Turings Maschinen – Menschen, die rechnen
Von Christian Vater (Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz – Digitale Akademie)
„Digitalisierung“ ist ein großes Wort, das Alan M. Turing noch 1950 sehr klein gefasst hat. Es ist in der Gegenwart zweifellos zentral für Diskurs und Debatte, gleichzeitig ist seine Bedeutung noch nicht klar umrissen, was eine semantisch ‚schillernde‘, auch visionäre oder ‚verzaubernde‘ Verwendung erlaubt. Schon 2004 hat Jens Schröter in seinem sehr lesenswerten Einblick in die Geschichte der Unterscheidung ‚analog/digital‘ darauf hingewiesen, dass wir es hier durchaus mit einem buzzword und der „medienhistorische[n] und -theoretische[n] Leitdifferenz der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ zu tun haben. Ein Ausgangspunkt im Sinne einer Orientierungsfunktion der Philosophie könnte mit Jörg Noller eine enzyklopädische Begriffsgeschichte sein, auch in Auseinandersetzung mit Kant und dem erklärten Ziel einer „digitalen Aufklärung“. Ein weiterer Ansatz wäre mit Sybille Krämer eine (lange) „Kulturgeschichte der Digitalisierung“, deren wirksame Prinzipien sich bereits im Alphabet finden und die sich durch alle Medienwandel hindurch in den digitalen Kulturtechniken der Gegenwart entfalten. In diesem Blogbeitrag soll es um ein Fallbeispiel für eine (technik-)historische Wortverwendung gehen: Turings Maschinen – mit Seitenblicken auf unsere digitalen Menschenbilder, Turings Test und digitale Medien in der Turing-Galaxis.
#1 Als Computer noch Frauen waren… – Wann wurden Computer „digital“?
Zu Beginn der Computergeschichte waren Computer Frauen. In der Gegenwart ist es für die Jüngeren allerdings schon schwer, sich eine Zeit ohne digitale Computer vorzustellen. Das allgegenwärtige Smartphone ist seit Mitte der Nullerjahre des zweiten Jahrtausends nach unserer Zeitrechnung schleichend zum Prototyp des universellen Kommunikationsgeräts geworden, auch, weil es aufgrund seiner hohen Akkulaufzeit und verlässlicher und bezahlbarer Netzabdeckung niedrigschwellig handhabbar geworden ist. Sowohl die Gerätearchitektur als auch die einbettende Infrastruktur sind auf diese Weise zunehmend unsichtbar geworden und hinter Tastbildschirmen und/oder in unzugänglichen Umhüllungen als Designprodukt verschwunden. Blickt man ein wenig tiefer in die Geschichte, findet man Heimcomputer mit visuellem Interface, vorher Großrechner mit Eingabezeile oder Lochkartenleser. Die Geschichte des Computers als Konzept wird so zur Geschichte der erfolgreichen Miniaturisierung, Mobilisierung, Vernetzung und Gestaltung einer Gruppe von Artefakten sowie des kollektiven globalen Ausbaus ihrer Infrastruktur. Davor aber waren „Computer“ Menschen, und typischerweise Frauen.
Ein „Computer“ war eine Person, die in einem organisierten Prozess arbeitsteilig Rechenoperationen durchführte, durchaus mit Hilfsgerät wie Stift, Radiergummi und Papier, aber auch mechanischen Rechenmaschinen für die Grundrechenarten. Vor allem aber wurde als „Computer“ plangemäß gearbeitet. Es gab ein Regelbuch, nach dem streng – Schritt-für-Schritt – vorzugehen war. Es gab Aufsichtspersonen – gut vorstellbar: in der Regel Männer –, von denen die Effizienz und Qualität der Arbeit im Rechenraum beaufsichtigt wurden. Dass sich später diese Personengruppe im Beruf der Programmiererin weiterentwickelte, professionalisierte und auch die militärische Entwicklung oder die der Weltraumfahrt prägte, darf hier nicht unerwähnt bleiben.
#2 Turings Maschinen: Der digitale Computer als Mensch, der kalkuliert
Dass es Menschen sind, die rechnen, war Alan Turing schon 1936 nur allzu bewusst. Seine Perspektive auf die von ihm zu lösenden Probleme – erst der Beweistheorie, dann kriegsbedingt der Ver- und Entschlüsselung von Geheimnachrichten – war hiervon geleitet. „Rechnen“ war für Turing eine Handlung, die von Menschen mit Hilfsmitteln streng nach Plan vollzogen wurde.
Juliet Floyd rückt Turings Position in das Feld der Gedanken Wittgensteins zu den Grundlagen der Mathematik, dessen sehr spezielle Seminare zu den Grundlagen der Mathematik Turing in Cambridge besuchte. Wittgenstein selbst ehrt Turing in seinen Notaten, die als „Bemerkungen zur Philosophie der Psychologie“ posthum veröffentlicht wurden, mit der klaren Zusammenfassung: „Turings ‘Maschinen’. Diese Maschinen sind ja die Menschen, welche kalkulieren“. Denn Turing behauptet und beweist – erst mit diagrammatischen Papiermaschinen, dann mit elektrischem Großgerät – dass es keinen einschlägigen Unterschied zwischen menschlichen Computern und mechanischen Computern geben würde: beide würden Rechenregeln getaktet befolgen, die man mit Hilfe diskreter Zeichen aus einem sehr kleinen Vokabular notieren könne. Es zeigt sich nun in Turings Zeit, dass man mit Hilfe elektronischer Bauteile mechanische Rechner nicht nur entwerfen, sondern auch bauen kann – mathematische Logik bekommt einen nicht-menschlichen Körper, und kann maschinell operationalisiert werden. Diese ‚Computer neuen Typs‘ nennt Turing nun – entsprechend ihres Funktionsprinzips – „digitale Computer“. Die Verkörperung einer Universellen Maschine, die ohne Menschen auskommt, die sie steuern, und die durch geschickte Codierung und Übersetzung in allen Medien einsetzbar ist — Schrift, Bild, Ton, bewegt und kombiniert — ist mit Turings Maschinen möglich geworden.
Ironischerweise ersetzen so Maschinen, die sich wie Menschen verhalten, Menschen, die sich wie Maschinen verhalten. Und dies nun nicht nur bei der Kraft- oder Hand- sondern auch bei der Kopfarbeit.
#3 Die Künstliche Intelligenz des Zweiten Weltkriegs und die Pfade zu ihr
Turing selbst konnte hier auf weitreichende Vorarbeiten aufbauen, auch auf spektakulär gescheiterte Versuche, mechanische Denkmaschinen zu konstruieren. Hatte Leibniz Ende des 17. Jahrhunderts mit der Binärrechnung auch eine Notation für einen ‚universellen Calculus‘ vorgeschlagen, so konnte er doch nur eine – fehleranfällige – mechanische Rechenmaschine für die Grundrechenarten als handbetriebenen Uhrwerksapparat herstellen lassen. Konnte Charles Babbage maßgeblich unterstützt von Ada Byron, Lady Lovelace, ein Programmierverfahren für dampfbetriebene lochkartengesteuerte Zahnradrechenmühlen entwickeln, wurde seine Analytical Engine ein Fördersummengrab – und die Förderung durch die Royal Society abgebrochen. Die Operationalisierung von Logik in einer speziellen binären Form auf einem für diese regelgesteuerte Symbolverarbeitung geeignetem Gerät aber kann als Turings Erfolg angesehen werden, und es war nicht abzusehen, dass Turing, seiner Arbeitsgruppe und seinen Kolleg:innen, der Versuch glücken würde, Logik und Material zusammenzubringen. Hierzu war eine maximale Priorisierung seiner Forschung in der nationalen Notlage des Zweiten Weltkriegs Voraussetzung. Im Fokus der Entwicklungen stand mit Alan Turing jedoch ein ungewöhnlicher Mensch.
#4 Turings Test: Bin ich ein Mann, der vorgibt, eine Frau zu sein? – die queere Dimension des Imitationsspiels
Diese „Ungewöhnlichkeit“ Turings kann man aus allen seinen Texten heraus- und bei seinen Biograph:innen nachlesen. Eine Besonderheit seines Denkstils sind seine bemerkenswerten Vergleiche und Gedankenexperimente, die zum Mit- und Nachdenken anregen. Sie sind häufig – obwohl von einem gelernten Logiker verfasst – eben nicht auf eine logische Struktur reduzibel, und sie verlieren das ihnen Wesentliche, wenn man sie zu sehr vereinfacht. Das „Imitationsspiel“ ist hierfür ein treffendes Beispiel, ist es doch beim genauen Lesen sehr komplex. Ich fasse es hier in einer Form zusammen, die man eine „gendersensible“ (oder „queere“) nennen könnte. Es geht hier nämlich explizit um verschiedene Handlungs-, Wahrnehmungs- und Reflexionsschichten, zu denen uns Sprache den Zugriff erlaubt. (1) In einem schriftlichen Gesellschaftsspiel – zum Beispiel mittels eines Fernschreibers – treten eine Frau und ein Mann gegeneinander an. (2) Ein Schiedsrichter darf beiden eine bestimmte Zeit lang jede mögliche Frage stellen. (3) Das Ziel des Mannes ist es, vom Schiedsrichter für die Frau gehalten zu werden. (4) Genau die Rolle des Mannes soll nun der digitale Computer übernehmen – also in einem schriftbasierten Frage-und-Antwort-Spiel für eine Frau gehalten zu werden. Sieht man also genau hin, geht es nicht darum, zwischen „Mensch“ und „Maschine“ zu unterschieden, sondern einen Computer unbemerkt in ein Geschlechterrollentauschspiel einzuschalten. So gelangen wir auf die Ebene gesellschaftlicher Konventionen, eingeübter Umgangsformen und kollektiver evaluativer Gebräuche (und vielleicht auch von Klugheit und Cleverness und Intuition). Alan Turing sieht seine Maschinen – im Erfolgsfall – also eingebettet in eine soziale und konventionelle Lebenswelt, in der sich biologische Organismen mit Körpern bewegen. Es geht um Fähigkeiten, bei denen wir vorsichtig sein sollten, diese Maschinen zuzuschreiben, und mit „Täuschen“ und „Lügen“ um Fertigkeiten, für die wir vielleicht gerade keine Maschinen konstruieren wollen. Der Turing-Test ist anspruchsvoll. Zum Ende kehren wir zur ironischen Wendung der Geschichte der Digitalität zurück: Turing hat seine Computer entworfen, in dem er menschliches Verhalten mit digitalen Maschinen modellierte. Heute neigen wir dazu, uns Menschen als Computermodell zu begreifen. Hier hat sich – in einem epistemisch-anthropologischen Feedback – ein Kreis geschlossen. Wir müssen nun – wenn wir die Architektur unserer Lebenswelt einrichten wollen – hoffen, dass es sich nicht um einen Kurzschluss handelt. Philosophische Anthropologie zu betreiben, ist und bleibt so eine tagesaktuelle Aufgabe, die uns – im Angesicht synthetisierender Chat-Maschinen, die halluzinieren – die Lebenswissenschaften nicht abnehmen können. Dieser Herausforderung müssen wir uns als Menschen, die kalkulieren, technikkundig wie technikkritisch stellen.
Christian Vater ist Leitender Koordinator des Konsortiums für Forschungsdaten materieller und immaterieller Kultur (NFDI4Culture) in der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur NFDI an der Digitalen Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz. Er trägt eine ORCID: https://orcid.org/0000-0003-1367-8489
Literatur
Florian Arnold (2020), Die Architektur der Lebenswelt. Entwürfe nach der philosophischen Anthropologie Hans Blumenbergs, Frankfurt am Main. (=Klostermann Rote Reihe 128)
Daniel Martin Feige (2022), Die Natur des Menschen. Eine dialektische Anthropologie, Berlin. (=suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2353)
Juliet Floyd (2017), „Turing on ‚Common Sense‘: Cambridge Resonances“, in: Julie Floyd u. Alisa Bokulich (Hgg.), Philosophical Explorations of the Legacy of Alan Turing, Berlin u. Heidelberg. (=Boston Studies in the Philosophy and History of Science 324). https://doi.org/10.1007/978-3-319-53280-6_5
Andrew Hodges (1983), Alan Turing. The Enigma, London.
Jennifer S. Light (1999), „When Computers Were Women“, in: Technology and Culture, 40(3), S. 455-483.
Sybille Krämer (2022), „Kulturgeschichte der Digitalisierung“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 10/11, 10–17, online: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/digitale-gesellschaft-2022/505679/kulturgeschichte-der-digitalisierung/
Jörg Noller (2023), „Was ist digitale Aufklärung? Kant und das Problem der neuen Medien“, in: prae|faktisch, 05. Januar 2023, https://praefaktisch.de/digitalisierung/was-ist-digitale-aufklaerung-kant-und-das-problem-der-neuen-medien/
Jörg Schröter (2004), „Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum?“, in: Jens Schröter u. Alexander Böhnke (Hgg.), Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum?: Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld, S. 7–30. (=Medienumbrüche 2), https://doi.org/10.1515/9783839402542-001
Christian Vater (2023), Turings Maschinen. Eine Problemstellung zwischen Wissenschafts- und Technikgeschichtsschreibung, Heidelberg.
Ludwig Wittgenstein (gedruckt 1984), Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie 1. Letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie. Hgg. Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe, Georg Henrik von Wright und Heikki Nyman, Frankfurt am Main (=Werke Band 7), § 1096, online: wittgensteinscource.org