Wenn Selbstsorge das Schützen des ganzen Lebens impliziert: denn was kann wertvoller als das Leben sein?
Von Aracely R. Berny (Wien/Mexiko-Stadt)
Der Körper ist zerbrechlich, das Leben ist extrem zerbrechlich, es hängt sprichwörtlich am seidenen Faden. Es ist allgemein bekannt, dass der Oberbegriff „Krebs“, unzählige Missverhältnisse in der Entwicklung menschlicher Zellen umfasst und als unvorhersehbarer Feind noch immer schwer zu kontrollieren ist.
In seiner Betrachtung über Krankheiten und ihre Behandlung zeigt Michel Foucault, wie Krebs ein „einfaches“ Missverhältnis im Wachstum der körpereigenen Zellen zu sein scheint, die aus sich heraus, im eigenen Organismus, Leben erzeugt, nur mit anderen Parametern, nur in eine andere Richtung, die normalerweise den eigenen Körper verletzt.
Und es geht nicht um einen Körper der als Wirt fungiert, es ist der Körper selbst, der sich weiter entwickelt, nur dass die genetische Information der Zellen in „Krebs“ mutiert: „Sie ist nicht mehr ein Ereignis oder ein Wesen, das von außen eingeschleppt wird; sie ist das Leben, das sein Funktionieren und damit sich selber modifiziert …[…] Die Krankheit ist eine innere Abweichung des Lebens. Mehr noch: jede Krankheit organisiert sich in der Art eines lebenden Individuums: es gibt ein Leben… […]Statt von einer Krankheit, die das Leben angreift, spricht man besser von einem pathologischen Leben.“[1]
Es kann passieren, dass der Körper sich nicht immer selbst schützen kann, und deshalb ist er auch nicht immer fähig sich selbst zu heilen. Das führt zu der Frage, nach der Fähigkeit des Körpers sich selbst zu versorgen. Unabhängig davon könnte es sein, dass das Immunsystem nicht in der Lage wäre, gesund zu bleiben. Obwohl es die Absicht hat, Krankheitserreger zu identifizieren, attackiert es dabei die eigenen gesunden Zellen.
Die Geschichte hat gezeigt, wie fehlerhaft der menschliche Körper ist. Was der Mensch selbst als „perfekte Maschine“ bezeichnet, ist nicht so, oder reagiert zumindest nicht so, wie das was Menschen wiederum als „perfekt“ idealisiert haben, ohne klare Vorstellung davon, was eine solche Bezeichnung bedeuten könnte: Der Körper kann nicht perfekt sein, daher ist es wichtig, auf ihn zu achten. Der Körper ist zerbrechlich, das Leben, das er in sich trägt, ist daher auch zerbrechlich. Die genetische Information, die jeder Einzelne in seinem Körper hat, reicht allein nicht aus, um das Leben möglichst dauerhaft sicher zu halten: lebendig und gesund.
Ein unverzichtbarer Teil des menschlichen Körpers ist sein Gehirn. Es ist verantwortlich für bewundernswerte Erfindungen, Entwicklungen, Schöpfungen und Theorien gewesen, die sich in erster Linie sämtlich darauf konzentrierten, die Menschheit mit Gütern zur versorgen.
Die Vernunft wurde für die Entscheidungen, die Menschen ständig treffen, als verantwortlich angesehen. Dieser Glaube erwies sich jedoch als unhaltbar, seit die Geschichte gezeigt hat, wie oft es Gefühle waren, die entgegen der Vernunft Lebensentscheidungen getroffen haben. Daher sind Entscheidungen nicht frei von Gefühlen und Gedankenlosigkeit. Oft gefährden Entscheidungen das eigene Leben und das Leben von Anderen, dies ist der Fall bei dem beispiellosen Phänomen, dass wir als Menschheit gerade erleben: die Erscheinung (ja, als wäre es ein fantastischer und übernatürlicher Organismus) des Virus SARS-CoV-2 (Fallbezeichnung COVID19).
Das Leben mutiert, das Leben verändert sich, aber was sich nicht ändert, ist seine ungeheure, enorme Zerbrechlichkeit, nun gut, COVID19 zeigt diese Zerbrechlichkeit, die den Menschen „noch“ ausmacht und bestimmt.
Dank des Auftauchens des Virus wurde die unermessliche Distanz des Menschen prinzipiell zu sich, und darüber hinaus zu anderen, deutlich.
Das Virus erreicht die Menschheit in einem Kontext, in dem sich die Wissenschaft angeblich auf einem sehr hohen Entwicklungsniveau befindet, es kommt zu einem Zeitpunkt, an dem in bestimmten Bereichen der Diskurs über den Tod des Todes Gestalt anzunehmen beginnt, der mit viel Arroganz zu erklären vorgibt, dass der Mensch bereits weitgehend in der Lage ist, seine Endlichkeit zu verbannen, um sich als „transhuman“ zu proklamieren.
Das Virus tritt zum Zeitpunkt einer globalisierten Welt auf. Was zunächst ein Vorteil war, die Möglichkeit in kürzester Zeit die andere Seite des Planeten zu erreichen, wurde zur größten Katastrophe für die Menschheit: COVID19 breitete sich innerhalb von nur drei Monaten, als beispiellose Pandemie, über den gesamten Globus aus.
Das unvorhersehbare Auftreten des Virus hat klarerweise alle überrascht: Niemand wusste, was die Menschheit zu erwarten hatte, daher gab es nur unmittelbare Reaktionen, die versuchten, die Gewalt, mit der es die Gesundheit und das Leben der Menschen angriff, zu mildern.
Während der Monate, die seit seiner Ankunft vergangen sind, hat die Menschheit versucht zu lernen, und sich anzupassen, um zu überleben. Aber nach einem Jahr des Erscheinens tappt sie noch immer im Dunkeln, aufgrund ihrer fehlenden, beziehungsweise zumindest mangelhaften Erfahrung als Einheit: “[…] alles eins ist.“[2] Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hat die heraklitsche Einheit mehr Sinn ergeben: „Alles ist eins“, alles ist vereint, und es wäre notwendig konsequent danach zu handeln: Aber der Mensch ist nicht in der Lage, sich die Einheit vorzustellen, sich selbst als Teil eines Ganzen zu begreifen als Teil dessen, was „ein Anderer“ und nicht „Ich“ sein soll.
Der Andere hört auf ein anderer zu sein, wenn sein eigenes Leben, und das Leben derer die ihm am Herzen liegen, von ihm abhängt. Der „Andere“ ist ein anderer für den „Einen“, er ist „mein“ ein Anderer, von dem ich abhängig bin und der von mir abhängt: weil wir im Einklang sind. Wegen der reinen und bloßen Selbstsucht (gesunder Egoismus) ist es sinnvoll, auf den anderen aufzupassen, denn wenn diesem anderen etwas passiert, bringt es mich in Gefahr.
Wieviel Sinn würde es jetzt machen, egoistisch zu sein, egoistisch genug, um auf sich selbst aufzupassen, indem man auf den anderen aufpasst!
„Und damals geschah es auch – und wahrlich, es geschah zum ersten Male! – daß sein Wort die Selbstsucht selig pries, die heile, gesunde Selbstsucht, die aus mächtiger Seele quillt: –„[3]
Ist es so, dass der Körper nicht auf sich selbst aufpassen kann, vielleicht hat er nicht die Fähigkeit, sich vor sich selbst oder vor äußeren Einflüssen zu schützen? Der Körper ist Intelligenz, Vernunft, Leidenschaft, der Körper ist der Geist, das Herz und die Ansammlung von Reaktionen und Prozessen, die permanent in ihm stattfinden: Er ist die Luft in der Lunge, der Herzschlag, das Gefühl von Ekel und Unbehagen, dass man verspürt wenn man etwas Verdorbenes gegessen hat das sich in Erbrochenes verwandelt[4]. Er ist der Verdauungsprozess und die Erneuerung der Zellen und ihrer Missbildungen, er ist auch Gedanken die durcheinander laufen und Ideen haben und reflektieren, er ist das Kribbeln das beim Denken an den geliebten Menschen entsteht, er ist die Tränen die fließen wenn etwas schmerzt oder die Erinnerung weh tut. (Aber was tut weh und wo tut es weh? Der Körper ist der Ort an dem es weh tut). All das und unermesslich mehr ist der Körper.
Was weiß der Körper über sich? Was kann er wissen?
Der Körper scheint keinen Einfluss auf seine inneren Abläufe oder auf die Veränderungen der genetischen Information und seiner Degenerationen oder Krankheiten zu haben. Kann der Körper dann auf äußere Impulse, Leidenschaften oder Appetit reagieren, um sich selbst zu schützen?
Hoffentlich ja…
Wie kommt es, dass die Menschheit im Wissen, dass das Leben zerbrechlich ist, nicht darauf achtet?
Heutzutage weiß fast jeder, dass übermäßiges Essen Fettleibigkeit verursacht und dies zu körperlichen und sozialen Beschwerden und fast immer zu Diabetes führt. Fast jeder hat gehört, dass Rauchen zur Entstehung von Krebs beiträgt, dass übermäßiges Trinken von Alkohol die Leber schädigt, und dass Sex ohne Schutz und ohne Wissen Übertragung tödlicher Viren bedeutet. Trotzdem ernähren sich die Menschen weiterhin ungesund und übermässig, rauchen weiterhin, trinken weiterhin Alkohol, und haben weiterhin ungeschützten Sex.
Obwohl wir über vielfältige Informationen verfügen, um auf gesunde Weise zu leben, hat sich statistisch gezeigt, dass wir uns oftmals für den nachlässigen Lebensstil und Exzesse entscheiden die keinen günstigen Einfluss auf die Gesundheit haben.[5] So gesehen gibt es eine Entschlossenheit zum Tod, da statistisch nachgewiesen wurde, dass Menschen mit Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, AIDS und Krebs sowie mit einem schwachen Immunsystem, Probleme haben, das neue Virus zu bekämpfen.
Drei Maßnahmen sind nach heutigen Wissenstand entscheidend, um die COVID19-Infektion weltweit einzudämmen: 1) Die Verwendung von Schutzmasken, 2) Die Reinigung und Desinfektion der Hände mit Gel oder Seife, 3) Die Einhaltung eines Mindestabstandes zu anderen Personen.
Die Krankheitsfälle jedoch nehmen weiter zu, und anscheinend ist der oft zitierte Menschenverstand ein gefährliches Element: Es zeigt sich, dass ein Appell allein an den Menschenverstand nicht ausreicht, um die weltweite Verbreitung der Infektion zu verhindern.
So wie der individuelle Körper aus mehreren und unterschiedlichen Elementen besteht, auf die er nicht verzichten kann, so kann der soziale Körper auch nicht auf Individuen verzichten. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Individuelle Isolation impliziert das Aussterben der menschlichen Spezies, weil sie sich nicht reproduzieren kann, oder durch eine psychische Störung indem die Isolation nicht erträglich ist.
Aber heute ist der soziale Kontakt das, was das menschliche Leben gefährdet, da es einer Ansteckung durch COVID19 ausgesetzt ist:
„Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich an einem kalten Wintertage recht nah zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder von einander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden …“[6] In der Schopenhauers Allegorie sterben Stachelschweine nicht an Schmerz oder Kälte; für uns Menschen besteht aber im Moment die größte Gefahr gerade darin diese lebensnotwendigen sozialen Kontakte zu pflegen und anderen Menschen nahe zu sein.
Wenn wir Menschen es nicht schaffen uns auf bestimmte Zeit zu isolieren, wird die Zahl von mehr als zwei Millionen dreihunderttausend Todesfällen durch COVID19 in der Welt weiter zunehmen[7].
Für viele eine abstrakte Zahl, für die vielen Betroffenen ein schweres Schicksal, ein grosses Leid, ein oftmals tragischer Verlust: Die Abbildung zeigt den Tod und die Abwesenheit von Menschen, die trotz der Palliativversorgung durch die technologischen Fortschritte einen grausamen Tod erlitten haben, aber die Abbildung ist fremd und abstrakt. Wie kommt es, dass das Leben fremd und abstrakt wurde?
Wie ist es möglich, dass der Körper nicht für sich selbst sorgen kann? Warum kann diese Hülle aus Intellekt, Vernunft, Leidenschaft, Intelligenz, Liebe, Seele, Emotion, Nieren, Zellen, Knien usw. nicht auf sich selbst aufpassen? Es ist bedauerlich zu bemerken, dass wir nicht in der Lage oder nicht bereit sind, für uns selbst zu sorgen, für das Leben zu sorgen.
Der Mensch hat noch nicht gelernt, auf sich selbst aufzupassen, auf den anderen aufzupassen, das Leben als Ganzes zu schätzen und zu schützen. Ist der Mensch grausam mit sich selbst, durch Nachlässigkeit oder durch Widerwillen? Wie kann von ihm erwartet werden, auf andere Menschen und andere Lebewesen, mit denen er auf den Planeten koexistiert, aufzupassen, wenn er nicht in der Lage ist, auf sich selbst aufzupassen?
Wer wird sich um den Menschen kümmern? Es ist weder die Wissenschaft oder Technologie, die nur die Palliativversorgung ein wenig unterstützt, aber noch keine Lösung gegen die Krankheit bietet, noch der Intellekt, der nur die geistige Schöpfung des Menschens ist:
„In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der „Weltgeschichte“: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. – So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Denn es gibt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte.”[8]
Der Intellekt scheint uns in Gefahr zu bringen, weil er annimmt, dass er das Wissen besitzt, aber die Realität gezeigt hat, dass er nicht einmal weiß, wie er auf sich selbst aufpasst.
Wer wird sich um den Menschen kümmern? Wird das Leben in seinem evolutionären Transit, wie Darwin betonte, entscheiden, wie und wann? Muss sich die Menschheit also nur weiterentwickeln? Evolutionäres Denken bedeutet zu akzeptieren, dass das Leben des Menschen vorherbestimmt ist.
Die „Selbstsorge[9]“ ist düster und prekär, und in diesem Sinne sollte man sich vielleicht fragen, wieviel Zeit der Mensch noch zu haben glaubt, um endlich allemal damit zu beginnen, sich um das Leben (die Einheit und das Ganze) zu kümmern? Was ist das Schlimmste, was darauf warten kann um endlich zu beginnen, sich um das Leben zu kümmern, um sich selbst zu kümmern? Was muss getan werden, damit man in einem Akt der Hoffnung und der totalen Liebe, das Leben annimmt und es liebt und umsorgt? Das Leben ist nicht schön und gut, es ist auch nicht schrecklich oder schlecht: es ist eine Fülle von Möglichkeiten, und seine Größe ist die faszinierende Ungewissheit.
Das Leben, das sich danach sehnt, gelebt zu werden, ist der Akt der Liebe par excellence, denn was kann wertvoller als das Leben sein?
Aracely R. Berny. Research Assistant (Postdoc): Institut für Wissenschaft Komplexer Systeme, Medizinische Universität Wien (seit 2015). Doktoratsstudium der Philosophie am Institut für Philosophie der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft, Universität Wien (Dr. phil., 2012). Master of Arts (2007) und Magister Phil. (2002) UNAM (Mexiko). Forschungslinien: Neu auftretende Krankheiten (Diabetes mt2), Transhumanismus, Bioethik, Nachhaltigkeit, Komplexität.
[1] M. Foucault, „Wechselwirkung zwischen krankhaften Veränderungen“ in Die Geburt der Klinik, S. 166.
[2] Heraklit, Fragmente, (DK B50) 1, p.4. “ Habt ihr nicht mich, sondern mein Wort [Gesetz] vernommen, ist es weise zuzugestehen, daß alles eins ist.” S. 7.
[3] Friedrich Nietzsche, “Von den drei Bösen“ Also sprach Zarathustra. S. 238.
[4] Es ist beachtenswert, dass das unfreiwillige Erbrechen, dass so verachtet wird wie abstoßend sein kann, eine bewundernswerte Form der Selbstheilung ist, indem sich der Körper sofort von etwas trennt, was ihm Unbehagen verursacht oder ihn in Gefahr bringt.
[5] Es ist jedoch zu erwähnen, dass auch ein gesunder Lebensstil keine Garantie für die Gesundheit ist, aber die Wahrscheinlichkeit signifikant erhöht.
[6] A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, 2 Bde., 1851. Zweiter Band. Kapitel 31.
[7] https://www.covidvisualizer.com/
[8] F. Nietzsche, Über Wahrheit und Luge… S.261 B.3.
[9] Foucault verweist darauf, dass der griechische Begriff Epimeleia Heautou „Selbstsorge“, nicht mit der Stärke das Delphi-pythagoreisch-sokratische Prinzips gnothi seauton „Erkenne dich selbst“ transzendiert hat. „… in die Apologie … Sokrates sich als derjenige vorstellt, dessen wesentliche Aufgabe und ursprünglicher Beruf – dessen grundsätzliche Stelle – darin bestehen, die anderen dazu aufzufordern, sich um sich selbst zu kümmern, Sorge für sich selbst zu tragen und nicht sich zu vernachlässigen.“ M. Foucault, “Vorlesung vom 6. Januar 1982. Erste Stunde”, Hermeneutik des Subjekts., S.19.