] Psychosoziale Folgen von Corona-Maßnahmen stellen dabei wohl stets einen Eingriff in Grundrechte dar. So greift etwa die Absage einer Kulturveranstaltung in die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) der beteiligten Künstler oder sonstigen Kulturschaffenden und in die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) des (potentiellen) Publikums ein und selbst ein wegen der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen entfallener gemeinsamer Ausflug betrifft noch das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (wiederum Art. 2 Abs. 1 GG). Bei Alltagshandlungen, wie dem entfallenen gemeinsamen Ausflug oder Fitnesstraining und sonstigen Treffen ließe sich allenfalls argumentieren, dass derart „banale“ Handlungen ganz offensichtlich hinter den Schutz des Lebens und der Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) von (potentiellen) COVID-19-Patienten zurücktreten und daher nicht genauer evaluiert werden müssen. Eine solche Argumentation stößt allerdings bereits dann an ihre Grenzen, wenn man solche vermeintlich „banalen“ Tätigkeiten wie „Spazierengehen“, „Sport“ und „Feiern“ in den größeren Kontext von freier Bewegung und drohender geistiger und sozialer Vereinsamung stellt.
Es bleibt somit der Befund, dass sämtliche psychosozialen Folgen der staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung es trotz der Tatsache, dass sie sich oft schwerer oder mitunter gar nicht in Zahlen ausdrücken lassen, verdient hätten in gleichberechtigter und wahrnehmbarer Art und Weise, also ebenso transparent, sorgfältig, ausführlich und flächendeckend in die Entscheidungsfindung über die Corona-Politik des Staates Eingang zu finden, wie die eingangs genannten virologischen und wirtschaftlichen Kennzahlen. Sicher stößt dies in manchen Fällen an faktische Grenzen, da der Staat weder die Kapazitäten noch (zum Glück) die Befugnis hat, die Sozialkontakte seiner Bürger umfassend auszuleuchten. Doch auch dort, wo solche Grenzen der Machbarkeit nicht bestehen – z. B. bei der Zahl entfallener Schulstunden – fehlt es an einer flächendeckenden Erfassung und an der Herstellung diesbezüglicher Transparenz. Aus ethischer und juristischer Sicht ist nach all dem erforderlich, dass der Staat in seinem Handeln und seiner Kommunikation dem derzeit zumindest oft – und wohl in vielen Fällen auch nicht zu Unrecht – entstehenden Eindruck entgegenwirkt, dass sich seine Krisenpolitik fast ausschließlich an den täglichen Inzidenz- und Todeszahlen und den wirtschaftlichen Folgen seiner Maßnahmen (und vielleicht noch an Fragen der Schulpolitik) orientiert. Dies gilt umso mehr, als derzeit immer drastischere und pauschalere Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung wie generelle nächtliche Ausgangssperren ergriffen werden. Es gilt sicherzustellen, dass die psychosozialen Folgen staatlicher Maßnahmen aus Sicht der handelnden Politik eben mehr sind als eine – zwar höchst unerwünschte – aber am Ende doch stets in Kauf zu nehmende Nebenfolge alternativloser epidemiologischer Maßnahmen. Zu fordern ist ein verantwortungsvoller und empathischer Umgang mit dieser „unsichtbaren Welle“ der Pandemie, die aus ethischer und juristischer Sicht in genau der gleichen Intensität wie die tragischen täglichen Zahlen an infizierten, intensivmedizinisch behandelten und verstorbenen Menschen wahrgenommen und öffentlich erörtert zu werden verdient. Eine Welle an Vereinsamung, Enttäuschung, Frustration und verpassten Lebenschancen, die sich nicht für Jeden wahrnehmbar in Zahlen artikuliert, aber die doch so viel zählt.
Zum Autor:
Björn Engelmann ist Volljurist und hat Jura, Philosophie und Politikwissenschaft studiert. Er ist Doktorand am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg.
Kontakt: Twitter: @Engels_Post
Seine weiteren Veröffentlichungen zum Thema Corona:
– Es lebe der Diskurs! Die Rolle der Juristen in der Corona-Krise, JuWissBlog Nr. 57/2020 v. 15.04.2020, https://www.juwiss.de/57-2020/.
– „The Masked Bürger“ – Die Exitstrategie des Staates und die Schutzmaskenpflicht (Teil 1): Die Verhältnismäßigkeit der verlängerten Maßnahmen im Lichte einer alternativen Schutzmaskenpflicht, JuWissBlog Nr. 63/2020 v. 23.04.2020, https://www.juwiss.de/63-2020/
– „The Masked Bürger“ – Die Exitstrategie des Staates und die Schutzmaskenpflicht (Teil 2): Schutzmasken und die Schutzpflicht des Staates, JuWissBlog Nr. 66/2020 v. 27.04.2020, https://www.juwiss.de/66-2020/
[1] Allein um der besseren Lesbarkeit willen wird in diesem Beitrag oftmals exemplarisch nur auf ein Geschlecht abgestellt. Stets sind hiermit jedoch sämtliche Geschlechter (m/w/d) gemeint.
[2] Etwa die Stellungnahmen des Deutschen Ethikrats, die Studie der Techniker-Krankenkasse „Corona 2020: Gesundheit, Belastungen, Möglichkeiten“, https://www.tk.de/presse/themen/praevention/gesundheitsstudien/dossier-corona-2095214 oder die vom Bundesministerium für Bildung geförderte SOEP-Cov-Studie, https://www.soep-cov.de/Startseite/ des Sozio-oekonomischen Panels (abgerufen 21.12.20).
[3] Vgl. ausführlich Björn Engelmann, „The Masked Bürger“ – Die Exitstrategie des Staates und die Schutzmaskenpflicht (Teil 1): Die Verhältnismäßigkeit der verlängerten Maßnahmen im Lichte einer alternativen Schutzmaskenpflicht, JuWissBlog Nr. 63/2020 v. 23.04.2020, https://www.juwiss.de/63-2020/ .