Wenn Selbstsorge dem Wohl aller dient – Pufendorf über „Pflichten gegen sich selbst“
von Laetitia Ramelet (Lausanne)
Nach dem deutschen Philosophen, Juristen und Historiker Samuel von Pufendorf (1632-1694) stehen wir alle in der Verpflichtung, unseren Körper und unsere Seele mit dem Ziel zu pflegen, nützliche Gesellschaftsmitglieder zu sein. Nur wenig Beachtung hat seine Auffassung derartiger „Pflichten gegen sich selbst“[1] bis jetzt gefunden. Und doch bildet sie einen Ausgangspunkt für bereichernde moralische Reflexionen über unser Verhältnis zu anderen Menschen. Besonders klar wird dies in Zeiten der Coronavirus-Krise, wie noch zu zeigen sein wird.
Pufendorf wie anderen Denkern des 17. Jahrhunderts zufolge gibt es natürliche Gesetze, kraft derer alle Menschen dazu verpflichtet sind, ein friedliches Leben in Gemeinschaft zu erstreben. Zum Überleben sowie zur Befriedigung unseres Bedürfnisses nach Gesellschaft seien wir aufeinander angewiesen, was mit unserer Natur, als mit Vernunft und freiem Willen ausgestattete Wesen, im Einklang stehen würde. Dementsprechend könnten alle unsere natürlichen Pflichten aus dem Grundsatz abgeleitet werden, „dass ein jeder Mensch so viel an ihm ist eine friedfertige und liebreiche Geselligkeit unterhalten und sich gegen seines gleichen also bezeugen solle, wie es die Beschaffenheit und der Zweck des Menschlichen Geschlechtes durchgängig erfordert.“[2] Dabei stellt Pufendorf die originelle These auf, dass dies bei der Sorge um die eigene Seele und den eigenen Leib ansetzt. Das heisst, je mehr wir unsere individuellen Fähigkeiten kultivierten, desto besser könnten wir unsere Geselligkeitspflichten erfüllen. Deshalb bietet Pufendorf einen breiten und anspruchsvollen Katalog an Pflichten zur „Erbauung seiner selbst“ um der Mitmenschen willen.[3]
Achtung auf die eigene Gesundheit sei aus dem Grund geboten, dass wir stark und gesund sein sollten, um unsere Arbeit auszuüben und anderen Hilfe zu leisten. Bezüglich der Pflege der Seele geniesst die Anerkennung der Existenz Gottes sowie unsere Verpflichtung, ihn zu verehren, absoluten Vorrang, gefolgt von der Besserung unseres Geistes. Letzteres verweist hauptsächlich auf das Begreifen unserer verschiedenen Verpflichtungen zur Rationalität. Dies schliesst traditionelle Anleitungen ein, Dinge nach ihrem richtigen Wert zu beurteilen – und nicht übermässig zu schätzen, man denke etwa an Ehre oder Reichtum –, unseren Willen nach der Vernunft zu richten und unsere uns täuschenden Leidenschaften im Zaum zu halten. Pufendorf empfiehlt noch weitere Lebensgrundsätze, etwa unser Lernen auf nützliche Wissenschaften zu konzentrieren (und nicht auf ein eitles, „unnützes Hirngespenste“[4], wie z. B. das der Scholastik) oder einen Beruf nicht nach Wunsch, sondern nach unseren Talenten zu wählen, damit die Gemeinschaft den höchsten Nutzen aus unserer Arbeit ziehen kann.
Zusammengefasst sollen wir danach streben, unsere Vermögen und Begabungen zu vervollkommen, um zum Gedeihen der Gesellschaft beizutragen. Bestimmt ist dies eine fordernde, aber einsichtige Haltung, der auch heute nichts an Relevanz fehlt. Ein erstes aktuelles Beispiel für Pflichten gegen sich selbst um der Mitmenschen willen wäre die institutionelle Solidarität unseres Gesundheitssystems: Angesichts immer steigender Kosten, die von uns allen getragen werden, scheint es nicht nur in individueller, sondern auch in kollektiver Hinsicht sinnvoll zu sein, sich vorbeugend um die eigene physische und mentale Gesundheit zu kümmern.
Am weiteren Beispiel des Coronavirus wird offensichtlich, inwiefern die Sorge um sich selbst in Verantwortung gegenüber den anderen Menschen verändern und nachhaltig verwandeln kann. Plötzlich sind wir alle dazu verpflichtet, das Bestmögliche zu tun, um uns selbst nicht zu infizieren, damit wir besonders gefährdete Mitmenschen nicht anstecken. Auch wenn dies heute evident klingen mag, war diese Haltung vor einiger Zeit bei vielen noch nicht ausgeprägt. Unsere Bereitschaft zu sozialen Distanzierungsmassnahmen sowie die Schnelligkeit unserer Reaktion beruhten (zum Teil) auf unserer Gewohnheit, uns regelmässig darüber zu informieren, was momentan wichtig für die Gemeinschaft ist. Wer sich auf dem Laufenden hält, hat wahrscheinlich rascher begreifen können, wie ernst und aussergewöhnlich die Lage geworden ist. Dies kann Pufendorfs These gut illustrieren, dass die Fähigkeit, Pflichten gegenüber anderen nachzukommen von der Sorge um sich selbst abhängt, in diesem Fall von der Sorge um die eigene Informiertheit.
Auch im Allgemeinen gilt eine verantwortungsbewusste Informationspflicht in unseren Demokratien, da wir kompetente Politiker/innen wählen, uns täglich am Austausch und Diskurs beteiligen, der zur Meinungsbildung anderer (sei es durch Zustimmung oder Ablehnung) beiträgt und am Gemeinwohl orientierte Entscheidungen unterstützen müssen. Zu einer Demokratie gehört auch die Kultivierung einer gesunden Debattenkultur, in der Mitbürger/innen idealerweise willig sind, einander zuzuhören und verschiedene Standpunkte abzuwägen. Nun macht diese breite Forderung wiederum ersichtlich, wie viel Übung, Bemühung und Zeit das in Anspruch nehmen kann – schließlich eine kontinuierliche Arbeit an sich selbst, zumal vor dem Hintergrund konkret bestehender Tätigkeiten.
Eben dafür können Pufendorfs Passagen über
„Pflichten gegen sich selbst“ unser Bewusstsein heute bilden,
erneuern und schärfen – bestimmt handelt es sich hierbei auch um eine passende
Lektüre für die Gegenwart, in der die Bürger/innen aufgefordert sind, verstärkt
zu Hause zu bleiben.
Laetitia Ramelet schreibt gerade ihre Dissertation über politische Zustimmung in den philosophischen Theorien des 17. Jahrhunderts (auch mit Blick auf deren heutige Relevanz) an der Universität Lausanne.
[1] Acht Bücher, Vom Natur- und Völkerrechte (De Jure Naturae et Gentium), Übersetzung von Johann Nikolaus Hertius (1711), Buch 1, Kap. 2. Zugriff auf: https://books.google.ch/books?id=wPr4-7ZqQycC&dq=samuel+pufendorf+recht+natur+völker&hl=fr&source=gbs_navlinks_s (abgerufen am 18.03.2020).
[2] Ibid., Buch 2, Kap. 3, §15.
[3] Ibid., Buch 2, Kap. 4, §1.
[4] Ibid., §13.