08 Apr

Das Affektive ist politisch. Eine schemenhafte Skizze des Zusammenhangs zwischen Affektivität und Politik

Von Jule Govrin (Berlin)


In politischen Prozessen kochen die Gefühle hoch, sei es in angriffslustigen Debatten in den digitalen Arenen, im erhitzten Schlagabtausch bei Polit-Talkshows, in aufgeregten Bundestagsdebatten, in wütenden Menschenmassen auf Demonstrationen oder in sensationslüsternen Berichterstattungen über tagespolitische Geschehnisse. Bisweilen drängt sich der Eindruck auf, als hätten sich solche Gefühlsausbrüche in den letzten Jahren rasant vermehrt und verstärkt. Ertönen nicht öfter Beleidigungen und Buhrufe im Bundestag, seitdem dort die rechte Partei Alternative für Deutschland (AfD) eine Fraktion stellt, die die Provokation lustvoll zu zelebrieren scheint? Treten nicht selbst Politikerinnen, die vormals als gemäßigt galten, ungleich streit- und angriffslustiger auf? Hat nicht die Präsidentschaft Donald Trumps mit der Diskursethik des besseren Arguments gebrochen, um affektgeladenem Gebaren Platz zu machen? Drängen die digitalen Dynamiken, die Aggressionseskaladen in den sozialen Medien anheizen, die demokratische Öffentlichkeit ins Irrationale? Derartige Vermutungen gehen von einer Art Reinheitsthese der Politik aus, als brächen gegenwärtig Gefühle in die Vernunftsphäre der Politik hinein. Allerdings verkennt solch eine Einschätzung vorschnell, dass Politik und Affektivität weit über die Gegenwart hinaus in ganz grundlegender Weise miteinander verbunden sind. Der Mensch als Zoon politikon, als politisches Tier, wie ihn einst Aristoteles bezeichnete, war niemals reines Vernunftwesen. Wie Menschen von Begehren und Gefühlen bestimmt sind, so ist auch das Geschäft der Politik seit jeher von Leidenschaften geleitet. Um das verquickte Verhältnis von Gefühlen und Politik in den Blick zu bekommen, ist es hilfreich, zunächst den Begriff des Affekts unter die Lupe zu nehmen, um ihn anschließend in Zusammenhang zur Politik und zum Politischen zu setzen.

1. Affekt als relationale Kategorie

Gegenüber dem heutzutage geläufigeren Begriff der Emotion ist der Begriff des Affekts um einiges älter. Während der Affektbegriff in philosophischen Texten vor der Aufklärung auftauchte, besonders prominent in den Schriften von Baruch de Spinoza, kommt der Emotionsbegriff erst im 18. Jahrhundert auf. „Werden Affekte im Barock, insbesondere im Barocktheater, als von außen kommende, den Menschen ergreifende Kräfte verstanden, so wechselt das 18. Jahrhundert noch einmal die Perspektive: Es definiert Affekte nun als Emotionen und damit als innerlich wirkend Kräfte […].“[i] Während der Affektbegriff auf die Beziehungen und Bewegungen zwischen Menschen abzielt, bezeichnet die Emotion gemeinhin ein Gefühl, das der Innerlichkeit eines Individuums entstammt. Dahingegen begreift Spinoza Affektivität in der Doppelbewegung, zu affizieren und affiziert zu werden. Seine Perspektive öffnet sich zu einer Werdensphilosophie, die Menschen nicht anhand von einem festen Wesenskern begreift, sondern in beständigen dynamischen Prozessen betrachtet. Diese Denktradition wurde von Gilles Deleuze weitergeführt, dessen gemeinsames Werk mit Félix Guattari dem Affektbegriff zu neuer Prominenz verhalf.

Seit rund einem Jahrzehnt erfährt der Affektbegriff in akademischen Dioskuren starken Aufwind, und zwar im Zuge des sogenannten ‚affective turn‘.[ii] Affekttheoretische Ansätze grenzen sich dezidiert von der Emotionsforschung ab. Stellt man beide Begriffe holzschnittartig gegenüber, zielt der Emotionsbegriff stärker auf die Privatsphäre des Individuellen ab, wohingegen Affekte immer schon sozial aufgefasst werden, wodurch ihre öffentlichen, kollektiven und politischen Dimensionen aufscheinen. In diesem Verständnis gelten Unbestimmtheit, Körperlichkeit und Relationalität als Wesensmerkmale von Affektivität. Während Emotionen eine kulturgeschichtlich geprägte Semantik bergen, wie beispielsweise Scham oder Stolz, sind Affekte durch keine Bedeutung festgeschrieben. Außerdem werden sie oftmals als körperlicher Ausdruck aufgefasst, somit spielen affekttheoretische Studien den Körper in den Vordergrund. Vor allem wird Affektivität anhand von Relationalität bestimmt: Affekte situieren sich nicht in Subjekten, sondern im Dazwischen, dergestalt bestimmen sie soziale Dynamiken. In dieser Betrachtungsweise werden Menschen nicht als eingekapselte Individuen gedacht, sondern als soziale Wesen betrachtet, die durch ihre Bindungen und Beziehungen bestimmt und bedingt sind. Affektivität ist daher prä-personal, anstatt als Ausdruck eines Individuums zu gelten, ist sie diesem ontologisch vorgeschaltet. So schreiben Deleuze und Guattari: „[D]er Affekt ist kein persönliches Gefühl und auch keine Eigenschaft mehr, sondern eine Auswirkung der Kraft der Meute, die das Ich in Aufregung versetzt und taumeln läßt.“[iii] In dieser Perspektive agieren Menschen niemals rein rational, sie werden ebenso von ihren Passionen und Leidenschaften angespornt. Im Umkehrschluss bedeutet dies keinesfalls, dass Affektivität und Rationalität als starre Gegensätze zu begreifen wird. Das verdeutlicht schon die Politische Philosophie Spinozas, die in seiner geschichtlichen Gegenwart des 17 Jahrhunderts überaus progressiv war. Während tyrannische Herrschaften mit den Ressentimentdynamiken der „trübseligen Leidenschaften“ arbeiten, welche die Resonanzmöglichkeiten zwischen Subjekten reduzieren, sollte demokratische Politik den individuellen Gestaltungsspielraum und den sozialen Resonanzraum erweitern. Dabei bildet für Spinoza die kritische Reflexion der eigenen Empfindungen eine Prämisse für gute politische Praxis.

2. Die Politik und das Politische

In Anbetracht dieser kurzen Begriffsgeschichte des Affekts gilt es nun, die Unterscheidung zwischen Politik und dem Politischen in Anschlag zu bringen, um das Nahverhältnis zur Affektivität zu klären. Die Politik bezeichnet die Sphäre der institutionalisierten Prozesse, Beispiele für Räume der Politik bilden der Bundestag, die EU-Kommission oder der Berliner Senat. Im Gegensatz dazu wird der Begriff des Politischen wesentlich weiter gefast. Das Politische bezeichnet den „allgemeinen Existenzmodus oder die Erscheinungsweise, die überhaupt etwas als politisch erfahrbar macht“[iv]. Im Blick auf Affektivität lässt sich das Verhältnis zu Politik und dem Politischen doppelsträngig verstehen. Erstens: Die Politik steht nicht alleine im Zeichen der rationalen Argumentation, sie ist immer schon von Leidenschaften bestimmt. Selbst Max Weber, der Politik im Bollwerk der Bürokratie befürwortete, stellte fest, dass auch die legale Herrschaft der Demokratie nicht „nur bürokratisch, d.h. nur durch kontraktlich engagierte und ernannte Beamte geführt“[v] ist, schließlich muss auch die Berufspolitikerin affektiv involviert und motiviert sein, um ihre Arbeit zufriedenstellend anzugehen. Zweitens: Das Politische im breiten Verständnis eines Existenzmodus verweist darauf, dass Affekten eine eigene Politizität innewohnt. Anders ausgedrückt: Affekte sind politisch. Das verdeutlicht unter anderem die Forschung der feministischen Philosophin Sara Ahmed. Sie legt dar, wie Glücksvorstellungen, also vermeintlich zutiefst private, affektiv aufgeladene Sehnsuchtsbilder, an heteronormativen und rassifizierenden Normen ausgerichtet sind. So zeigt sie beispielsweise auf, wie man in Zeiten der Aufklärung koloniale Gewalt zu rechtfertigen versuchte, indem man im Zeichen des Utilitarismus vorgab, die Kolonialisierten pädagogisch anzuleiten, das größtmögliche Glück zu erringen. Der Glauben an kapitalistischen Fortschritt und die utilitaristische Glücksmaximierung dienten als affektive Legitimierungen von Leid, Grauen und Gewalt, während ebenjene sich humanistisch gebärdenden Denker von den Kolonialgeschäften und deren Ausbeutungsverhältnissen profilierten.[vi] Ein anderes Beispiel bildet das gegenwärtig gesellschaftlich weit verbreitete Glücksbild einer Kernfamilie im Eigenheim. Dieser Inbegriff der heterosexuellen Kleinfamilie prägt die immer noch verbreitete Meinung, dass queere Menschen solch ein Familienglück niemals erlangen könnten – ein Vorurteil, das jüngst der CDU-Politiker Friedrich Merz vorbrachte. Im Umkehrschluss werden denjenigen, die gegen diese ausschließenden Normen aufbegehren, als wütend, hysterisch und schlichtweg unvernünftig verunglimpft. Sei es die zornige Schwarze Frau oder die hysterische Feministin, die als Spielverderberinnen erscheinen und denen gerne unterstellt wird, anderen ihr Glück nicht zu gönnen. Im Umkehrschluss können diese Affekte, wenn sie in kollektiven Handlungsgefügen geäußert und geteilt werden, politischen Bewegungen ermöglichen, die alte Selbstverständlichkeiten aufbrechen und Machtverhältnisse anfechten, wie beispielsweise Black Lives Matter oder die Protestbewegung Ni Una Menos, die sich gegen die patriarchale Gewalt von Feminiziden wendet.

Kurzum, diese doppelte Perspektive macht sichtbar, dass sich die Politik nicht allein auf rationale Argumentationen beschränken lässt, stattdessen muss man den Blickwinkel dahingehend erweitern, welche affektiven Dynamiken sie durchziehen. Im Gegenzug zeigt sich, dass Gefühle nicht intim und individuell sind, stattdessen wohnt Affekten eine politische Dimension inne. Diese Betrachtungsweise eröffnet Aussichten auf das Prinzip der Gleichheit. Wenn man Menschen zuallererst als affektive Wesen begreift, die in ihrer Relationalität unweigerlich miteinander verbunden sind, muss man notwendigerweise vom Gleichheitsanspruch ausgehen, wie ihn die Menschenrechte vermittteln. Allerdings ist dieser Gleichheitsanspruchs, den die Politik verspricht, keineswegs durch diskursethische Prämissen gesichert und gewährt. Stattdessen wird das Gleichheitsversprechen fortwährend durch affektive Anerkennungsverweigerungen unterlaufen, die darauf abzielen, den Sprechraum der Politik abzuriegeln. Ebendies geschieht, wenn beispielsweise die Kritik an sexistischem Redeverhalten als Hysterie einer feministischen Spielverderberin diffamiert wird oder die Bedrohung durch rassistische Polizeigewalt als Paranoia abgetan wird. Nach dem Philosophen Jacque Rancière ist die Bühne der Politik und deren Modus der Repräsentation durch den Ausschluss derjenigen begrenzt, denen die Sprechposition aberkannt wird. Indem diese Ausschlüsse angefochten werden, entsteht ein Unvernehmen, ein beständiger Widerstreit, der das Politische umformt, welches Rancière als „Aufteilung des Sinnlichen“[vii] bezeichnet. Solch ein erweiterter Blick auf die Politik und das Politische verdeutlicht, wie wichtig das affektive Aufbegehren gegen derlei Ausschlussmechanismen und Anerkennungsverweigerungen ist – ein Aufbegehren, das einfordert, das Gleichheitsversprechen der Aufklärung einzulösen. Reaktionäre Affektpolitiken wie die Provokationen der AfD oder die Wutanfälle des ehemaligen Präsidenten Trump zielen darauf ab, den Sprechraum der Politik hermetisch abzuriegeln, ihre Rhetorik des Ressentiments folgt anti-egalitären Bestrebungen. Dagegen artikulieren die zornigen Proteste von Black Lives Matter oder Ni Una Menos ein Unvernehmen, das für Gleichheit eintritt. Sie machen deutlich, dass das Affektive politisch ist, und erweitern die Perspektiven auf Gleichheit und Gerechtigkeit.


Dr. Jule Govrin forscht an der Schnittstelle von Sozialphilosophie und Feministischer Politischer Philosophie und Ästhetik. Nach ihrer Promotion an der FU Berlin befasst sie sich derzeit an der Europa-Universität mit der politischen Dimension des Körpers. Sie ist Autorin von „Begehren und Ökonomie. Eine sozialphilosophische Studie“ (2020) und „Sex, Gott und Kapital. Houellebecqs Unterwerfung zwischen neoreaktionärer Rhetorik und postsäkularen Politiken“ (2016). Nebenbei ist sie journalistisch tätig, u.a. als Gastautorin bei ZEIT Online.


[i] Mohrmann, Judith (2015): Affekt und Revolution. Politisches Handeln nach Arendt und Kant. Frankfurt: Campus, S. 56.

[ii] Für einen vertieften Einblick in die Theoriegeschichte des ‚affective turn‘ vgl. Angerer, Marie-Luise (2007): Vom Begehren nach dem Affekt. Zürich: Diaphanes.

[iii] Deleuze, Gilles ; Guattari Félix (1992). Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Berlin: Merve, S. 328.

[iv] Andermann, Kerstin; Große Wiesmann, Hannah; Saar,Martin (2016): Nietzsche und das Politische. Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzschegesellschaft, S. 135.

[v] Weber, Max (1964): Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik. Stuttgart: Kröner, S 153

[vi] Ahmed, Sara (2010): The Promise of Happiness. Durham/London: Duke University Press.

[vii] Rancière, Jacques (2002) : Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt, Main: Suhrkamp, S. 38.

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