Wir alle sind Risikogruppe

Von Alina Omerbasic (Potsdam)

Das Bild von zugunsten vulnerabler Gruppen eingesperrter gesunder Mitglieder der Gesellschaft scheint sich im öffentlichen Diskurs einer isolations-müden Gesellschaft immer schneller zu verbreiten, doch handelt es sich hierbei um ein bloßes Zerrbild der gegenwärtigen Situation, welches nicht nur ihr Kernproblem, sondern auch den eigentlichen Zweck der eingeführten Regelungen in den Hintergrund rücken lässt. Bestand dieser Zweck ursprünglich einhellig im Schutz und der Entlastung des Gesundheitssystems, so ist es nun der Schutz der „Risikogruppen“, der Alten und Vorerkrankten, der eine solidarische Einschränkung gewichtiger Grundrechte Gesunder aufwiegen soll. Da Gefühle der Solidarität bekanntermaßen keine unbegrenzt verfügbare Ressource sind, werden die gegenwärtig noch geltenden Regelungen, die zweifelsohne in ernstzunehmenden Einschränkungen bedeutender Grund- und Freiheitsrechte münden, zunehmend in Zweifel gezogen. Doch bevor nun weitere Lockerungen gefordert werden, sei an dieser Stelle nochmal daran erinnert, dass diese Einschränkungen nicht einzig dem Schutz von Mitgliedern vulnerabler Gruppen, sondern dem Schutz des Gesundheitssystems und somit all derer, die hoffen, im Ernstfall und unabhängig von einer Corona-Infektion im Augenblick oder den kommenden Wochen und Monaten optimale medizinische Versorgung erhalten zu können.

Damit das Recht auf körperliche Unversehrtheit und medizinische Versorgung aller die Last der Rechtfertigung der gegenwärtigen Maßnahmen tragen kann, muss natürlich gemutmaßt werden, dass es alle Mitglieder der Gesellschaft, die gegenwärtig gesund sind, vorziehen würden, im Ernstfall intensivmedizinisch versorgt werden zu können. Dies ist eine Mutmaßung, die sicherlich mit einem gewissen Maß an Paternalismus daherkommt. Doch scheint es eben auch nicht so leicht von der Hand zu weisen zu sein, dass Menschen Dingen, die sie nicht direkt betreffen, weniger Bedeutung beimessen: Wer denkt in seinen Zwanzigern schon gerne an seine private Altersvorsorge? Wer an ein Leben in schwerer Krankheit? – Gesundheit ist zwar bekanntermaßen nicht alles, doch ist ohne Gesundheit alles nichts, richtig? Entsprechend verschwenden wahrscheinlich die wenigsten sehr viele Gedanken darauf, dass – zumindest in Deutschland – jeden Monat ein mehr oder minder beträchtlicher Betrag ihres Einkommens direkt in die Krankenkassen und somit in das Gesundheitssystem fließt, auch wenn sie seine Leistungen vielleicht über Jahre nicht in Anspruch genommen haben und – voraussichtlich, hoffentlich – auch nicht nehmen werden. Es mag also nicht sehr wahrscheinlich sein, dass man in von häuslicher Isolierung geprägten Zeiten plötzlich auf intensivmedizinische Versorgung nach einem Fahrrad- oder Autounfall angewiesen sein wird, aber es ist möglich. Sollte das Gesundheitssystem dann aufgrund zu vieler, auch bloß mäßig gravierender Infektionsfälle überlastet sein, erscheint manche Freiheit, manches Grundrecht, nach dem gegenwärtig gerufen wird, vielleicht weniger wichtig als das Wiedererlangen der eigenen Gesundheit. Zwar wird das Eingehen gewisser „Lebensrisken“ – wie beispielsweise durch das Autofahren – grundsätzlich hingenommen, doch wird dies in der Regel getan, weil davon ausgegangen werden kann, dass das System negative Folgen dieser Risiken im Zweifelsfall auffangen kann. In der gegenwärtigen Situation ist es jedoch anders, weil sich das bewährte Sicherheitsnetz – anders als ein Virus – nicht nahezu unbegrenzt reproduzieren kann und es sich auch nicht schnell genug an neue Gegebenheiten anpassen kann.

Das Kernproblem und die möglicherweise größte Herausforderung der gegenwärtigen Situation besteht also darin, sich im Rahmen der Diskussionen um mögliche Lockerungen darüber zu einigen, wie viel „Normalität“ es den Mitgliedern der Gesellschaft wert ist, im Ernstfall keine oder nicht ausreichend medizinische Hilfe bekommen zu können. Diese Einigung bedarf einer ausgesprochen schwierigen Abwägung, welche nicht nur mit sehr vielen Unsicherheiten verbunden ist; es ist eine Abwägung, die auch im Namen und Interesse der jüngsten Mitglieder der Gesellschaft vorgenommen werden muss, die nicht für sich selbst entscheiden können. Alles in allem scheint das Ganze letztlich also noch viel komplexer zu sein, als es die Fokussierung auf einen Konflikt zwischen den eingeschränkten Grundrechten Gesunder und dem Schutz vulnerabler Gruppen aussehen lässt.

Mit all dem soll nicht gesagt sein, dass nicht einige der gegenwärtig geltenden Regelungen nicht fragwürdig, gar widersprüchlich sind. So erscheint es nicht rechtfertigbar, dass Kliniken bei anhaltender Entspannung der Lage in Kurzarbeit gehen, während Patienten seit Wochen auf notwendige Behandlungen und Operationen warten, welche verschoben wurden, um vorsorglich maximale Kapazitäten für mögliche COVID-19-Patienten freizuhalten. Und auch ist klar, dass die gegenwärtig geltenden Regelungen und Einschränkungen nicht die „neue Normalität“ darstellen können, sie bedürfen insbesondere im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen, individuellen sowie ökonomischen „Kollateralschäden“ stetiger Prüfung auf Verhältnismäßigkeit. Doch soll deutlich werden, dass das oben genannte Narrativ der „Einschränkung Gesunder zugunsten vulnerabler Gruppen“ nicht nur die eigentliche Rechtfertigung der gegenwärtigen Grundrechtsverletzungen verzerrt, sondern dass es auch eine mögliche Spaltung der Gesellschaft befördert und es die Erkenntnis und Vermittlung der möglichen Folgen beziehungsweise Kosten, die eine zu frühe Lockerung der Maßnahmen für alle mit sich bringen könnte, erschwert.

Es scheint verständlich, dass die Akzeptanz der gegenwärtig geltenden Einschränkungen und die Folgebereitschaft auf Seiten vieler Bürgerinnen und Bürger angesichts der Belastungen wie der faktischen Unvereinbarkeit von simultanem „Homeschooling“ und „Homeoffice“ im häuslichen Wohnzimmer, der Sorge um die eigene Zukunft, die Zunahme häuslicher Gewalt, Arbeitslosigkeit oder psychologischer Erkrankungen durch Isolation und Strukturverlust zu sinken drohen; und auch sind Verweise auf eklatante „Eingriffe in Grundrechte, die sich ihrerseits nicht selbst wieder auf grundrechtliche Ansprüche (anderer) zurückführen lassen“[1] hier richtig und wichtig. Doch offenbart sich der stetige Verweis auf die wohl nicht (mehr) rechtfertigbaren Einschränkungen elementarer Grundrechte zugunsten anderer als zu kurzsichtig. Für die Rechtfertigung ihrer Implementierung oder ihrer Aufrechterhaltung bedarf es gar nicht des Verweises auf grundrechtliche Ansprüche anderer, das heißt vulnerable Gruppen. Es bedarf lediglich des Verweises auf die grundrechtlichen Ansprüche all derer, die ihr Recht auf Gesundheitsversorgung in der augenblicklichen Situation auch unabhängig von einer Corona-Infektion geschützt wissen möchten. Kurz: Wir alle sind Risikogruppe. – Wir alle sind gefährdet, wenn nicht durch den Virus, dann durch die durch den Virus entstandene Situation, in der unser Recht auf Gesundheitsversorgung auch unabhängig von einer Infektion gefährdet sein kann, sollten die Infektionszahlen infolge verfrühter Lockerungen zu sehr ansteigen, und ein entsprechend hoher Anteil der Bevölkerung auf medizinische Versorgung angewiesen sein.


Alina Omerbasic ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Angewandte Ethik am Institut für Philosophie der Universität Potsdam. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der normativen Ethik und Metaethik (Non-Identity Problem), der Angewandten Ethik (Medizinethik, Bioethik, Digitalisierung und Ethik) und der Politischen Philosophie.


[1] Siehe Arnd Pollmann: „Ansteckende Freiheit“, Eintrag vom 29. April 2020.