Digitale Philosophie – oder Philosophie des Digitalen? Oder beides?
Von Jonathan D. Geiger (Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz)
„Digitalisierung“ und „Digitalität“ – Begriffe, die in unseren heutigen Diskursen selbstverständlich geworden sind. Doch diese Begriffe rein technisch zu verstehen greift zu kurz, sodass geisteswissenschaftliche bzw. philosophische Reflexionen notwendig werden. Neben der Theorie sieht sich die Philosophie allerdings auch auf der praktischen Ebene mit einer digitalen Transformation konfrontiert („Digital Humanities“) und muss ein Verhältnis zu digitalen Infrastrukturen und Methoden aufbauen.
Die Wissenschaft insgesamt ist kein isoliertes Subsystem, sondern eingebettet in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext. Die Digitalisierung als gesamtgesellschaftliche Transformation betrifft daher auch die Wissenschaft, allerdings nahm und nimmt die Digitalisierung in den wissenschaftlichen Disziplinen je nach Disziplin ganz unterschiedliche Entwicklungen. Während das Arbeiten mit Datenbanken und Software in den meisten Naturwissenschaften lange schon selbstverständlich ist, sehen sich insbesondere die Geistes- und Kulturwissenschaften heutzutage mit umfangreichen Transformationsprozessen konfrontiert. Zwar lassen sich die Anfänge der sogenannten Digital Humanities bereits in den 1960ern bei Roberto Busa (Busa 1980) oder – noch früher – bei Josephine Miles (Krämer 2023) verorten, als Forschungsfeld sind die Digital Humanities (in Deutschland) allerdings erst seit 10–20 Jahren etabliert (so war die Gründung des Fachverbandes für Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (DHd) im Jahre 2013, siehe https://dig-hum.de/ueber-dhd).
Nationale Forschungsdateninfrastruktur
Spätestens mit dem Projekt der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) (siehe https://www.dfg.de/foerderung/programme/nfdi/) sind sämtliche wissenschaftliche Disziplinen in Deutschland aufgerufen, ihr Verhältnis zu digitalen Quellen, Werkzeugen, Arbeitsumgebungen, Methoden und Publikationen zu reflektieren. Ausgangspunkt der NFDI war das Positionspapier „Leistung aus Vielfalt“ des Rats für Informationsinfrastrukturen (RfII) von 2016 (RfII 2016), in dem im Zusammenhang mit dem Befund einer in der deutschen Wissenschaftslandschaft defizitären digitalen Grundversorgung und dem Mangel eines übergreifenden Forschungsdatenmanagements u. a. eine nationale Forschungsdateninfrastruktur empfohlen wurde. Bund und Länder haben diese Empfehlung 2018 aufgegriffen und den Aufbau der NFDI beschlossen (Bund-Länder-Vereinbarung 2018). Als „bottom up“-Prozess waren alle Disziplinen aufgerufen, sich selbstständig in Form von Konsortien zu organisieren und sich für eine Förderung zu bewerben. Letztendlich erhielten 27 Konsortien eine Förderung, um ihre jeweilige disziplin-spezifische Teilinfrastruktur aufzubauen – hinsichtlich Forschungsdaten, Forschungssoftware, Webservices, virtuelle Arbeitsumgebungen, Publikationsmodelle, Normdaten, Langzeitarchivierung etc. (siehe https://www.nfdi.de/konsortien/).
Philosophie als digitale Geisteswissenschaft
Auch die Philosophie als wissenschaftliche Disziplin muss sich zu diesen Entwicklungen verhalten. In den NFDI-Konsortien ist die Philosophie insbesondere in Text+ (Konsortium für wesentlich Text-orientierte Disziplinen) vertreten und wirkt vor allem an der Bildung nachhaltiger digitaler Infrastrukturen hinsichtlich digitaler Editionen mit. Insgesamt weist die Philosophie allerdings – gedacht als digitale Geisteswissenschaft – auch noch weit mehr Potentiale auf (Geiger 2022; Heßbrüggen-Walter 2018).
In Bezug auf digitale Quellen stehen die Verfügbarkeit und Nachnutzbarkeit von Volltexten und (digitalen) Editionen sicherlich im Zentrum, allerdings gibt es noch weitere Textformen mit feinerer Granularität die von Relevanz für die philosophische Forschung sind. Wörterbücher und Glossare stehen heutzutage als Wikis zur Verfügung, wobei für die Philosophie insbesondere die Stanford Encyclopedia of Philosophy zu nennen ist (siehe https://plato.stanford.edu/index.html). Doch auch Argumente als kleinste semantische Einheit lassen sich technisch organisieren, modellieren und zur Verfügung stellen, beispielsweise im Lexikon der Argumente (siehe https://www.philosophie-wissenschaft-kontroversen.de/tabelle-begriffen.php) oder den sogenannten argument maps (siehe https://argdown.org/guide/elements-of-an-argument-map.html). Mit digitalen Methoden ergeben sich neue Zugriffsweisen auf Quellen und damit auch neue Wege der Erkenntnisproduktion. Denkbar und praktisch bereits umgesetzt sind beispielsweise Korpusanalysen und hieran anschließende Visualisierungen (beispielsweise bei Noichl 2021). Quantitative Methoden benötigen immer Kollektionen bzw. Aggregationen, doch auch der einheitliche Zugriff auf digitale Quellen ist nur durch Sammlungen realisierbar. Nach Datentyp existieren digitale Sammlungen von Volltexten (z. B. die Perseus Digital Library, siehe http://www.perseus.tufts.edu/hopper/), von digitalen Editionen (z. B. der Katalog der Digital Scholarly Editions, siehe https://www.digitale-edition.de/exist/apps/editions-browser/$app/index.html), von Papern (z. B. PhilPapers, siehe https://philpapers.org/), von Bibliographien (z. B. bei Zotero), von Audiomaterial (z. B. die Philosophische Audiothek, siehe https://audiothek.philo.at/lm/mission.html) oder auch von Sammlungen selbst (z. B. auf dem Portal des Fachinformationsdienstes für Philosophie, siehe https://philportal.de/). Abschließend ist noch auf die Rolle von Normdaten hinzuweisen (z. B. die InPhO, siehe https://www.inphoproject.org/), die die Referenzialität von Daten und Datensets und sämtliche darauf aufbauenden digitalen Methoden und Operationen (z. B. auch Suchfunktionen oder semantische Regeln von Argumenten) überhaupt erst möglich werden lassen; zudem auf Daten, bei denen es sich nicht um Forschungsdaten im engeren Sinne handelt, die aber dennoch im wissenschaftlichen Betrieb produziert und verwendet werden, wie beispielsweise Open Educational Resources (OER) oder Podcasts.
Dieses Panorama ist selbstverständlich nicht vollständig – und kann es auch gar nicht sein, da es sich aus einer Matrix aus technischen Möglichkeiten einerseits und den Bedarfen der philosophischen Fachcommunity andererseits speist, die beide einem steten Wandel unterliegen. Zu konzedieren ist ebenfalls, dass die Philosophie nicht auf ihre digitale Seite zu reduzieren ist – philosophische Methoden wie beispielsweise der dialektische Dialog, die Hermeneutik oder die phänomenologische Methode lassen sich augenscheinlich technisch höchstens unterstützen, nicht aber an Computer delegieren. Aber: Die Philosophie hat eine digitale Seite.
Implikationen der digitalen Seite der Philosophie
Wird die Philosophie als digitale Geisteswissenschaft begriffen, geht dies mit einer Reihe von Implikationen einher. Auffällig wird schnell, dass bei der Frage nach den Bedarfen der Fachcommunity in Bezug auf digitale Infrastrukturen, Quellen und Werkzeugen die Philosophie auf sich selbst zurückgeworfen wird und ihre eigene (heutige und künftige!) Arbeitsweise reflektieren muss. Hinsichtlich der Phasen des wissenschaftlichen Arbeitens wird die binäre Codierung digitalisierbar-nicht digitalisierbar relevant. Zudem stellt sich in Bezug auf digitale Forschungsmethoden im engeren Sinne (i. d. R. quantitative Zugänge zu Forschungsobjekten) die Frage nach dem wissenschaftstheoretischen Stellenwert der Forschungsergebnisse. Zudem muss die Philosophie ein Verhältnis zu Forschungsdateninfrastrukturen aufbauen, insbesondere hinsichtlich Partizipations- und Mitgestaltungspositionen. Dies ist nicht nur eine technische, sondern auch eine wissenschaftspolitische Frage, da es hierbei auch um die Zukunft der „Produktionsmittel“ der Philosophie geht – eben der Texte, Editionen und weiterer Daten und wer für diese in Zukunft nicht nur verantwortlich ist, sondern auch die Zugänge strukturieren (und auch: restringieren) vermag.
Weiterhin wird die Frage aufgeworfen, inwiefern digitale Kompetenzen im Fache Philosophie proaktiv kultiviert werden sollen oder müssen. Dies betrifft das Studium und die Curricula, ebenso Weiterbildungs- und Schulungsangebote. Begrifflich changieren die Ansätze von „data literacy“ bzw. „Datenliteralität“ (OECD 2019) bis hin zu „digitaler Mündigkeit“ bzw. „digitaler Aufklärung“ (Noller 2023). Da der Umgang in der Philosophie mit digitalen Objekten und Werkzeugen von einer souveränen Handhabung von Dateien bis hin zur Softwareentwicklung ein Kontinuum ist, muss die Antwort auf die Frage nach dem Grad von Anpassungsmaßnahmen eine differenzierte sein. Anders formuliert: Die Philosoph*innen der Zukunft müssen nicht sämtlich Programmierer*innen sein, manche aber schon, um die Interessen der philosophischen Fachcommunity auch in Bezug auf die Ausgestaltung der digitalen Fachinfrastrukturen kompetent vertreten und umsetzen zu können. Gleichwohl wird in Zukunft auch ein Minimum an Digitalkompetenzen bzw. Datenliteralität generell notwendig sein, um sinnvoll am Forschungsbetrieb mitwirken zu können.
Verhältnis der Philosophie zum Digitalen
Insgesamt lässt sich also festhalten, dass es eine ganze Reihe von Feldern gibt, die aus dem Verhältnis der Philosophie zum Digitalen erwachsen und noch weiter bearbeitet werden müssen:
- die philosophische Reflexion digitaler Phänomene im weitesten Sinne,
- die philosophische Reflexion der sich im Zuge der Digitalisierung verändernden Kontexte und Bedingungen der philosophischen Forschung selbst,
- die wissenschaftstheoretische Reflexion wissenschaftlicher Erkenntnisse mit und durch digitale Methoden in der Philosophie,
- die wissenschaftspolitische Etablierung und Positionierung der Philosophie als digitale Geisteswissenschaft, insbesondere vor dem Hintergrund digitaler Forschungsinfrastrukturen,
- die wissenschaftspolitische und hochschuldidaktische Reflexion der gegenwärtigen und künftigen Bedarfe der philosophischen Fachcommunity in Bezug auf digitale Kompetenzen und Datenliteralität.[1]
Dies entspricht einer Philosophie des Digitalen, einer digitalen Philosophie und auch einer digitalen Philosophie des Digitalen. Das Digitale muss dabei stets technisch und geisteswissenschaftlich gedeutet werden.
Bund-Länder-Vereinbarung zu Aufbau und Förderung einer Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) vom 26. November 2018. https://www.gwk-bonn.de/fileadmin/Redaktion/Dokumente/Papers/NFDI.pdf
Busa, Roberto: The Annals of Humanities Computing: The Index Thomisticus, in: Computers and the Humanities 14 (1980), S. 83–90. www.alice.id.tue.nl/references/busa-1980.pdf
Geiger, Jonathan: Die Philosophie und ihre Daten. Forschungsdatenmanagement und Wissenschaftstheorie, Vortrag im Rahmen der Tagung „Was ist digitale Philosophie? Phänomene, Formen und Methoden“ in Konstanz, 2022. https://www.youtube.com/watch?v=v7CH8uwX2fE
Heßbrüggen-Walter, Stefan: Philosophie als digitale Geisteswissenschaft, in: Wie Digitalität die Geisteswissenschaften verändert: Neue Forschungsgegenstände und Methoden. Hg. von Martin Huber und Sybille Krämer, 2018 (= Sonderband der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, 3). DOI: 10.17175/sb003_006
Krämer, Sybille: Should We Really ‘Hermeneutise’ the Digital Humanities? A Plea for the Epistemic Productivity of a ‘Cultural Technique of Flattening’ in the Humanities, in: Journal of Cultural Analytics, 7 (2023). DOI: 10.22148/001c.55592
Noichl, Maximilian: Modeling the structure of recent philosophy, in: Synthese 198 (2021), S. 5089–5100. DOI: 10.1007/s11229-019-02390-8
Noller, Jörg: Was ist digitale Aufklärung? Kant und das Problem der neuen Medien, Blogpost auf praefaktisch.de, 2023. https://praefaktisch.de/digitalisierung/was-ist-digitale-aufklaerung-kant-und-das-problem-der-neuen-medien/
OECD: OECD Future of Education and Skills 2030. OECD Learning Compass 2030. A Series of Concept Notes, 2019. https://www.oecd.org/education/2030-project/contact/OECD_Learning_Compass_2030_Concept_Note_Series.pdf
RfII – Rat für Informationsinfrastrukturen: Leistung aus Vielfalt. Empfehlungen zu Strukturen,
Prozessen und Finanzierung des Forschungsdatenmanagements in Deutschland, Göttingen, 2016. https://rfii.de/?p=1998
Jonathan D. Geiger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz in der Digitalen Akademie. Er arbeitet dort im Infrastrukturprojekt NFDI4Culture. In seinem Promotionsprojekt beschäftigt er sich mit epistemologischen Fragestellungen zur Digitalität. Er ist in verschiedenen wissenschaftlichen Arbeitsgruppen aktiv, insbesondere zur Theorie der Digital Humanities und zur Philosophie der Digitalität. Über die Digital Humanities podcastet er auch bei RaDiHum20.
Twitter: @jodageiger, Mastodon: @jodageiger@fedihum.org.
Fußnoten
[1] All diese Aspekte werden in der Arbeitsgruppe „Philosophische Digitalitätsforschung / Philosophie der Digitalität“ in der Deutschen Gesellschaft für Philosophie thematisiert. Die philosophische Reflexion digitaler Phänomene wird in einem Panorama mehrerer Fokusgruppen organisiert, das aktuell die Themen digitale Begriffs- und Wissensgeschichte, digitale Ethik, digitale Didaktik in der Philosophie, digitale Lebenswelt und Games, Digitalität und Ästhetik, Grundlagen der Digitalitätsphilosophie und Künstliche Intelligenz umfasst. Zudem gibt es noch Teams, die sich beispielsweise mit dem Bereich Forschungsdatenmanagement und Tools in und für die Philosophie beschäftigen.