15 Jun

Stolz und Vorurteil. Adaptive Erklärungen von Emotionen in der Evolutionspsychologie

Von Rebekka Hufendiek (Bern)


Stolz ist eine Emotion, die für viele Menschen recht unmittelbar nicht nur mit einem positiven Urteil über sich selbst und einem erhebenden Gefühl, sondern auch mit einer Reihe charakteristischer körperlicher Ausdrucksformen – wie einem siegesgewissen Lächeln, einem erhobenen Kinn und der sprichwörtlichen «Stolz geschwellten Brust» – assoziiert ist. Warum ist das so? Eine aktuelle Theorie aus der empirischen Psychologie beantwortet diese Frage folgendermaßen: Stolz hat sich bei uns als sozialen Wesen im Laufe der Evolution ausgebildet und lässt sich kulturübergreifend an den genannten Merkmalen erkennen. Diese Form des emotionalen Ausdrucks hat eine adaptive Funktion, da über ihn der soziale Status innerhalb der Gruppe kommuniziert wird: Der herausgestreckte Brustkorb und das erhobene Kinn gemeinsam mit dem siegesgewissen Lächeln signalisieren den anderen Mitgliedern der eigenen Gruppe, dass man sich selbst ganz buchstäblich für ein hohes Tier hält und diese Position gegebenenfalls auch zu verteidigen bereit ist.

Ich möchte hier in einem ersten Schritt ausführen, was für Aussagen über Stolz und seine Rolle im menschlichen Zusammenleben diese Theorie macht und inwiefern sie sich einer adaptiven Erklärung bedient. In einem zweiten Schritt werde ich etwas genauer erläutern, was adaptive Erklärungen sind und warum es allgemein sehr einfach ist, diese zu formulieren und sehr schwer, sie zu belegen. Schließlich möchte ich am Beispiel Stolz aufzeigen, dass adaptive Erklärungen von menschlichen Emotionen, da wo sie als Hypothesen mit einem interpretativen Anteil formuliert und transparent gemacht werden, einen spannenden Forschungsbeitrag leisten können. Da wo adaptive Erklärungen präsentiert werden als würden sie auf biologische Fakten verweisen, bekommen solche Theorien schnell einen ideologischen Beigeschmack.

1. Stolz, Status und Prestige

Die Psychologin Jessica Tracy hat zahlreiche Studien durchgeführt, die zeigen sollen, dass Stolz beim Menschen einen universalen körperlichen Ausdruck kennt, der kulturübergreifend wieder erkannt wird und evolutionsbiologisch bedingt ist. Studien in Burkina Faso beispielsweise sollen zeigen, dass Stolz anhand der Körperhaltung auch von Menschen erkannt wird, denen er nicht durch westliche Sehgewohnheiten vertraut ist. Studien mit blind geborenen Athlet*innen sollen zeigen, dass diese unmittelbar nach sportlichen Hochleistungen eine stolze Körperhaltung einnehmen, obwohl sie sie nicht durch Imitation gelernt haben können.

Tracy bleibt aber nicht bei der bloßen Feststellung stehen, dass Stolz kulturübergreifend einheitlich ausgedrückt wird, sondern zieht daraus weitreichende Konsequenzen. In ihrem Buch Take Pride (Tracy 2016) geht sie davon aus, dass Stolz eine evolutionär erworbene emotionale Reaktion ist, deren Ausdruck eine adaptive Funktion hat. Stolz signalisiert innerhalb von hierarchisch organisierten sozialen Gruppen den Anspruch auf einen hohen Status. Der so verstandene Stolz ist nicht unabhängig vom sozialen Umfeld und von anderen Emotionen: Scham wird dieser Theorie zufolge als Emotion verstanden, die sich ebenfalls evolutionär ausgebildet hat und eine konträre soziale Funktion hat: wer durch eine gebückte Körperhaltung und einen ausweichenden Blick Scham signalisiert, der ordnet sich den anderen Mitgliedern der Gruppe damit kampflos unter (status signaling function). Stolz und Scham könnten damit gemeinsam ein Problem lösen, dass sich innerhalb hierarchisch organisierter Gruppen stelle: Wer welchen Platz belegt, muss irgendwie erkennbar sein und allgemein akzeptiert werden, wenn es keinen permanenten Kampf um die Rangordnung innerhalb der Gruppe geben soll. Stolz und Scham hätten darüber hinaus noch eine zweite adaptive Funktion: sie können neben körperlicher Dominanz oder Unterlegenheit auch soziales Prestige aufgrund von Wissen oder Können anzeigen – oder eben dessen Fehlen (prestige signaling function). Die Annahme, dass der Ausdruck von Stolz eine natürliche Funktion habe, geht damit weit über das Attestieren einer widererkennbaren Form im Ausdruck hinaus.

Zusätzlich geht Tracy davon aus, dass nicht nur der mit Stolz verbundene körperliche Ausdruck, sondern auch die ihm zugehörigen kognitiven Mechanismen weitreichende adaptive Funktionen hätten. Stolz liege der Wahrnehmung unserer vielfältigen Verhältnisse zu anderen Menschen zugrunde. Stolz motiviere uns Großes leisten zu wollen und uns über andere zu stellen. Als mentale Disposition könne Stolz ein gesundes Selbstbewusstsein aber auch narzistische Tendenzen konstituieren. Schließlich nimmt Tracy an, dass Stolz in zwei unterschiedliche kognitive Mechanismen unterteilt werden könne, von denen einer der status signaling function und einer der prestige signaling function im Ausdruck zugeordnet werden. Beide Mechanismen spielten eine erhebliche Rolle bei der Ausbildung zentraler Charaktermerkmale. Die mit Prestige verbundenen kognitiven Mechanismen bedingten einen authentischen Stolz, der uns nach leadership im Sinne von Errungenschaften und moralischer Vorbildlichkeit streben lasse (hier nennt Tracy Bill Gates und Barack Obama als Beispiele). Die mit Status verbundenen Mechanismen bedingen einen überheblichen Stolz, der zu aggressivem Verhalten und Dominanzgebaren führe (hier stehen Lance Armstrong und Donald Trump Pate). Es sind also am Ende eine ganze Reihe von adaptiven Erklärungen, die bei Tracy den emotionalen Ausdruck, dahinterstehende kognitive Mechanismen und schließlich grundlegende Strukturen unserer Persönlichkeit erklären sollen. Mit diesen Annahmen verbunden sind zudem starke Annahmen darüber, in welchem Ausmaß menschliches Verhalten veränderbar ist. Tracys Theorie zufolge ist Stolz ein Merkmal, das zur menschlichen Natur gehört. Es kommt bei allen Menschen vor und bedingt grundlegende Züge unseres Charakters. Stolz als Antriebsmotor für Status und Prestige ließen sich entsprechend auch nicht aus unserer Persönlichkeit verbannen, aber wir könnten ihn stärker in die Obama- oder die Trump-Richtung kultivieren. Gegeben, dass Menschen über Stolz und Scham immer zur Hierarchie-Bildung motiviert sein werden, geht Tracy davon aus, dass wir auch diese nicht aus unseren Gemeinschaften verbannen könnten. Selbst die egalitärste Gemeinschaft käme nicht ohne Stolz-motivierte Hierarchien aus.

 Man kann vielleicht in aller Vagheit sagen, dass dies ein holistischer Erklärungsanspruch ist. Es muss nicht nur die Funktion der Teilkomponente belegt werden, sondern die Rolle, die diese Komponente im Gesamtsystem spielt, wie sie sich zu anderen Komponenten und deren Funktion verhält und wie zu unserer sich im Lauf der Zeit verändernden Umwelt. Im Folgenden möchte ich erläutern, warum dies für adaptive Erklärungen typisch ist.

2. Was erklären adaptive Erklärungen und wann sind sie gut belegt?

Gibt man eine adaptive Erklärung, so nimmt man an, dass ein Merkmal sich im Laufe der Evolution ausgebildet hat, weil es den entsprechenden Mitgliedern einen Vorteil bei der Reproduktion verschafft hat. Eine solche Erklärung gibt also eine Antwort auf die Frage, warum ein Merkmal da ist, indem es erklärt, zu welchem Zweck es sich einmal ausgebildet hat. Insofern wir fragen, wann und wie dieses Merkmal entstanden ist, handelt es sich um eine kausal-historische Erklärung. Insofern wir die Entstehungsgeschichte mit Verweis auf den Zweck (oder Beitrag zum Reproduktionserfolg) beantworten, handelt es sich um eine funktionale Erklärung.

Um dem kausal-historischen Teil der Erklärung Genüge zu tun, müsste man rekonstruieren, in welchen Schritten sich das Merkmal ausgebildet hat. Bei Verhaltensweisen und kognitiven Mechanismen ist das aber kaum jemals möglich, da sie z. B. keine Spuren in Fossilien hinterlassen haben, die hierüber Aufschluss geben könnten. Entsprechend sucht man hier eher nach Hinweisen, die einen evolutionären Ursprung wahrscheinlich machen, wie z.B. dass ein Merkmal

  • kulturübergreifend vorkommt
  • schon früh in der Ontogenese auftritt / nicht erlernt wird
  • nicht offensichtlich erst vor kurzem innerhalb spezifischer sozialer Kontexte entstanden ist
  • sich zumindest in ähnlicher Form bei uns nahe verwandten Spezies findet

Selbst wenn ein evolutionärer Ursprung des Merkmals naheliegt, besagt das aber noch nicht, dass das Merkmal überhaupt eine Funktion hat, denn es könnte auch zufällig oder im Zusammenhang mit einem anderen funktionalen Merkmal entstanden sein. Die eigentlich schwierige Aufgabe für eine adaptive Erklärung besteht also darin, dass gezeigt werden muss, dass ein Merkmal wie Stolz in einer Spezies weitergegeben worden ist, weil es eine bestimmte Wirkung hatte, die damals von Nutzen für das Überleben und den Fortpflanzungserfolg war. Um das unmittelbar zu belegen, müsste man nicht nur zeigen, wann sich ein Merkmal ausgebildet hat, sondern dass dieses Merkmal dem Überleben der Spezies so zuträglich war, dass es aufgrund dieses Nutzens weiter reproduziert worden ist.

          Dieser Zusammenhang von Entstehung aufgrund von Nutzen ist eigentlich gar nicht durch einzelne historische Rekonstruktionen zu belegen, sondern nur wenn man viele Populationen ähnlicher Art unter ähnlichen Umständen beobachten kann, bei denen je einzelne Faktoren in der Entwicklung variieren. Hier kann man zu plausiblen Rückschlüssen darüber kommen, unter welchen Bedingungen bestimmte Merkmale, aufgrund des Vorteils, den sie bewirken, weitergegeben werden. Diese Art von kausaler Modellierung ist schon für die Erforschung menschlicher Verhaltens- und Kognitionsmerkmale in der Gegenwart schwer zu bewerkstelligen, weil die Komplexität der Vergleichbarkeit der Modelle im Weg steht. Adaptive Erklärungen kranken aber zusätzlich daran, dass sie diese Modellbildung mit Blick auf eine weit zurückliegende Vergangenheit betreiben müssten, über die wir nur lückenhaftes Wissen haben. Wir können Primaten als Modelle für den letzten gemeinsamen Vorfahren heranziehen und nomadisch lebende Kulturen als Kulturen deren Lebensform der des frühen homo sapiens ähnlicher ist als unsere, wir können das, was wir über Klima und Umwelt vor 200 000 Jahren wissen zusammentragen und Spieltheoretische Modelle verwenden. All dies mag interessante Annahmen über die Vergangenheit und den Nutzen bestimmter Merkmale bei ihrer Entstehung generieren. Man sieht aber schnell, dass es sich hier nicht um solide faktenbasierte Erklärungen über reale kausale Abläufe handelt.  Ich möchte nun zum einen hervorheben, dass wir es bei adaptiven Erklärungen menschlicher Merkmale eigentlich immer einen sehr stark hypothetischen Charakter haben. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist aber, dass die Qualität einer solchen adaptiven Hypothese eher daran bemessen werden sollte, wie gut dem holistischen und interpretativen Charakter Rechnung getragen wird.

Adaptive Erklärungen menschlichen Verhaltens oder kognitiver Fähigkeiten, so mein Vorschlag, sollten nicht als Erklärungen angesehen werden, die Fragen danach «wie es wirklich war» oder gar «wofür ein Merkmal wirklich gut ist» beantworten können. Indem wir aber versuchen, mögliche historische Entstehungskontexte zu rekonstruieren und die Vorteile und Nachteile eines Merkmals in verschiedenen Kontexten durchspielen, indem wir das Merkmal in einem Gesamtsystem verorten und fragen, welche anderen Merkmale da sein müssen, damit dieses Merkmal seine Funktion erfüllen kann und welche weiteren Merkmale wiederum durch dieses Merkmal gestützt werden, können adaptive Erklärungen einen Beitrag zu unserem Selbstverständnis leisten und weitere Forschung inspirieren. So verstanden sind adaptive Erklärungen holistische, interpretative Hypothesen, die aus vielen Studien eine plausible Annahme darüber ableiten wofür ein Merkmal gut ist bzw. war.

Es ist wichtig den interpretativen Charakter dieser Annahmen zu betonen, da die tatsächliche Evidenz sehr viel dünner ist als man es von wissenschaftlichen Erklärungen eigentlich erwartet. Gleichzeitig sind die Annahmen, die man über den Menschen und sein soziales Umfeld macht, weitreichend und haben starke instrumentelle Implikationen, etwa darüber, was an uns und unseren Gemeinschaften leicht veränderbar ist und was eher nicht. Wo sich adaptive Erklärungen über menschliche Merkmale als faktenbasiert ausgeben, bekommen sie – wie ich im nächsten Teil näher zeigen möchte – schnell einen ideologischen Beigeschmack.

3. Interpretation und Ideologie

Kommen wir also abschließend zurück zu Tracys Annahme, Stolz habe sich evolutionär ausgebildet, da er innerhalb der sozialen Gruppe Status und Prestige anzeigen würde. Um dies empirisch möglichst plausibel zu machen, muss in einem ersten Schritt gezeigt werden, dass Stolz Resultat der biologischen Evolution ist und nicht etwa durch kulturelle Selektion oder Sozialkonstruktion entstanden ist. In einem zweiten Schritt muss mit Blick auf den historischen Kontext plausibel gemacht werden, dass das Signalisieren des Status den Reproduktionserfolg einzelner Mitglieder oder der Gruppe vergrößert hat und sich deshalb durchgesetzt hat.

Tracys Studien zur kulturübergreifenden Präsenz einer stolzen Körperhaltung, die nicht auf Imitationslernen zurückgeführt werden können, sind zweifellos interessant. Sie sind aber keinesfalls unumstritten. Die Psychologin Lisa Feldman Barrett etwa vertritt in ihrem jüngsten Buch die These, dass keine Emotion eine adaptive Funktion hat, sondern Emotionen allgemein erst durch einen Lernprozess in einem sozialen Kontext neuronal kategorisierbar werden und eine Funktion bekommen (Barrett 2017). Tracy geht auf solch alternative konstruktivistische Konzeptionen in ihrem Buch nicht ein.

Nehmen wir aber – for the sake of the argument – einmal an, es wäre einwandfrei belegt, dass Stolz ein bei allen Menschen vorhandenes Merkmal ist, das nicht erlernt wird und aus einem biologischen Evolutionsprozess hervorgegangen ist. Wie wir oben gesehen haben, ist damit noch nicht einmal gesagt, dass Stolz überhaupt eine adaptive Funktion hat. Für die spezifisch adaptive Hypothese, dass Stolz eine wichtige Funktion beim Signalisieren von Status und Prestige hatte und sich deshalb reproduziert hat, liefert Tracy kaum Evidenz, die der Diskussion wert wäre (Hufendiek 2020). Ihre Annahmen bleiben damit Hypothesen über die menschliche Natur.

Nach meinem Dafürhalten können solche Hypothesen durchaus interessant sein. Ihre Qualität hängt aber daran, dass sie ihrem holistischen Charakter Rechnung tragen, indem sie a) Studien aus verschiedenen Bereichen in einen kohärenten Zusammenhang bringen und b) ersichtlich machen, wie ein Merkmal seine Funktion innerhalb eines komplexen Systems ausführt. Von welchen anderen Merkmal hängt es ab? Welche anderen Merkmale bedingt es? Die interpretative Qualität hängt nun vor allen Dingen davon ab, dass auch alternative Erklärungen in Erwägung gezogen werden und gezeigt wird, dass die eigene Erklärung empirische Daten besser integrieren kann. Wie verhält es sich hier im Bezug auf das Beispiel Stolz?

Es gibt ein paar interessante Dinge, die wir über die Funktion von Stolz sagen können, ohne überhaupt empirische Belege zu brauchen. Stolz ist ganz ohne Zweifel ein Merkmal, das nur in einem sozialen Kontext sinnvoll ist. Die Vorstellung, die Evolution habe Wesen hervorgebracht, die ein Einzelgänger-Dasein fristen, aber über komplexe soziale Emotionen wie Stolz, Scham oder Schuld verfügen, ist absurd. Es gibt in der Psychologie und der Philosophie des Geistes Auseinandersetzungen darüber, ob Stolz einen expliziten Begriff von sich selbst im Verhältnis zu anderen und ein Verständnis von sozialen Normen voraussetzt oder diese im Gegenteil mithervorbringt (Hufendiek 2015), aber unabhängig davon, wie wir diese Frage beantworten, wird niemand bestreiten, dass Stolz in komplex strukturierte soziale Zusammenhänge eingebettet ist und uns befähigt, auf diese zu reagieren.

Tracy vertritt nun aber eine spezifischere These, was die Funktion von Stolz und deren Entstehungskontext angeht. Zur Begründung dieser präsentiert sie eine Art optimality-argument: Stolz und Scham seien Lösungen eines bestimmten Problems gewesen, da sie helfen könnten, permanente Konflikte in hierarchisch strukturierten Gruppen zu vermeiden. Eine solch spezifische These verlangt aber wie gesagt nicht nur mehr empirische Abstützung als uns angeboten wird, sondern wir müssen überhaupt irgendwie in den Bereich kommen, wo diese Erklärung plausibler als alle möglichen anderen ist. Es stellen sich hier eine ganze Menge von Fragen an den sozialen Zusammenhang: Wie organisieren sich hierarchische Gruppen ganz allgemein? Und wie organisierten sie sich vermutlich zu dem Zeitpunkt, auf den Tracy sich hier bezieht? Welcher Zeitpunkt ist das überhaupt? Meint Tracy jene Hierarchien, die aufgrund der Beobachtung von Schimpansenverhalten häufig dem letzten gemeinsamen Vorfahren vor 6 Millionen Jahren zugeschrieben werden? Oder eher jene von denen angenommen wird, dass sie sich verstärkt in wachsenden Gruppen vor etwa 10 000 Jahren ausgebildet haben? Woher wissen wir überhaupt, dass Stolz und Scham Reaktionen auf Hierarchien sind und nicht etwa aus ganz anderen Gründen entstanden sind und dann Hierarchien nach sich gezogen haben? In Tracys Buch selbst werden Stolz und Scham einerseits als Reaktionen auf vorhandene Hierarchien erklärt, dienen dann aber wieder als Grund dafür, dass wir Hierarchien nicht loswerden können. Wie verändern sich bestimmte Interaktionen in An- und Abwesenheit von Stolz oder Scham? Was wären andere Möglichkeiten permanente Konflikte innerhalb von Hierarchien zu vermeiden? Sind diese kostspieliger oder weniger erfolgreich als andere? Wie lässt sich ausschließen, dass Stolz und Scham Zufallsprodukte der Evolution sind, die in Hierarchien eine Rolle spielen, ohne dass das jemals von Nutzen gewesen wäre? Und woher wissen wir, dass wir uns nicht unter den richtigen Umständen auch gänzlich ohne diese Emotionen kooperativ organisieren könnten?

Da, wo empirische Studien zur Omnipräsenz bestimmter emotionaler Reaktionen uns Anlass geben, über all diese Fragen näher nachzudenken, leisten sie einen interessanten Beitrag zur Selbsterkenntnis. Wo adaptive Erklärungen als biologische Fakten über unsere Natur ausgegeben werden, bekommen sie schnell einen ideologischen Drall. Ideologie im engeren Sinne wird häufig als Menge von Überzeugungen einer bestimmten Gruppe verstanden, die dazu dient, soziale Unterdrückungsmechanismen zu stabilisieren (Shelby 2003).  Es ist sicher nicht Tracys Absicht einen Beitrag zu einer solchen Ideologie zu leisten. Es ist aber ein wesentliches Mittel von Ideologien, Merkmale zu normalen Bestandteilen der menschlichen Natur erklären und damit auch die Spielräume für sozialen Wandel in der Theorie zu verengen.

Indem adaptive Erklärungen den Eindruck erwecken, es gäbe solide empirische Gründe dafür einer Emotion wie Stolz eine biologische Funktion zuzuschreiben, machen sie sehr viele implizite Annahmen. In Tracys Buch sind diese in weiten Teilen sogar recht explizit und folgen zum Teil auch nur lose aus der adaptiven Erklärung: Es wird vorausgesetzt, dass Stolz und Scham sich im Kontext hierarchischer Organisation entwickelt haben und hier eine koordinierende und Konflikt reduzierende Funktion haben. Da Stolz und Scham zugleich bis heute fundamentale Teile unseres Selbstbewusstseins und unseres Charakters bilden, bringen wir durch unsere Emotionen auch permanent neue hierarchische Strukturen hervor und können gar nicht anders. Stolz und Scham werden bei Tracy zu zentralen Ursachen dafür, dass Menschen nicht in vollständig Hierarchiefreien Zusammenhängen leben können. Schließlich vertritt Tracy die These, dass Stolz in zwei sehr verschiedenen Ausprägungen bei allen Menschen vorkommt, dass es jedoch sehr unterschiedlich ist, ob die authentische oder die überhebliche Variante des Stolzes den Charakter dominiert. Allein die Wahl der exemplarischen Charaktere Obama und Trump und die wenig subtile Empfehlung, den inneren Obama zum eigenen und gesellschaftlichen Wohl möglichst gut zu kultivieren, wirft viele Fragen auf. Wie ist Tracy von biologischen zu sozialen oder gar moralischen Normen gelangt? Ah, einfach so. Sie nimmt an, dass hierarchische Organisation unausweichlich ist, dass es verschiedene Formen gibt, gesellschaftliche Hierarchien auszubilden, die mit den zwei Arten von Stolz zu tun haben und verbindet alles mit der vollständig unbegründeten moralischen Annahme, dass authentischer Stolz die Art von Stolz ist «that should make people leaders.»

Diese lose Art und Weise politisch motivierte Annahmen in der vermeintlichen Natur des Menschen zu verorten ist nun a) für den Umgang mit adaptiven Erklärungen menschlicher Merkmale sehr typisch, b) als Folgerung aus empirischen Studien wenig überzeugend und c) verspielt die Möglichkeit, gute holistische, interpretative Annahmen anzubieten. Aus ideologiekritischer Warte könnte man die Hypothese wagen, dass Tracy die zwei Arten von Stolz, die sie in Trump und Obama exemplifiziert sieht, vorschnell zu biologisch bedingten menschlichen Charaktermerkmalen verallgemeinert und dass sie damit auch einen aktuellen  Prozess der politischen Polarisierung vorschnell zu einem allgemein menschlichen Phänomen erklärt.


Literatur

Barrett, Lisa Feldman. 2017. How Emotions Are Made: The Secret Life of the Brain. Boston: Houghton Mifflin Harcourt.

Hufendiek, Rebekka. 2015. Embodied Emotions: A Naturalist Approach to a Normative Phenomenon. Routledge.

———. 2020. “From Natural Hierarchy Signals to Social Norm-Enforcers. What Good Are Functional Explanations of Shame and Pride?” In Social Functions in Philosophy: Metaphysical, Normative, and Methodological Perspectives, edited by Rebekka Hufendiek, Daniel James, and Raphael van Riel, 93–121. New York London: Routledge.

Shelby, Tommie. 2003. “Ideology, Racism, and Critical Social Theory.” The Philosophical Forum 34 (2): 153–88. https://doi.org/10.1111/1467-9191.00132.

Tracy, Jessica. 2016. Take Pride: Why the Deadliest Sin Holds the Secret to Human Success. http://public.eblib.com/choice/publicfullrecord.aspx?p=4187795.


Rebekka Hufendiek ist Professorin für Philosophie an der Universität Bern.

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