12 Nov

Was kann ich sehen, wenn ich fühle? Über das ambivalente Verhältnis von Emotion und Erkenntnis

Von Eva Weber-Guskar (Berlin)

Sine ira et studio solle man Geschichtsschreibung betreiben, heisst es schon bei Tacitus, ohne Zorn noch Zuneigung. Und das gilt bis heute für jedes Studium, für alle Forschung: um Tatsachen zu erkennen, Zusammenhänge richtig darzustellen, logische Schlüsse zu ziehen, für all das braucht es keine Gefühle – im Gegenteil. Es heisst, sie seien der Wahrheitssuche abträglich.

Das betrifft nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Urteilsfähigkeit jedes einzelnen: Wer wütend, verängstigt oder verliebt ist, sollte seinen Sinnen nicht allzu sehr trauen. Im Griff von Gefühlen sieht man ein harmloses, schiefes Lächeln als eine Beleidigung an, hält einen Schatten für einen Angreifer oder idealisiert die geliebte Person, die eigentlich über durchschnittliche Eigenschaften verfügt.  Wie sehr Gefühle die Wahrnehmung beeinträchtigen können, ist ein ewiges Thema der Künste – in Romanen wie Marcel Prousts „Recherche“ oder Serien wie „Mad Men“ kann man in epischer Breite nachverfolgen, wie verzerrend sich Eifersucht auf Erkenntnis auswirkt. Aber ist das alles? Sind Gefühle wirklich nur Störenfriede der Erkenntnis? Bilden Rationalität und Emotionalität tatsächlich einen harten Gegensatz?

Die Antwort darauf hängt davon ab, was genau man unter Gefühlen versteht. Zu ihnen zählen einerseits reine Körperempfindungen wie ein Jucken oder die Wärme der Sonne auf der Haut, andererseits Stimmungen wie Melancholie oder Euphorie und schliesslich Emotionen wie Trauer, Furcht, Freude. Emotionen sind, anders als die anderen beiden Gefühlsarten, immer auf etwas Konkretes in der Welt bezogen: auf einen Verlust (Trauer), eine Gefahr (Furcht) oder etwas, das uns gut tut (Freude). In anderen Worten: Emotionen repräsentieren etwas. Körperempfindungen dagegen haben nur einen Auslöser, der in der Erfahrung selbst nicht vorkommt. Wenn mich etwas am Rücken juckt, muss ich hinsehen, um zu wissen, was es ist. Wenn ich trauere, trauere ich immer schon über etwas, zum Beispiel den Verlust einer bestimmten verstorbenen Person. Dieser konkrete Verlust ist Teil der Erfahrung. Stimmungen wiederum lassen die ganze Welt in einem bestimmten Licht erscheinen: alles ist schwer zu ertragen oder alles leicht zu erledigen. Sie haben keinen benennbaren Bezugspunkt und legen sich wie ein Schleier über unser Gemüt.

Emotionen bilden im Zusammenhang mit Erkenntnisfragen deshalb die interessanteste Klasse, da sie offensichtlich einen relativ präzisen kognitiven Aspekt enthalten: sie haben mit etwas zu tun, das wirklich der Fall ist: Fürchte ich mich, dann fasse ich etwas in der Welt als gefährlich auf – und sei es nur ein Dackel, der hinter einem Zaun kläfft.

Allerdings sagt dieser Umstand allein noch nicht viel darüber aus, inwiefern Emotionen Erkenntnis im Sinne von richtigen Urteilen über die Welt fördern oder behindern. Die Stoiker vertraten die These, dass Emotionen grundsätzlich falsche Urteile seien. In der stoischen Philosophie gibt es nur ein Gut, die Tugend, und ein Übel, das Laster. Was diese sind, erlernt man in der Erziehung und durch rationale Einsicht. Emotionen bestünden in der fälschlichen Auffassung von etwas anderem als gut oder schlecht: Freude über Reichtum, Furcht vor körperlichem Schmerz oder ähnliches. Daraus folgte der bekannte stoische Rat, sich möglichst ganz von Emotionen zu befreien, um die apatheia und damit ataraxia, die Seelenruhe und damit eigentliches Glück zu erlangen, das mit der Erkenntnis des Wahren und Richtigen einhergeht.

Von so einer Sicht ist man heute in der Philosophie weit entfernt. Man geht von einer Vielfalt an Werten aus, also dem, was man jeweils für gut hält, und erklärt sich Emotionen anders. Während die Erkenntnistheorie, also jene Abteilung der Philosophie, die danach fragt, was und wie wir überhaupt irgendetwas begreifen können, die Emotionen meist wenig beachtete, erfuhren sie im Rahmen der allgemeinen Renaissance der Philosophie der Emotionen seit den 1990er Jahren eine bemerkenswerte Aufwertung. Mit guten Gründen.

Überlegen Sie selbst: Hat Sie nicht schon einmal die Neugier getrieben, einer interessanten Frage nachzugehen, bis Sie zu neuen Einsichten kamen? Kennen Sie das triumphale oder harmonische Gefühl, wenn sich Puzzleteile einer Überlegung zusammenfügen zu einem kohärenten Ganzen, das die Lösung für ein Problem mit sich bringt – sei es ein Kreuzworträtsel, eine berufliche Strategie oder das rätselhafte Verhalten einer Person? Wurden Sie nicht schon einmal von einem Zweifel an einer Aussage dazu getrieben, diese zu hinterfragen und sich selbst auf die Suche nach der Wahrheit zu machen? All diese Emotionen spielen offenbar in Erkenntnisprozessen eine Rolle.

Allerdings, könnte man einwenden, sind Neugier oder Zweifel recht besondere Emotionen. Manche nennen sie ausdrücklich epistemische, also auf Erkenntnis bezogene Emotionen, andere bestreiten, dass sie überhaupt zum engen Kreis von Emotionen gehören – etwa, weil sie keine fühlbare, körperliche Qualität hätten. Doch auch Emotionen, die eine solche Qualität haben, können Erkenntnis ermöglichen: Wenn man sich fürchtet, ist man zum Beispiel besonders empfänglich für die Wahrnehmung von Gefahrenquellen. Auch bei weiteren paradigmatischen Emotionen kann man so einen Zusammenhang feststellen: Wer hofft, sieht Chancen in einer Situation, die ein Verzweifelter nicht sehen wird. Im Babyschreien, das den gestressten Nachbarn nur nervt, hören die liebenden und besorgten Eltern gewisse Wünsche. Aber – wenn man auf diese Weise eine Gefahr, eine Chance oder den Hungerschrei erkannt hat – waren dann die Emotionen nicht nur Motivation zur Erkenntnis? Bleibt es nicht dabei, dass der eigentliche Erkenntnisakt nicht emotional ist ?

Nicht unbedingt, sagt etwa die Philosophin Catherine Elgin, indem sie auf die Ähnlichkeit von Emotionen und Wahrnehmungen hinweist. So wie Farben nur solche Wesen wahrnehmen können, die mit einer bestimmten Sehfähigkeit ausgestattet sind, so gibt es andere Eigenschaften nur für Wesen, die zu Emotionen fähig sind: das Eklige etwa ist nichts Anderes als das, was Ekel auslöst. Gleiches gilt für das Lustige: es ist das, was Belustigung, mindestens ein Lächeln oder eben ein Lachen auslöst. Wenn das stimmt, dann sind Ekel und Lustigkeit auch nicht anders zu erkennen als durch Emotionen – als dass man sich spontan mit verzogenem Gesicht abwendet oder lacht.

Unumstritten ist diese Ansicht nicht. Skeptiker heben hervor, dass die Emotionen bewertende Phänomene sind – und immer nur die Reaktion auf etwas, das zuvor wahrgenommen wird. Wenn ich auf der Strasse eine eklige tote Ratte sehe, sagen sie, dann nehme ich nicht dank meiner Emotion das Eklige wahr, sondern sehe und rieche zunächst die verwesende Ratte und dann erst kommen meine Emotionen ins Spiel, die den Anblick des toten Tiers als ekelhaft beurteilen. Die Emotions-Skeptiker versuchen also wieder auseinander zu analysieren, was Elgin und andere zusammenziehen: Erkennen und Bewerten. 

Einigkeit immerhin besteht bei einer sehr zentralen Rolle von Emotionen: Sie können Selbsterkenntnis ermöglichen. In sich Neid aufsteigen zu fühlen, wenn man vom neuen Job einer Freundin hört, zeigt einem etwa, dass man beruflichen Erfolg offenbar für wichtiger hält als einem das vorher bewusst war. Oder dass die Loyalität zur Freundin nicht so gross ist, wie man von sich behauptet hatte. Erkenntnis ist der erste Schritt zu Besserung, kann man hier sagen: Wenn man einer bislang unbewussten Überzeugung dank einer emotionalen Selbstreflexion plötzlich gewahr wird, hat man nun die Möglichkeit, diese Überzeugung zu revidieren.

Allerdings können einem just bei diesem Versuch Emotionen auf andere Weise auch wieder in die Quere kommen. Wie gesagt sorgen sie dafür, dass einem bestimmte Aspekte einer Situation mehr auffallen als andere – und zwar jene Aspekte, die zur Emotion passen. Wie man aus Furcht vor dem Wildschwein, dem man eben im Wald begegnet ist, jedes Knacken im Wald für ein weiteres gefährliches Tier hält, so verhält es sich, wenn man unter dem Einfluss des Neides vom neuen Job der Freundin hört: plötzlich fällt einem auf, dass die Freundin eigentlich schon immer mehr Glück gehabt hat, auch privat; dass überhaupt viele andere beruflich schon viel weiter sind als man selbst usw. Dieser emotionale Filter macht es einem schwierig, seine Überzeugung zu revidieren, da die guten Gründe für eine solche Revision ausgeblendet sind.

In diesen Fällen muss man einigen kognitiven Aufwand betreiben, der sich gegen die Fokussierung der Emotion durchsetzt. Aussichtsreich ist das fast nur dann, wenn eine Emotion gegen eine andere Emotion konkurriert. In diesem Beispiel etwa: wenn man eine grosse Zuneigung zu der Freundin verspürt und das gute Miteinander keinesfalls zerstören möchte. Dann kann die Zuneigung dafür sorgen, dass man sich ausmalt, wie man gemeinsam mit der Freundin ihren Erfolg feiern wird und man sich für sie, mit ihr freuen kann. Das kann helfen, den Neid in den Hintergrund treten zu lassen, weil man nicht mehr nur sieht, was sie hat und man selbst nicht, sondern was man gemeinsam haben kann. 

Das Verhältnis zwischen Emotionen und Erkenntnis ist also ambivalent. Warum das so ist, dafür lässt sich eine evolutionsbiologische Erklärung heranziehen, wie der Philosoph Peter Goldie sagt: Emotionale Wahrnehmungen sind schlicht schneller als reflektierte, detaillierte Wahrnehmungen – und sie sind unmittelbar mit Handlungen verbunden. Ich muss, und darf auch nicht, gross herumüberlegen, was ich wohl am besten tun sollte, wenn ich barfuss auf eine Schlange trete. Ich zucke unwillkürlich zurück – bevor ich überhaupt klar sehen konnte, ob es sich vielleicht nur um eine Blindschleiche handelt. Das ist evolutionär von Vorteil. Wenn unsere Vorfahren bei einem ekligen Geschmack nicht sofort zu essen aufgehört hätten, gäbe es uns alle gar nicht, weil sich früher oder später alle vergiftet hätten.

Ernsthaft problematisch für die Erkenntnis werden Emotionen da, wo sie sich gehalten haben, obwohl man sie in der gegenwärtigen Zivilisation nicht mehr zum Überleben braucht. So wird beispielsweise auch Xenophobie, die Angst vor Fremden, erklärt. In Gemeinschaften, die ohne Gesetze zusammenlebten, galt nur die Ähnlichkeit als Garant dafür, dass man einander vertrauen konnte. Alles Fremde war (mit guten Gründen) suspekt. Doch die Umstände sind heute anders, sodass solche Emotionen unbegründet sind. Um sie zu überwinden, braucht es viel kognitive Anstrengung und Umgewöhnung. 

Wir Menschen, und das ist eigentlich der zentrale Punkt im Zusammenhang von Erkenntnis und Gefühl, sind nicht in erster Linie dazu eingerichtet, die Realität so zu erkennen, wie sie ist, sondern dahingehend, ob sie gut oder schlecht für uns ist. Wenn wir uns dessen bewusst sind, wenn wir wissen, dass sich die Emotion aus gutem Grund bisweilen vordrängt, sollten wir nicht verzweifeln; stattdessen sollten wir dieses Wissen nutzen, um einschätzen zu können, unter welchem emotionalen Einfluss wir wann glauben sollten, was wir sehen – und wann wir lieber ein zweites Mal hinsehen sollten.  

Eva Weber-Guskar arbeitet auf einer Heisenbergforschungsstelle am Institut für Philosophie I an der Ruhr-Universität Bochum.


Dieser Text ist einer etwas kürzeren Version zuerst im schweizerischen Printmedium „Das Magazin“ Nr. 34/ 2019 erschienen.

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