Pandemie und ökologische Krise: Ein Reflexionsversuch aus vernunftethischem Blickwinkel
Von Kay Herrmann (Chemnitz)
Wie hält man es während einer Kontaktsperre mit sich selbst aus? Kann ich auf die Wissenschaft vertrauen? Vielleicht doch besser an eine große Verschwörung glauben? Wohin mit meiner Wut, wenn ich zu den großen Verlierern der Krise gehöre? – Eine Krise konfrontiert uns auch mit den großen, grundsätzlichen und existenziellen Fragen. Aber was, wenn es nicht immer eindeutige Antworten gibt? Ethische Dilemmata: Was tun, wenn ein Handeln nicht ohne Schädigung des andern möglich ist?
Nehmen wir das Damoklesschwert einer vielleicht gravierenderen Krise – die ökologische Krise – überhaupt noch wahr? – höchste Zeit, aus der Corona-Krise Lehren zu ziehen.
Corona-Krise und ‚neue Innerlichkeit‘
Die Corona-Krise war zugleich verbunden mit der Zeit eines stärkeren Rückzuges. Damit wird der Fokus zwangsweise auch stärker nach innen gerichtet: die Notwendigkeit, mit sich selbst zurechtkommen zu müssen, den eigenen Tag sinnvoll strukturieren, aber vielleicht auch das Bewusstsein, dass für das eigene Handeln nicht immer äußere Umstände maßgebend sind, sondern auch die eigene Einstellung zu diesen Umständen. Innere Ruhe und Harmonie werden zu wichtigen Voraussetzungen, sich nicht selbst zu blockieren. Seneca schrieb hierzu: „Das höchste Gut ist die Harmonie der Seele mit sich selbst.“ (De vita beata, VIII, 6). In dieser Harmonie liegt ein Gutteil der Kraft, wieder Hoffnung und Optimismus zu schöpfen, um nach der Krise in den Alltag zukehren zu können. Was in Krisenzeiten zählt, sind Perspektiven und Visionen.
Wissenschaft versus Irrationalismus in der Krise
Wenn es in der Krise einen wesentlichen Erfolgsfaktor gab, dann das Vertrauen in die Wissenschaft. Aber Wissenschaft strebt eben nicht nach absoluten Wahrheiten. Wissenschaftliche Aussagen sind grundsätzlich fallibel. Dies bringt es – durch die Komplexität der Situation verstärkt – mit sich, dass unterschiedliche Wissenschaftler, was im Wissenschaftsbetrieb eine Normalsituation ist, durchaus auch gegensätzliche Auffassungen zu einem Thema vertreten können. Zudem wirkt sich verhängnisvoll aus, dass es der Staat selbst ist, der aktuell durch nicht eingehaltene Versprechen, insbesondere gegenüber Selbstständigen, grundsätzlich Menschen gegen sich aufbringt und die Basis bisher schon Unzufriedener und Benachteiligter vergrößert. Diese Faktoren machen empfänglich für Irrationalismus jedweder Art. Es wird nach scheinbar einfachen Lösungen gesucht. Dies ist das Einfallstor für Verschwörungstheoretiker und Rechtspopulisten, die unter Berufung auf die Grundsätze der Demokratie die Demokratie zu unterwandern versuchen, die mit faschistischen Ideologien gegen einen vermeintlichen Faschismus vorgehen, deren ideologische Doktrinen sich der argumentativen Zugänglichkeit entziehen, die ihr Kapital aus dem Schüren von Unzufriedenheit, Unmut, Hass und Intoleranz ziehen und die eben genau diese Situation nutzen, um eigene Machtansprüche durchzusetzen. Zeiten der Krise, der Unsicherheit, der Instabilität, der Desorientierung gehen stets einher mit einer Absage an die Vernunft, mit Irrationalität, mit Fatalismus sowie mit religiösem und politischem Fanatismus.
Wissenschaftliche Objektivität
Umso bedeutsamer werden Argumentation, Erklärung und wissenschaftliche Objektivität. Grete Henry-Hermann (1901 bis 1984), eine Schülerin des Göttinger Philosophen Leonard Nelson (1882 bis 1927, ließ sich vom Gedanken leiten, die Politik einer Kontrolle durch die Wissenschaft zu unterstellen. Dies darf nicht im Sinne eines Wissenschaftsdiktats verstanden werden. Aber die Politik sollte sich an wissenschaftlichen Leitlinien orientieren. Allerdings ist die Objektivität der Wissenschaft nichts Absolutes, wie es Nelson vorschwebte, sondern ist stets an (kritisch zu hinterfragende) Normen rückgebunden. Die Normbezogenheit des Begriffes „Objektivität“ wurde in der Corona-Krise besonders offensichtlich. So berichtete am Vormittag des 23.03.2020 das Robert-Koch-Institut (RKI) für Deutschland 22.672 Fälle einer COVID-19-Infektion und 86 Todesfälle, dagegen vermeldete die Johns-Hopkins-Universität 24.873 Fälle und 94 Tote. Daraus ergibt sich ein Unterschied von etwa 2000 Fällen (Quelle: Aufruf: 6.4.2020). Welche der beiden Angaben kann als objektiv gewertet werden? Ist eine der Zahlenangaben falsch? Keineswegs, nur sind die Normen für die Datenermittlung verschieden. Das RKI berichtet die von allen Ämtern übermittelten Daten. Da diese Daten am Wochenende noch nicht vollständig übermittelt werden, hinkt das RKI hinterher. Dagegen wählt die Johns-Hopkins-Universität einen anderen Weg. Die Mitarbeiter Universität durchsuchen aktiv öffentlich zugängliche Quellen. So z. B. die Internetseiten von Gesundheitsbehörden, die Seiten der WHO, aber auch eine Community von Medizinern, die Medienberichte und Twitteraccounts von Behörden. Die Zahlen der Johns-Hopkins-Universität geben damit quasi in Echtzeit das Lagebild wieder (Quelle: Aufruf: 6.4.2020). Allerdings lässt sich daraus eben nicht schließen, dass die Angaben der Johns-Hopkins-Universität objektiver sind. Eine umfassende Zuverlässigkeitsprüfung ist bei dieser Vorgehensweise nicht möglich, weshalb die Vorgehensweise der Johns-Hopkins-Universität zugleich auch die riskantere ist.
Konnte man aus einem rasanten Anstieg der Zahl der Infizierten schließen, dass sich das Virus objektiv schneller in der Bevölkerung ausgebreitet hat? Keineswegs! Denn als man die Anzahl der Tests erhöhte, stieg natürlich auch die Anzahl der Infizierten. Was man aus den Zahlen nicht ablesen konnte, war die Anzahl aller Menschen, die in Deutschland an Covid-19 erkrankt waren. Durch die Gleichsetzung der Zahl positiv Getesteter mit der Zahl der Infizierten und die Art der Zählweise bei Corona-Toten wurden der Krankheitsverlauf und die Bewertung der Situation erheblich beeinflusst. Aber genau auf diese vermeintlich objektiven Zahlen gründete die Regierung ihre Entscheidungen. Deshalb enthebt der Bezug auf wissenschaftliche Objektivität nicht der Verpflichtung zu einem breiten gesellschaftlichen Konsens.
Abwägungsgrundsatz, ethische Dilemmata und die Krise
So steht im Mittelpunkt von Nelsons Philosophie die vernunftkritische Grundlegung der Ethik, bei der Kants kategorischer Imperativ zum sogenannten Abwägungsgrundsatz weiterentwickelt wird. Demnach dürfen Entscheidungen nicht auf utilitaristischen Erwägungen basieren, bei denen der Einzelne bereits planmäßig (!) dem Nettonutzen der Mehrheit zum Opfer fallen darf. Der Abwägungsgrundsatz fordert, bei all meinen Handlungen die Interessen der von der Handlung betroffenen mit zu berücksichtigen: „Handle nie so, daß du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären.“ [Leonard Nelson (1917): Kritik der praktischen Vernunft (Gesammelte Schriften in neun Bänden, Band IV), Hamburg 1972, S. 133.] Jedoch ist ein ethisches Dilemma nicht vermeidbar: Was tun, wenn ein Handeln nicht ohne Schädigung des andern möglich ist? Ein Beispiel ist die „Planke des KARNEADES“: Bei einem Schiffbruch klammern sich zwei Personen an eine Planke, die nur einen tragen kann, und es entsteht daher die Frage, wer diese Planke für sich allein besitzen soll. Dies wirft die Frage nach einem Kriterium auf, das in dieser Situation eine Entscheidung ermöglicht. Hier entsteht ein erkenntnistheoretisches Problem, das Nelson klar erkannt hat: Angenommen man hätte ein solches Entscheidungskriterium, was verbürgt die Gültigkeit dieses Kriteriums? Hierzu wäre ein weiteres Kriterium nötig, was (wie Nelson im Zusammenhang mit seinem Beweis der Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie gezeigt hat) in einen unendlichen Regress führt. Nelson glaubte sich im Besitz von absolut gültigen Prinzipien. Ein absolutes Kriterium, an das Nelson noch glaubte, ist heute keine ernst zu nehmende Option mehr.
Die Frage nach einem „letzten Grund“ führt in eine Trilemma-Situation, die Karl Popper als Fries’sches Trilemma und Hans Albert als Münchhausen-Trilemma bezeichnet. Für einen Ausweg aus dem Münchhausen-Trilemma stehen nach Hans Albert drei Optionen zur Verfügung:
1) Zirkelschluss (die Conclusio steckt bereits in einer Prämisse),
2) Infiniter Regress (unendliche Begründungsfolge),
3) Abbruch des Verfahrens an einer Stelle (Dogmatisierung).
Die moderne Wissenschaft wählt die dritte Option, indem sie Kriterien festgelegt hat, die aber der Kritik zugänglich sind und gegebenenfalls wieder aufgegeben werden können. In der Tat hat man solche Kriterien in der Corona-Krise letztlich auch festgelegt, nämlich ein bestimmter Wert für die Reproduktionsrate und die Zahl der Neuinfektionen. Eine strittige Situation bleibt: Die Über- oder Unterschreitung eines Indikators entscheidet über die Lockerung der Maßnahmen bzw. über die Fortführung von Kontaktsperren. In beiden Fällen wird eine Erhöhung Mortalität in Kauf genommen: Kommt es nicht zur Lockerung, steigt etwa der Druck auf ältere und pflegebedürftige Menschen, dagegen erhöht eine Lockerung das Infektionsrisiko. Aber es kann nie ein absolut gültiges Kriterium geben. Ein Entscheidungskriterium, ein Indikator kann nur eine Konvention sein. Aber Konventionen sind hinterfragbar, kulturrelativ, anfechtbar und revidierbar.
Lernen aus der Krise: Abwägungsgrundsatz und ökologische Krise
Nelsons Abwägungsgrundsatz lehrt noch einen anderen entscheidenden Punkt, nämlich die von Nelson nie thematisierte Übertragbarkeit des Abwägungsgrundsatzes auf die Interessen künftiger Generationen. Entscheidungen, die wir in der Gegenwart treffen, wirken in die Zukunft, sie beeinflussen das Leben künftiger Generationen. Der Abwägungsgrundsatz lässt mich fragen, ob ich heute in eine Handlungsweise einwilligen kann, wäre ich in Zukunft der von Überschwemmungen und Dürren Betroffene, wäre ich der, dem die Schönheit der Natur entzogen wird, der den schmerzlichen Verlust von Arten zu beklagen hat, die für ihn Lebensgrundlage sind, die seine Ökosysteme stabilisieren.
Wie der Neustart nach der Krise im Hinblick auf den Umwelt- und Klimaschutz gemanagt wird, das stellt vermutlich die eigentliche Herausforderung dar. Gerade die Erfahrung, dass bereits ein Virus ausreicht, das gewohnte Leben der modernen, globalisierten und vernetzten Gesellschaft praktisch zum Erliegen zu bringen, führt uns die Fragilität all der globalen Zusammenhänge, aber eben auch die empfindliche Rückbindung der menschlichen Existenz an die Natur und deren Ressourcen vor Augen. Gerät dieses „fragile Gleichgewicht“ durch Raubbau und fortschreitende Umweltzerstörung aus den Fugen, so lässt sich den dadurch ausgelösten Folgen ganz sicher nicht durch so verhältnismäßig „einfache Maßnahmen“ begegnen wie: Abstandhalten, Schutzmaske verwenden und nach einem geeigneten Impfstoff suchen. Deshalb sollte die Überwindung der Corona-Krise zwingend an die Frage gekoppelt werden, wie man den Interessen der nachfolgenden Generationen gerecht wird. Das Ringen um die Überwindung der Krise ist eben auch eine Chance, Energie-, Rohstoff- und ebenso Bildungskonzepte neu zu überdenken. Und vielleicht sollten wir uns fragen: Ist der weltweite Meeting-Tourismus noch zeitgemäß oder lässt sich vieles nicht per Videokonferenz bewerkstelligen? Was brauchen wir tatsächlich von all dem medialen, technischen, energetischen, materialen, konsummäßigen und logistischen Überfluss?
Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Kay Herrmann: Studium der Physik und Forschungsstudium der Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehramt für die Fächer Physik und Mathematik an Oberschulen beim Sächsischen Landesamt für Schule und Bildung, 2011 Habilitation (Privatdozent, venia legendi) im Fach Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz, seit 2019 Außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz und seit 2020 Fachausbildungsleiter für Physik an der Lehrerausbildungsstätte des Landesamtes für Schule und Bildung in Chemnitz.