Von religiösen Eiferern und Fanatikern
Von Ruth Rebecca Tietjen (Kopenhagen)
Von religiösem Eifer ist allerorts die Rede: er wird angeführt, um religiös motivierte oder legitimierte Gewalt zu erklären, soll religiösen Fanatismus motivieren oder sogar mit konstituieren. Was aber ist religiöser Eifer? Wie hängt er mit religiöser Gewalt zusammen? Was trägt unsere jeweils eigene Perspektive auf Religion, Leidenschaft, Politik und Gewalt, die wir immer schon mitbringen und einnehmen, zu unserem Verständnis oder Miss-Verständnis religiösen Eifers bei?
In der deutschen Alltagssprache ist der Begriff religiösen Eifers primär negativ konnotiert. Wir bringen ihn mit religiöser Gewalt und Fanatismus in Verbindung. Man denke etwa an die islamistisch motivierte Ermordung des Lehrers Samuel Paty in einem Pariser Vorort, Anschläge auf Homosexuelle durch ultraorthodoxe Juden in Israel oder die Ermordung von „Abtreibungsärzten“ durch evangelikale Christen in den Vereinigten Staaten, ganz zu schweigen von kollektiven Formen religiöser Gewalt wie der Kriegsführung des Islamischen Staates im Irak und in Syrien oder der Gewalt buddhistischer Mönche gegen muslimische Minderheiten in Burma, Sri Lanka und Thailand.
Bei genauerem Hinsehen aber ist Eifer nicht einfach nur ein Phänomen, das wir verabscheuen und verurteilen. Es ist auch Gegenstand von Anerkennung und Faszination. Wir bewundern Menschen, die sich voller Leidenschaft einer Sache oder Idee hingeben. Dies wird besonders dann deutlich, wenn wir neben religiösen auch nicht-religiöse Formen des Eifers und Enthusiasmus in unsere Betrachtung einbeziehen. Man denke etwa an die Begeisterung eines Fußballfans für seine Mannschaft oder an Künstler, Wissenschaftler oder Ärzte, für die ihre Tätigkeit nicht bloß Beruf, sondern Berufung ist, für die sie in anderen Bereichen des Lebens erhebliche Opfer zu bringen bereit sind.
Auch wenn unsere Skepsis wächst, sobald es um mehr geht als ein bloßes „Hobby“ (wie im Falle des Fußballfans) und Geltungsansprüche nicht nur für das jeweils eigene Leben erhoben werden (wie im Falle der Künstlerin, Wissenschaftlerin oder Ärztin), sondern für das Leben mehrerer oder gar aller, sind doch auch politische Leidenschaften Gegenstand unserer Bewunderung – selbst dann, wenn sie mitunter religiös motiviert sind. Man denke etwa an den leidenschaftlichen Kampf US-Amerikanischer Abolitionisten im 19. Jahrhundert, der zumindest in Teilen religiös motiviert war und schließlich zur Abschaffung der Sklaverei geführt hat. Große Ideen lassen sich nur, wie vielfach bemerkt, mit großer Leidenschaft verwirklichen, insbesondere dann, wenn sie die bestehende sozial-politische Ordnung infrage stellen und zu revolutionieren streben.
All diese Beispiele sind freilich nicht unkontrovers. Unsere Toleranz für Fußballfans endet spätestens dann, wenn sie zu gewalttätigen Hooligans werden. Es ist hochkontrovers, ob wir Künstler (Wissenschaftler oder Ärzte) für ihre Leidenschaft bewundern sollten, wenn sie für deren Realisierung das Glück anderer opfern, etwa indem sie ihre Familie zurücklassen oder sexuelle Beziehungen mit Minderjährigen eingehen. Und unsere Anerkennung für den Befreiungskampf US-Amerikanischer Abolitionisten ist an die Voraussetzung gebunden, dass wir ihre politische Position teilen.
Diese Betrachtungen laden uns dazu ein, darauf zu reflektieren, ob religiöser Eifer möglicherweise ein in ähnlicher Form ambivalentes Phänomen sein könnte. Ein Phänomen, das mit politischen Ambitionen einhergehen kann, aber auch auf das eigene Leben oder gar einen bestimmten Bereich des eigenen Lebens beschränkt bleiben kann. Ein Phänomen, das gewalttätige Formen annehmen kann, aber nicht muss. Ein Phänomen, das je nach Ausformung und Perspektive in ethischer und politischer Hinsicht unterschiedlich zu bewerten ist. Um ein solches Verständnis religiösen Eifers zu entwickeln, müssen wir die pejorative Konnotation des Begriffs religiösen Eifers zunächst einklammern und ein neutraleres Verständnis dessen entwickeln, was religiöser Eifer als ein affektives Phänomen eigentlich ist, um dann im zweiten Schritt auf die Frage nach dem Verhältnis religiösen Eifers und religiöser Gewalt zurückzukommen. Dies möchte ich im Folgenden tun.
Was ist religiöser Eifer?
Es ist schwierig, den Charakter affektiver Phänomene wie desjenigen des religiösen Eifers in der prosaischen Sprache der Wissenschaft zu erfassen. Weitaus häufiger werden sie in metaphorischer Sprache beschrieben. Wir sagen, dass jemand für eine Idee brennt oder sich mit glühendem Eifer einer Sache hingibt. Die zur Beschreibung von Eifer dominierenden Metaphern von Hitze, Glut und Feuer deuten darauf hin, dass wir es beim religiösen Eifer mit der leidenschaftlichen, identitätsstiftenden Hingabe an eine als absolut verstandene religiöse Sache oder Idee zu tun haben, die kompromissloses Handeln motiviert. Was genau ist damit gemeint?
Die Tatsache, dass es sich beim religiösen Eifer um eine leidenschaftliche, identitätsstiftende Hingabe an eine als absolut verstandene religiöse Sache oder Idee handelt, qualifiziert religiösen Eifer als einen affektiven Zustand und zwar genauer: als eine bestimmte Art von affektivem Zustand, nämlich eine Passion oder Leidenschaft. Passionen sind affektive Bindungen an Objekte, die uns mit zu derjenigen Person machen, die wir sind, und unserem Leben Kontinuität, Kohärenz und Bedeutsamkeit verleihen. Meine Liebe zu meinen Kindern, meine Begeisterung für Dichtung und Philosophie und meine Bindung an den Wert der Emanzipation sind konstitutiv für mein Selbstverständnis als Person. Gäbe ich diese affektiven Bindungen auf, so hätte ich Schwierigkeiten, mich selbst zu verstehen – ebenso wie andere Schwierigkeiten hätten, mich zu verstehen – und mein Selbstwertgefühl wäre beeinträchtigt, weil es sich um Beschreibungen handelt, unter denen ich mich wertschätze (was freilich nicht bedeutet, dass ein Wandel unserer Leidenschaften immer schlecht wäre).
Die Tatsache, dass es sich um eine identitätsstiftende affektive Bindung an ein Objekt handelt, unterscheidet Passionen von anderen Arten affektiver Zustände wie etwa meinem rein kontingenten akuten Verlangen nach einer kalten Limonade oder meinem Ärger über das diskriminierende Verhalten meiner Vorgesetzen, der die konkrete Situation, in der ich mich befinde, auf der Grundlage meiner Bindung an den Wert der Gerechtigkeit bewertet.
Auf kognitiver Ebene ist religiöser Eifer dadurch gekennzeichnet, dass einer religiösen Sache oder Idee absoluter Wert oder unbedingte Bedeutsamkeit zugeschrieben wird, also ein Wert, der nicht unter Rekurs auf andere Bewertungsmaßstäbe relativiert werden kann. Wir wertschätzen das betreffende Objekt nicht im bloß instrumentellen Sinne, aufgrund seines Beitrags zur Realisierung anderer Werte, denen wir uns verpflichtet fühlen, sondern um seiner selbst willen. Hierin ähnelt religiöser Eifer anderen Passionen wie etwa Liebe.
Mit der Beschreibung von religiösem Eifer als leidenschaftlicher, identitätsstiftender Hingabe an ein religiöses Objekt absoluten Wertes ist das Wesen religiösen Eifers aber noch nicht in Gänze erfasst. Damit wir es mit einem Fall religiösen Eifers zu tun haben, muss sich der betreffende Zustand auch im Verhalten und Handeln der Person äußern – und zwar wiederholt und regelmäßig. Jemanden, der sich selbst als leidenschaftlicher Gläubiger versteht, dessen leidenschaftlicher Glaube sich aber in keiner Form in seinem Verhalten und Handeln (Denken und Fühlen) ausdrückt, würden wir nicht als religiösen Eiferer bezeichnen.
Dabei ist es charakteristisch, dass sich die Person mit ganzer Willens- und Tatkraft ihrem Handeln hingibt. Genauer geht religiöser Eifer mit einer dreifachen Form der Kompromisslosigkeit einher. Erstens ist der Eiferer in seinem Engagement für das Objekt seines Eifers kompromisslos insofern außerfrage steht, ob er überhaupt handeln soll. Sein Eifer übersetzt sich notwendig in sein Verhalten und Handeln. Zweitens ist der Eiferer kompromisslos in der Art und Weise, wie er die betreffenden Handlungen ausführt, nämlich mit voller Willens- und Tatkraft. Drittens ist er kompromisslos in der Wahl seiner Mittel zur Realisierung der betreffenden Handlungen.
In der für den Zustand des religiösen Eifers charakteristischen Kompromisslosigkeit deutet sich das Gewaltpotenzial religiösen Eifers an. Es liegt im Wesen religiösen Eifers und des Eifers überhaupt, dass er eine gewisse Form von Opferbereitschaft einschließt. Es ist aber wichtig, im Blick zu behalten, dass Kompromisslosigkeit und Opferbereitschaft hier zunächst in einem neutralen Sinne zu verstehen sind. Dass es sich nicht zwangsläufig um negativ zu bewertende Merkmale handelt, wird etwa dann deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die für den Zustand des Eifers charakteristische Willens- und Tatkraft auch mit Willensschwäche oder Wankelmut kontrastiert werden kann – Zuständen, die wir für gemeinhin negativ beurteilen. Bevor wir uns näher der Frage nach dem Verhältnis zwischen religiösem Eifer und Gewalt zuwenden können, muss aber auf ein letztes Merkmal religiösen Eifers eingegangen werden, nämlich den genuin religiösen Charakter religiösen Eifers.
Bisher habe ich religiösen Eifer als leidenschaftliche, identitätsstiftende Hingabe an einen als absolut verstandenen Wert beschrieben, die kompromissloses Handeln motiviert. Eine solche Beschreibung trifft jedoch nicht nur auf religiöse, sondern auch auf andere – etwa moralische oder politische Formen – des Eifers zu. Man denke etwa an passionierte Demokraten, Kommunisten oder Nationalsozialisten, die sich voller Eifer der Realisierung der von ihnen absolut gesetzten politischen Idee von Demokratie, Kommunismus oder Nationalsozialismus hingeben. Was also ist es, das religiösen Eifer gegenüber anderen Formen des Eifers auszeichnet?
Zunächst einmal lässt sich religiöser Eifer dadurch von anderen Formen des Eifers wie etwa politischem Enthusiasmus abgrenzen, dass er auf ein transzendentes (religiöses) Objekt gerichtet ist, im Falle monotheistischer Religionen paradigmatischer Weise Gott. Darüber hinaus lässt sich argumentieren, dass religiöse Objekte als Objekte des Eifers in besonderer Weise taugen. So besteht per definitionem eine Diskrepanz zwischen dem Vorliegen epistemischer Gründe und dem Grad der Überzeugung – andernfalls hätten wir es nicht mit einer Form des Glaubens zu tun. Weiterhin steht im Zentrum von Religion nicht irgendein absoluter Wert, sondern – folgen wir prominenten Religionsverständnissen wie denjenigen Émile Durkheims oder Rudolf Ottos – der Wert des Heiligen und damit, so könnte man argumentieren, die höchste Form absoluten Werts. Schließlich und zuletzt ließe sich geltend machen, dass monotheistische Religionen eine spezifische Form kompromisslosen Handelns erfordern, nämlich die Befolgung göttlicher Gebote.
Dies würde bedeuten, dass religiöser Eifer gegenüber anderen Formen des Eifers nicht nur durch eine spezifische Art von Objekt ausgezeichnet ist, sondern dass die kognitiven, affektiven und motivationalen Merkmale im religiösen Eifer auch in besonderer Form ausgeprägt sind. Allgemeiner sehen wir hier, dass die Frage danach, was religiöser Eifer ist, unmittelbar mit der Frage danach verwoben ist, was Religion ist, und dass der Versuch, religiösen Eifer zu konzeptualisieren, uns auch zur kritischen Reflexion auf die methodologische Frage zwingt, inwiefern wir von religiösem Eifer im Allgemeinen eigentlich sprechen können oder nicht immer schon eine spezifische Religion in den Blick nehmen und nehmen müssen (wie ich es mit dem Fokus auf die Abrahamitischen Religionen zumindest ein Stück weit getan habe).
Religiöser Eifer und Gewalt
Im vorangehenden Abschnitt habe ich religiösen Eifer als leidenschaftliche, identitätsstiftende Hingabe an eine als absolut verstandene religiöse Sache oder Idee beschrieben, die kompromissloses Handeln motiviert. Was nun bedeutet solch eine Charakterisierung für das Verhältnis zwischen religiösem Eifer und Gewalt?
Zunächst ist hervorzuheben, dass die Konzeptualisierung religiösen Eifers als leidenschaftliches, identitätsstiftendes Engagement für eine als absolut verstandene Sache oder Idee es erlaubt, verschiedenen Erscheinungsformen religiösen Eifers Rechnung zu tragen. Ebenso wie wir voller Eifer einem Hobby nachgehen, unser Leben unserer Berufung widmen oder uns voller Enthusiasmus für eine Umgestaltung der Gesellschaft einsetzen können, kann auch religiöser Eifer auf einen bestimmten Bereich des eigenen Lebens beschränkt sein, die Gestalt einer privaten Lebensform oder sozial-politischen Engagements einnehmen. Man denke etwa an einen Gläubigen, der voller Eifer seinen Glaubenspflichten nachkommt, aber ein rituelles Verständnis von Religion hat, dessen Geltungsanspruch auf bestimmte Bereiche seines jeweils eigenen Lebens beschränkt ist. Man denke an einen Asketen, der sich voller Hingabe dem Ziel religiöser Selbsttransformation hingibt, ohne dabei aber nach sozialen oder politischen Veränderungen zu streben. Man denke schließlich an einen religiös motivierten politischen Aktivisten. Obwohl wir es in allen drei Fällen mit der Zuschreibung eines absoluten Wertes zu tun haben, unterscheiden sich die Fälle im Geltungsanspruch des Wertes.
Zweitens trägt die entwickelte Begriffsbestimmung der Tatsache Rechnung, dass sich religiöser Eifer einerseits nicht notwendig in Gewalt artikuliert, andererseits aber immer schon ein gewalttätiges Potenzial in sich birgt. Dieses Potenzial nimmt mit der Reichweite des Geltungsanspruchs religiösen Eifers zu, ist aber in jeder der drei genannten Formen religiösen Eifers angelegt, insofern die für religiösen Eifer charakteristische leidenschaftliche, identitätsstiftende Hingabe an einen religiösen Wert absoluten Geltungsanspruchs selbst eine gewisse Form von Opferbereitschaft begründet. So ist der eifrige Gläubige dazu bereit, zur Realisierung seiner religiösen Pflichten in anderen Bereichen seines Lebens Opfer zu bringen. Der hingebungsvolle Asket mag für seine religiöse Selbsttransformation seine sozialen Beziehungen aufgeben oder sein Leben riskieren. Der religiös motivierte politische Aktivist schließlich ist zur Realisierung seiner Zwecke gegebenenfalls zum Einsatz gewalttätiger Mittel bereit.
Selbst dann, wenn religiöser Eifer mit sozial-politischen Ambitionen einhergeht, muss er sich aber nicht notwendig in gewalttätigem Handeln artikulieren. Man denke an Fälle wie Mahatma Gandhi oder Martin Luther King, deren politisches Engagement religiös motiviert war, die sich aber zugleich dem Pazifismus verpflichtet gesehen haben.
Drittens und zuletzt verweist uns die entwickelte Begriffsbestimmung auf die Komplexität des Begriffs der Gewalt selbst. Gewalt kann nicht nur gegen andere gerichtet sein, sondern auch gegen sich selbst. Sie kann als Regel oder als Ausnahme gelten. Sie kann – wie es das Beispiel des mitunter religiös motivierten und zumindest in Teilen gewalttätigen Kampfes US-Amerikanischer Abolitionisten demonstriert – nicht nur als Mittel verwendet werden, um die bestehende sozial-politische Ordnung zu verändern, sondern auch in struktureller Form ebenjener Ordnung selbst inhärent sein. Statt religiösen Eifer also eindeutig mit religiöser Gewalt und Fanatismus gleichzusetzen, sollten wir versuchen, der Vielfalt und Ambiguität religiösen Eifers Rechnung zu tragen. Dies wiederum erfordert immer auch eine kritische Auseinandersetzung mit unserer Vorstellung von Religion, Leidenschaft, Gewalt und dem Politischen als solchem.
Für eine ausführlichere Behandlung der Thematik mit Hinweisen auf weiterführende Literatur siehe meine beiden frei zugänglichen Artikel Religiöser Eifer. Philosophische Annäherung an ein komplexes Phänomen (2020), in: Johannes Woyke (Hrsg.): Eifer Gottes – Eifern für Gott. Radikalismus und seine Transformation in der biblischen Tradition und Auslegungsgeschichte (Biblisch-Theologische Studien 181), Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, S. 51–80; Religious Zeal as an Affective Phenomenon (2021), in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 20 (1), S.75–91.
Ruth Rebecca Tietjen ist Postdoc am Center for Subjectivity Research an der Universität Kopenhagen, wo sie in einem FWF-Projekt zu antagonistischen politischen Emotionen forscht, und assoziiertes Mitglied des ERC-Projekts Extreme Beliefs: The Epistemology and Ethics of Fundamentalism an der VU Amsterdam. Neben religiösem Eifer und Fanatismus forscht sie zur affektiven Dimension des Populismus und zu existenziellen Phänomenen wie Angst, Einsamkeit, Melancholie und den Grenzen der Sprache.