Was spricht gegen persönliche Impfspenden?

Von Simone Dietz (Düsseldorf)


Ein Achtzigjähriger, für den die Familie das Wichtigste im Leben und dessen Sorge groß ist, seine Tochter könnte an Covid-19 erkranken und ihre kleinen Kinder ohne Mutter zurücklassen, fragt verzweifelt: Warum darf ich meine Impfung nicht an meine Tochter weitergeben?

Warum sollte ein solches, moralisch durchaus ehrenwertes Anliegen nicht berücksichtigt werden? Verdiente es nicht mindestens die gleiche, wenn nicht sogar stärkere Berücksichtigung als die zulässige Ablehnung des Impfangebots? Ist die Impfung gegen Covid-19, auf die wir als Einwohner dieses Landes in einer staatlich festgelegten Reihenfolge alle ein Anrecht haben, demgemäß nicht ein Gut, über das wir, zumindest unter bestimmten Bedingungen, nach eigenem Ermessen verfügen dürfen? Was spricht dagegen?

Vor allem ist dagegen einzuwenden, dass der Impfstoff, als ein grundsätzlich für jede und jeden wertvolles, aber insgesamt (noch) knappes Gut, aus Gründen der Gerechtigkeit einer staatlichen Verteilung unterliegt und eben nicht den ökonomischen Verteilungsmechanis­men des Marktes. Eine freie individuelle Verfügung über die zugeteilte Impfdosis im Sinne der Weitergabe nach eigenem Ermessen würde Marktmechanismen in Gang und Gerechtigkeitsregeln außer Kraft setzen. Ein ungerechtes Privileg der Reichen, sich Impfstoff von Ärmeren zu hohen Preisen kaufen zu können, wäre die absehbare Folge.

Gegen dieses Argument ließe sich aber das Beispiel der Organspende anführen: auch hier gilt ein Verbot des Tauschhandels über den Markt, eine freiwillige Lebendspende an nahestehende Personen ist jedoch zulässig. Eine ähnliche Regelung könnte auch in Bezug auf die Impfberechtigung gefunden werden. Die Effizienz des Verfahrens allerdings, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Menschen zu impfen, wäre kein unwichtiger technischer Einwand gegen eine solche Regelung. Es wäre aber nicht der einzige Einwand, denn zwischen dem Fall der Organspende und dem der Covid-19-Impfung bestehen relevante Unterschiede. Den Unterschied zwischen Organen als Teil der körperlichen Integrität jedes Menschen und dem als Ware produzierten Impfstoff will ich hier nicht weiterverfolgen. Er würde eine anders gelagerte Begründung des Verbots marktwirtschaftlichen Handels im Fall des Impfstoffs im Vergleich zu Organen erforderlich machen. Doch es gibt Argumente, die bereits im Vorfeld solcher Begründungsfragen gegen die Impfspende an eine nahestehende Person sprechen.

Ein Vergleich der individuellen Gesundheitsrisiken durch die Lebendorganspende mit denen durch Impfverzicht zugunsten anderer scheint zunächst kein eindeutiges Argument gegen die Impfspende zu erbringen. Auch die Lebendorganspende ist für die Spendenden mit gesundheitlichen Risiken verbunden. Zieht man noch die Möglichkeit individueller Schutzmaßnahmen durch Hygiene und Kontaktvermeidung gegen Virusinfektionen in Betracht, müsste das Risiko der Organspender sogar deutlich höher bewertet werden als das der Impfspender. Entscheidend ist jedoch der Unterschied in Hinblick auf die gesellschaftliche Situation einer Pandemie, in der nicht nur der Impfstoff ein (zunächst) knappes Gut darstellt, das für alle von Wert ist und einer gerechten Verteilung unterliegen soll. Auch die Gesundheitsversorgung insgesamt kann in dieser Situation zu einem knappen Gut werden, das nicht mehr für alle, im schlimmsten Fall sogar für niemanden mehr zur Verfügung steht. Der Ankauf und die Verteilung von Impfstoff dient unter Bedingungen der Pandemie nicht nur dem direkten individuellen Gesundheitsschutz der Einwohner, sondern auch der Stabilisierung einer sozialen Situation, in der die bisherige Gesundheitsversorgung gewährleistet bleibt. Auch aus diesem Grund werden besonders gefährdete Personengruppen in der Impfreihenfolge bevorzugt. Die Wahrscheinlichkeit, bei einer Ansteckung mit dem Virus auf medizinische Versorgung angewiesen zu sein, ist nach allen bisherigen Erfahrungen in der Altersgruppe über achtzig und bei Menschen mit gravierenden Vorerkrankungen besonders hoch. Deshalb verdienen sie im Sinne der proportionalen Gerechtigkeit als Individuen besonderen Schutz. Gleichzeitig wird das medizinische Versorgungssystem entlastet, wenn diese besonders gefährdeten Gruppen vor einem schwerwiegenden Krankheitsverlauf geschützt sind. Um auch diesem zweiten Aspekt Rechnung zu tragen, müssten diejenigen, die ihre Impfdosis an eine nahe stehende Person mit statistisch geringerem Infektionsrisiko spenden und so die staatlich gewählte Reihenfolge durchkreuzen, nicht nur auf die ihnen zugeteilte Impfung, sondern auch auf eine medizinische Versorgung im Ansteckungsfall verzichten. Nur so entstünden der Gesellschaft durch die Impfspende keine Nachteile bei der Bewältigung der Pandemie.

Eine Impfspende wäre unter diesen Bedingungen für die Begünstigten mit einer erheblichen moralischen Hypothek belastet: Im Ernstfall müsste die durch eine Impfspende geschützte Tochter ertragen, dass ihr Verzicht leistender Vater am schweren Verlauf einer Covid-19-Infektion ohne die Möglichkeit medizinischer Hilfe stirbt. Eine staatliche Regelung, die derartige Situationen vorhersehbar erzeugt, müsste mindestens eine ausreichende Aufklärung der Betroffenen über die möglichen Folgen der Impfspende gewährleisten.

Die staatliche Forderung, im Tausch gegen die Möglichkeit der Impfspende einen präventiven Verzicht auf medizinische Versorgung zu leisten, ist jedoch nicht nur wegen der vorhersehbaren hohen moralischen und gesundheitlichen Belastungen der unmittelbar Betroffenen hoch problematisch. Für die Gesellschaft insgesamt sprechen sowohl technische als auch ethische Gründe gegen die Möglichkeit der Impfspende. Die technische Umsetzung dieser Regelung würde nicht nur im Vorfeld der Impfungen einen hohen bürokratischen Aufwand erzeugen und die Effektivität des Verfahrens unverhältnismäßig einschränken. Sie würde auch bedeuten, dass vor jeder medizinischen Versorgung von Covid-19 Patienten geprüft werden müsste, ob ein Anspruch auf Versorgung überhaupt noch besteht. Insbesondere in akuten Notfällen hätte ein solches Verfahren negative Folgen auch für diejenigen, die auf ihren Anspruch nicht verzichtet haben, weil wertvolle Zeit verloren ginge. Darüber hinaus würde für das medizinische Personal und die Gesellschaft insgesamt eine moralisch unzumutbare Situation der Unbarmherzigkeit erzeugt, die durch den Verweis auf die Freiwilligkeit der vorherigen Entscheidung der Betroffenen nicht ausgeräumt werden kann. Eine Gesellschaft, in der die akute lebensbedrohliche Hilfsbedürftigkeit hinter einem rechtskräftigen Tauschhandel in der Vergangenheit zurückstehen muss, hat den Kern ihrer Menschlichkeit preisgegeben: das Recht auf bedingungslose Hilfe in Situationen der Not.

Treffen die hier diskutierten Argumente aber nicht ebenso auf den Fall der Impfverweigerung zu? Müssten dieselben Einwände nicht auch gegen diejenigen geltend gemacht werden, die das staatliche Impfangebot ablehnen? Auch sie gefährden mit ihrer freiwilligen Inkaufnahme des Infektionsrisikos in der Pandemie die allgemeine Gesundheitsversorgung durch eine mögliche Überlastung. Insofern müsste auch die bloße Ablehnung der angebotenen Impfung mit der Forderung nach Verzicht auf medizinische Versorgung bei einer Infektion mit Covid-19 verknüpft werden. Aus denselben Gründen wie im Fall der Impfspende wäre die mit einer solchen Forderung erzeugte Situation nicht nur für die direkt Betroffenen hoch problematisch, die kein Recht auf Irrtum und auf Hilfe mehr geltend machen könnten, sie wäre aus den erläuterten Gründen eben auch moralisch unzumutbar für die Gesellschaft insgesamt. Warum folgt aber in diesem Fall kein Verbot der Impfablehnung wie im anderen Fall das Verbot der Impfspende?

Zwar ist die Impfablehnung sowohl mit großen eigenen Risiken als auch Risiken für andere und erheblichen gesellschaftlichen Nachteilen bei der Pandemiebekämpfung verbunden, dennoch sprechen sehr starke Gründe gegen das Verbot einer Impfablehnung, das als Zwangsimpfung eine starke Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts verbunden mit einem Eingriff in die körperliche Integrität bedeuten würde. Das Recht auf Selbstbestimmung und Unversehrtheit, das bei jedem Menschen zu achten ist, darf auch unter Bedingungen der Pandemie nur so weit eingeschränkt werden, wie die gleiche Freiheit bzw. Unversehrtheit anderer auf dem Spiel steht und anders nicht geschützt werden kann. Bei der Impfpflicht für Kinder entstehen mögliche Konflikte nur zwischen fürsorgenden Instanzen – Eltern oder staatliche Instanzen können verschiedene Auffassungen darüber vertreten, was das Beste für die betroffenen Kinder ist. Eine Impfpflicht für Erwachsene hingegen müsste im Konfliktfall die Impfung gegen die bewusste Entscheidung mündiger Personen mit Zwang durchsetzen oder eine Verweigerung mit Sanktionen ahnden. Solange es eine Mehrheit von Freiwilligen gibt, durch deren Impfbereitschaft die Gefahren der Pandemie für alle ausreichend reduziert werden können, ist diese Lösung vorzuziehen. Wenn alle die Möglichkeit haben, sich durch eine freiwillige Impfung vor der Infektion mit Covid-19 ausreichend zu schützen, können Impfverweigerer andere Personen mit ihrer Haltung auch nicht mehr in Gefahr bringen.

Obwohl die individuelle Impfverweigerung eine moralisch parasitäre Haltung darstellt, die im besten Fall vom Infektionsschutz der geimpften Mehrheit profitiert, kann dieser moralische Vorwurf allein den Eingriff in das grundlegende Recht auf Selbstbestimmung und Unversehrtheit nicht rechtfertigen. Die Impfspende als freiwillige Leistung kann dagegen ohne einen solchen Eingriff in grundlegende Rechte aus gesellschaftlichen Erwägungen für unzulässig erklärt werden.


Simone Dietz ist Professorin für Philosophie mit Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Forschungen liegen im Bereich der Ethik, Sozialphilosophie und Politischen Philosophie, insbesondere Ethik digitaler Medien.