05 Jun

Wie sich in der Impfpriorisierung die (fehlende) Wertschätzung gesellschaftlicher Rollen zeigt

Von Christiana Werner (Duisburg-Essen)


Obwohl die Entwicklung der verschiedenen Impfstoffe gegen das Coronavirus ein wichtiger Schritt war und Anlass zur Hoffnung gibt, ist die Verteilung des Impfstoffs nicht unproblematisch. Ein großes Problem ist die internationale Verteilung des Impfstoffs. Ein weiteres Problem, mit dem ich mich hier beschäftigen möchte, ist die Verteilung auf nationaler Ebene. Ich beziehe mich mit meinen Überlegungen auf die Situation in Deutschland.

An der Entscheidung der Impfpriorisierung waren bzw. sind Gremien auf Bundes-, Landes- und Kreisebene beteiligt, so dass es bei der Frage, wer den Impfstoff schon bekommen kann und wer nicht, durchaus auch zu regionalen Unterschieden kommen kann. Bei der Festlegung der Priorisierungen wurden medizinische Kriterien berücksichtigt. Klar ist aber, dass nicht nur medizinische Kriterien berücksichtigt wurden.

Selbstverständlich spielte die Frage nach dem Risiko, einen schlimmen oder gar tödlichen Verlauf einer Coronainfektion zu erleiden, eine große Rolle. Da offenbar das Alter hier das größte Gewicht hat, wurden zunächst Menschen über 80 geimpft. Etwas später folgten auch jüngere Menschen mit schweren Erkrankungen, die ebenfalls das Risiko eines schweren Verlaufs begünstigen.

Doch neben der Frage nach dem Risiko eines schweren Verlaufs einer Coviderkrankung, spielt auch eine weitere Frage eine Rolle, nämlich die, ob man einem erhöhten Risiko ausgesetzt ist, sich zu infizieren. Hier wurden Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger berücksichtigt. Etwas später in der Reihenfolge wurden z.B. Erzieherinnen, Lehrerinnen, Verkäuferinnen und Friseurinnen berücksichtigt.

Tatsächlich scheint hier nicht nur die Frage, ob ein erhöhtes Infektionsrisiko vorliegt, eine Rolle zu spielen, sondern auch die Frage nach der so genannten Systemrelevanz. Nun geht es mir hier nicht um die Frage, ob die Priorisierungen der einzelnen Berufsgruppen im Einzelnen nachvollziehbar oder gerechtfertigt sind. Es geht mir vielmehr darum, dass unter den Personengruppen, die wegen eines erhöhten Infektionsrisikos und ihrer Systemrelevanz berücksichtigt werden, im Grunde nur Berufsgruppen auftauchen. Eine Ausnahme bilden Personen, die Angehörige Kranke und ältere Menschen pflegen oder Kontaktpersonen von Schwangeren sind. Hier scheint es vorrangig darum zu gehen, die zu pflegenden Personen aufgrund ihres erhöhten Risikos zu schützen.

Die Priorisierung nach Berufsgruppen erweckt folgende fragwürdigen bzw. problematischen Eindrücke: 1. Ein Ansteckungsrisiko besteht ganz besonders im beruflichen Kontext. 2. Eine notwendige Bedingung für Systemrelevanz ist ein Beruf.

Beide Punkte halte ich für falsch. Ganz besonders problematisch ist das für eine Personengruppe, die in der Impfpriorisierung keine Berücksichtigung gefunden hat, nämlich Eltern. Eine Ausnahme bilden nur Eltern von Kindern mit hohem Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken. Wie ich zeigen möchte, ist diese Nichtberücksichtigung ganz besonders für Frauen in mehreren Hinsichten ein Problem.

Nun könnte man in einem ersten Schritt argumentieren, dass Eltern gerade von kleinen Kindern meistens sehr jung sind und deshalb selbst nur einem verhältnismäßig geringen Risiko ausgesetzt sind schwer zu erkranken. Das ist auch sicher richtig, betrifft aber nur das erste Kriterium (erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf), nicht die Kriterien zwei und drei, also die Frage nach dem Infektionsrisiko und der Systemrelevanz.

Was das Infektionsrisiko betrifft, so könnte man weiter argumentieren, sind viele Menschen in den priorisierten Berufsgruppen klarerweise in Kontakt mit mehr Menschen, als das eine Mutter oder ein Vater in ihrer Rolle sind. Doch dafür können zumindest einige Menschen aus den genannten Berufsgruppen sich zumindest zu einem gewissen Grad durch das Einhalten der Hygieneregeln schützen, d.h. Abstand halten und Maske tragen. Eltern können keinen Zwei-Meter-Abstand zu ihren Kindern halten und auch nicht zu Hause immer eine Maske tragen. Gerade der Umgang mit kleinen Kindern ist naturgemäß sehr kontaktintensiv und zwar ganz besonders, wenn sie krank und damit ansteckend sind. Selbst wenn sich aus Datenerhebungen ergeben würde, was unwahrscheinlich und auch eher verwunderlich wäre, dass sich Eltern deutlich seltener bei ihren Kindern anstecken als beispielsweise die in Gruppe drei eingestuften Gerichtsvollzieherinnen und Steuerfahnderinnen, dann wäre das noch kein Grund, Eltern gänzlich von der Priorisierung auszuschließen. Bestenfalls könnte man argumentieren, dass sie etwas weiter unten in der Liste landen. Es ist aber davon auszugehen, dass insbesondere Eltern von Kindern, die Schulen und Kitas besuchen und dadurch in Kontakt mit vielen anderen Kindern sind, einem nicht ganz geringen Risiko ausgesetzt sind, sich zu infizieren. Je mehr Kinder, desto größer das Risiko. Patchwork-Familien haben zusätzlich immer den engen Kontakt mit mehreren Haushalten, der sich nicht vermeiden lässt. Wer ein erhöhtes Risiko hat, sich zu infizieren, von dem geht sehr wahrscheinlich auch ein erhöhtes Risiko für andere aus. Es wäre als auch aus diesem Grund sinnvoll, Eltern zu berücksichtigen.

Während die Frage nach dem Infektionsrisiko zumindest prinzipiell empirisch geklärt werden könnte, ist die Frage nach der Systemrelevanz eine politische und ideologische Frage. In der vorliegenden Impfpriorisierung zeigt sich deutlich, dass die Frage nach der Relevanz für die Gesellschaft an den Beruf gekoppelt ist. Die Arbeit, die von Eltern geleistet wird, wird damit systematisch nicht gewürdigt bzw. in seiner gesellschaftlichen Relevanz übersehen. Das hat Tradition und sollte nicht überraschen, aber angesichts der besonderen Situation in der Pandemie überrascht es dann doch. Die Kitas und Schulen waren oder sind ganz oder teilweise geschlossen. Die Betreuung und Beschulung lag damit zu großen Teilen in den Händen der Eltern. Viele Familien hat das über ihre Belastungsgrenzen gebracht, aber dennoch haben viele Eltern, da wo die Entscheidung bei ihnen lag, sich entschieden, die Notbetreuung nicht in Anspruch zunehmen und ihre Kinder zuhause zu behalten. Gerade weil sich viele Eltern so verhalten habe, konnten Schul- und Kitaschließungen zu einem Eindämmen der Pandemie beitragen. Aber auch außerhalb der pandemischen Situation ist es offensichtlich, dass unsere Gesellschaft so organisiert ist, dass ohne den „privaten“ Einsatz von Eltern Kinder nicht genügend versorgt, betreut und sogar beschult wären. Die Pandemie hat diese Tatsache nur deutlicher hervortreten lassen und die mediale Aufmerksamkeit darauf gelenkt. Wenn wir aber als Gesellschaft ein Interesse daran haben, dass Kinder versorgt, betreut und beschult werden, ist es wirklich schwer zu sehen, warum Eltern nicht systemrelevant sein sollten.

Nun könnte man an dieser Stelle wieder einwenden, dass doch aber tatsächlich die meisten Eltern aufgrund ihres Berufes ein Impfangebot bekommen (werden). Auch das ist sicher richtig. Aber es ändert zum einen nichts daran, dass Eltern dann nicht wegen ihrer Rolle als Eltern berücksichtigt werden, sondern aufgrund einer ihrer anderen Rollen in der Gesellschaft. Zum anderen sind zwar viele Eltern berufstätig, aber eben nicht alle. Und an dieser Stelle offenbaren sich zwei weitere unangenehme Konsequenz der Nichtbeachtung der Eltern. Wenn arbeitslose Eltern nicht berücksichtigt werden und es tatsächlich zutrifft, dass sie als Eltern einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt sind, ist erstens davon auszugehen, dass sich ein Trend verstärkt, der sich zunehmend in den letzten Monaten sichtbar gemacht hat: Zwar kann sich jeder mit dem Coronavirus infizieren, zuletzt häufen sich aber Infektionen in Vierteln und Stadtteilen mit erhöhter Arbeitslosigkeit.

Die zweite Konsequenz der Nichtbeachtung der Eltern ist, dass es sehr häufig Frauen sind, die aus ihrem Beruf zumindest zeitweise aussteigen und deshalb für einen gewissen Zeitraum eben „nur“ Mutter sind. Wenn also Eltern nicht geimpft werden, wird das in vielen Fällen besonders Frauen von der Impfung so lange ausschließen, bis es genügend Impfstoff gibt. Das ist besonders zynisch angesichts der Rolle, die viele Frauen in der Pandemie gespielt haben. Es wurde hinlänglich darüber berichtet, dass in den Lockdown-Phasen insbesondere Frauen die Beschulung und Betreuung der Kinder übernommen haben, mit der erheblichen Mehrbelastung, die damit einhergeht und auch mit der Konsequenz, die viele gezogen haben, zumindest vorübergehend im Beruf Arbeitszeit zu reduzieren. Sie nehmen damit, in Einklang mit der traditionellen Mutterrolle, einen Verdienstausfall in Kauf und die negativen Auswirkungen auf ihre Altersversorgung.

Nun hilft eine Impfung nicht (zumindest nicht direkt) bei der Altersversorgung oder den Verdienstausfällen. Eine Berücksichtigung in der Impfpriorisierung wäre aber dennoch ein längst überfälliges politisches Zeichen gewesen. Die Missachtung der gesellschaftlichen Relevanz der von Eltern geleisteten Arbeit ist ein Problem. Denn wenn wir die Rolle von Eltern weiterhin nicht für systemrelevant erachten, dann müssen wir uns auch nicht wundern, wenn Männer nicht bereit sind, sie zu übernehmen.


Christiana Werner ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Duisburg-Essen.

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