Das schwierige Sehen der Realität: Iris Murdoch über die Liebe
Von Eva-Maria Düringer (Tübingen)
Wenn Iris Murdoch über Liebe spricht, hat das wenig Romantisches an sich. Liebe ist bei ihr eine Kombination aus Arbeit und Abwarten. Und wenn wir beides erfolgreich geschafft haben, so ist der Lohn nicht das ewige Glück, die perfekte Partnerschaft oder der innere Frieden, sondern die Realität. Und dennoch ist das, was sich fast liest wie eine Abwertung der Liebe, eigentlich ein Lobgesang. Im Folgenden werde ich Murdochs Begriff der Liebe erläutern und anschließend darlegen, warum die Murdochsche Liebe fundamentaler und weniger irreführend ist als die vielgelobte Empathie.
„Love is the perception of individuals. Love is the extremely difficult realisation that something other than oneself is real.” (Iris Murdoch: Existentialist and Mystics, edited by P. Conradi, Penguin 1999, S. 215). Liebe ist die extrem schwere Wahrnehmung anderer. Was meint Murdoch damit? Bei der Beantwortung dieser Frage lohnt ein Umweg über Murdochs Romanfiguren. Immer wieder in ihren 26 Romanen tauchen Figuren auf, die der Liebe nicht fähig sind und deren Leben genau deshalb aus den Fugen geraten. Berühmtestes Beispiel ist vielleicht Charles Arrowby, der Protagonist in Das Meer, das Meer. Wie kaum ein anderer führt Charles uns vor Augen, wie Lieben genau nicht geht. Nach über vierzig Jahren trifft er zufällig seine Jugendliebe Hartley wieder. Charles glaubt zu wissen, dass Hartley ebenso unter der damaligen Trennung gelitten haben muss wie er, dass sie seitdem unglücklich gewesen ist und nun nur deshalb nicht zu ihm zurückkommt, weil sie von einem tyrannischen Ehemann festgehalten wird. Nachdem Hartley auf seine Vorschläge zu einer gemeinsamen Flucht nicht eingeht und ihn stattdessen fortwährend bittet, sie in Ruhe zu lassen, lockt er sie schließlich unter einem Vorwand in sein Haus und sperrt sie ein. Sie muss, so sagt er sich, zu ihrem Glück gezwungen werden. Natürlich klappt das nicht und man atmet mit Hartley auf, als sie schließlich mit ihrem Mann nach Australien auswandert und den Fängen Charles‘ endgültig entkommt.
Charles meint zu lieben und er tut doch das genaue Gegenteil. Eingangs sprach ich von Liebe als einer Kombination aus Arbeit und Abwarten. Charles verrichtet weder die notwendige Arbeit, noch wartet er ab. Die Arbeit, die ein Liebender verrichtet, ist Arbeit an sich selbst. Ja, sie ist gewissermaßen Arbeit gegen sich selbst. Was wir in den Griff bekommen müssen, was wir zähmen und, um mit der von Murdoch bewunderten Simone Weil zu sprechen, dekreieren müssen, ist das „big, fat, relentless ego“. Denn es ist unser Ego mit seiner Sehnsucht nach Anerkennung, Macht und Sicherheit, mit seiner Angst vor Einsamkeit, Peinlichkeit und Bedeutungslosigkeit, das unsere Sicht auf andere Menschen verzerrt. Lassen wir unser Ego walten, dann sehen wir andere durch eine Brille, die sie und ihr Tun unseren Sehnsüchten entsprechen und unsere Angst besänftigen lässt. In Charles‘ Augen ist Hartleys Zurückhaltung bloße Schüchternheit, ihre Zurückweisung ist erzwungen durch die Macht ihres Mannes, ein ruhiges Wort von ihr ist der Beginn des Zurückkommens zu ihm. Würde Charles Hartley wirklich lieben, so sähe er sie, wie sie ist: Sicherlich vom Leben gezeichnet, erschöpft vom Großziehen eines schwierigen Kindes und der Partnerschaft mit einem eifersüchtigen Mann, doch mit dem genuinen Wunsch, von Charles in Ruhe gelassen zu werden. Auch sähe er, dass das lang zurückliegende Beziehungsende keineswegs unglücklichen Umständen oder elterlichem Zwang geschuldet war, sondern dass Hartley schlicht mit ihm nicht glücklich war und sich damals keinen anderen Rat wusste, als spurlos von ihm fortzugehen.
In ihrem philosophischen Essay „The Idea of Perfection” gibt Murdoch uns eine etwas alltäglichere Anschauung an die Hand, das viel besprochene Beispiel von M und D. M ist die Schwiegermutter von D. Sie mag D nicht besonders und empfindet sie als albern, oberflächlich und vulgär. Doch M ist eine intelligente, mitfühlende und reflektierende Frau, die die Arbeit, derer die Liebe bedarf, nicht scheut. Sie denkt nach: „I am old-fashioned and conventional. I may be prejudiced and narrow-minded. I may be snobbish. I am certainly jealous. Let me look again.” (Iris Murdoch: The Sovereignty of Good, Routledge 2014, S. 17) Dieses Sich-Eingestehen von Fehlern, von Bedürfnissen, die möglicherweise Dinge und Personen schlechter aussehen lassen, als sie wirklich sind, diese Bereitschaft, noch einmal hinzusehen, obwohl man etwas sehen könnte, das weh tut – all dies ist die Arbeit, die ein Liebender verrichten. Und M sieht D beim nochmaligen Hinsehen tatsächlich anders. Statt Albernheit sieht sie Fröhlichkeit, statt Oberflächlichkeit gute Laune und statt Vulgarität eine erfrischende Direktheit.
Liebe ist eine Kombination von Arbeit und Abwarten. Wir haben nun ein klareres Bild der Arbeit. Wie steht es mit dem Abwarten? Ebenso wie die Idee der positiven Arbeit des Entselbstens, des Dekreierens, nimmt sich Murdoch die Idee des Abwartens, der attention, des attendre, von Simone Weil. Bei Weil verspricht die Kombination aus Entselbsten und Abwarten die Möglichkeit, Gott zu begegnen. Bei Murdoch verspricht sie die Einsicht in die Realität anderer, ebenso wie Einsicht in das Gute und Schöne. Bleiben wir bei der Realität anderer: Inwiefern hilft hier Warten? Worauf sollten wir warten? Wagen wir mit Murdoch einen Vergleich. Ebenso wie sich mir die Realität eines anderen Menschen nur dann öffnen kann, wenn ich ihm mit Liebe begegne, so kann sich mir die Realität einer anderen Sprache nur dann öffnen, wenn ich ihr mit Liebe begegne. Dies mag zunächst abwegig klingen, ist aber sehr plausibel. Stellen Sie sich wie Murdoch vor, Sie möchten Russisch lernen. Vielleicht brauchen Sie nur wenige Phrasen für Ihre nächste Geschäftsreise, die Sie sich schnell und ohne viel Mühe mittels einer App aneignen. Oder aber Sie belegen drei Kurse und fordern voller Überzeugung bei Ihrer Chefin eine Gehaltserhöhung, weil Sie ja jetzt Russisch sprechen. Oder Sie freuen sich darüber, bei Ihren High-Brow Freunden nun ein paar Dostojewski-Zitate im Original unterbringen zu können. All das hat mit Liebe nichts zu tun. Stellen Sie sich nun vor, Sie lernen Russisch mit Liebe:
Love of Russian leads me away from myself towards something alien to me, something which my consciousness cannot take over, swallow up, deny or make unreal. The honesty and humility required of the student – not to pretend to know what one does not – is the preparation for the honesty and humility of the scholar who does not even feel tempted to suppress the fact which damns his theory … Developing a Sprachgefühl is developing a judicious respectful sensibility to something which is very like another organism. (ibid, S. 87)
Was hier passiert ist die Anerkennung der Andersartigkeit von einem Gegenüber, die einhergeht mit der Anerkennung dessen, dass ich keine – überhaupt keine – Deutungshoheit über diese Andersartigkeit besitze. Alles, was ich tun kann, ist ein vorsichtiges Vortasten in diese Andersartigkeit mit der Hoffnung, langsam ein Gefühl für sie zu entwickeln. Ehrlichkeit und Demut sind gefragt, nicht vorschnelles Zu-Wissen-Meinen. Und genau hier wird die Wichtigkeit des Abwartens deutlich: Ebenso wie bei fremden Sprachen muss ich bei anderen Menschen viel Geduld haben, mir mein Nicht-Wissen immer wieder ins Gedächtnis rufen, um vorschnelle Urteile zu vermeiden, und darauf hoffen, dass sich ein Gefühl für den anderen mit der Zeit einstellt. Die Eigenheiten und das Besondere am Fremden zeigt sich mir nur, wenn ich die Geduld habe, darauf zu warten. Diese Geduld haben wir äußerst selten, ja, wir sehen meist nicht einmal ihre Notwendigkeit. Im Normalfall meinen wir, unser Gegenüber bereits nach wenigen Kontakten gut einschätzen zu können. Ein Blick auf die Kleidung, die Bestimmung einer Gruppenzugehörigkeit, ein bisschen Klatsch und Tratsch genügen für ein Gefühl, den anderen in Grundzügen zu kennen. Noch besser vermeinen wir langjährige Bekannte zu verstehen, gute Freundinnen, Familienmitglieder. Doch auch hier verstehen wir oft eigentlich sehr wenig. Die Gründe dafür sind die bereits beschriebenen: Wir sehen bevorzugt das, was uns zugutekommt und keine Unannehmlichkeiten macht. Zudem fehlt es uns an Geduld, an echtem Interesse und Zurückhaltung beim Urteilen.
Interessanterweise ist mangelnde Zurückhaltung beim Urteilen oft die Folge einer an sich guten Intention, nämlich anderen mit Empathie zu begegnen. Beim Gespräch mit der besten Freundin wollen wir wirklich verstehen, was sie durchmacht und versuchen, uns in sie hineinzuversetzen. Wir fragen uns, wie wir das empfinden würden, wenn wir plötzlich in Kurzarbeit arbeiten müssten, unser Kind mit ADHS diagnostiziert würde oder eine Ahnung hätten, dass unser Partner uns betrügt. So hoffen wir uns der Realität der anderen zu nähern. Tatsächlich aber, und dies verstehe ich als eine Kernansicht Murdochs, ist ein solches imaginäres Einfühlen sehr schnell sehr irreführend und birgt deshalb die Gefahr, uns vom anderen weiter zu distanzieren, statt ihn uns näher zu bringen. Das Problem ist, dass wir oft an diesem Punkt stehenbleiben: Wie wäre all das für uns? Die Antworten, egal, wie sie ausfallen, übertragen wir dann auf unser Gegenüber. Wirklich sehen können wir ihn mit dieser Praxis nicht, im Gegenteil. Wir sehen ein verzerrtes Abbild von uns selbst. In Bezug auf das Lernen einer fremden Sprache charakterisiert Murdoch diese Art des Sehens anderer als „take over, swallow up, deny or make unreal“, wie oben zitiert. Durch dieses vorschnelle, inakkurate Einordnen nehmen wir der anderen Person ihre Realität und ersetzen sie durch unser Bild. Sind wir jedoch der Murdochschen Liebe fähig, so passiert uns dies nicht. Der Liebende weiß die Empathie, das imaginäre Einfühlen in das Leben anderer, mit der gebotenen Vorsicht anzuwenden. Murdoch zweifelt nicht daran, dass unsere Vorstellungskraft ein wichtiges Instrument bei der Annäherung an andere ist. Doch wir müssen uns stets daran erinnern, dass das Vorgestellte höchstens grob und schemenhaft die Realität des anderen abbildet und es immer als Hypothese betrachten, die jederzeit widerlegt werden könnte.
Liebe ist eine Kombination aus Arbeit und Abwarten. Wir müssen daran arbeiten, unser Sehen von den Verzerrungen des Egos zu befreien und hoffend darauf warten, dass sich uns die Realität eines anderen zeigt. Die Murdochsche Liebe ist ein Lobgesang auf Andersartigkeit, die es verdient, als solche gesehen und anerkannt zu werden. Liebe ist kein Suchen nach Gleichem, kein Gleichmachen in empathisch-guten Absichten, sondern der höchst schwere Erwerb eines Gefühls für das Andere.
Eva-Maria Düringer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen und forscht zum DFG Projekt „Natural Badness: The Nature of Suffering and ist Role in Contemporary Virtue Ethics“. www.emduringer.de