Was nicht passt, wird passen gemacht? – Angemessene und widerspenstige Emotionen

Von Steffen Steinert (Delft)

Emotionen spielen eine wichtige Rolle in so gut wie allen Lebensbereichen. Was wären etwa Filme oder Musik, wenn sie keine Emotionen in uns hervorrufen würden? Oder man denke an bewegende Großereignisse, wie etwa Fußballspiele oder Konzerte, bei denen Menschenmassen gleichzeitig von einer Emotion ergriffen werden und sich dadurch miteinander verbunden fühlen.

Es gibt jedoch auch Situationen in denen uns unsere eigenen Emotionen, oder die Emotionen anderer, als unangemessen, wenn nicht sogar irrational vorkommen. Meist stößt die Aussage, eine Emotion sei unangemessen oder unpassend allerdings auf Unverständnis. Besonders bei der Person, die die Emotion fühlt. Wie entscheiden wir also, ob und wann eine Emotion angemessen ist, und wann sie irrational ist?

Emotionen – Ein kurzer Crashkurs

Um die Frage nach der Angemessenheit von Emotionen zu beantworten, ist es wichtig genauer zu charakterisieren, was gemeint ist, wenn von Emotionen gesprochen wird. Was sind also Emotionen und wie lassen sie sich von anderen verwandten mentalen Ereignissen, wie etwa gefühlten Stimmungen abgrenzen?

Es ist kein Geheimnis, dass viele (aber nicht alle) Emotionen sich auf bestimmte Weise körperlich manifestieren; sie haben physiologisch-körperliche Komponenten. Diese können wir an uns selbst und anderen relativ leicht beobachten. Wenn wir uns fürchten, dann weiten sich die Pupillen, im Körper baut sich eine gewisse Spannung auf, wir haben ein mulmiges Gefühl im Bauch und unsere Sinne sind geschärfter. Wenn wir uns schämen, dann werden wir meist rot im Gesicht und wenn wir amüsiert sind, dann lächeln wir oder lachen lauthals los.

Emotionen sind aber nicht rein körperlich, wie ein Kniereflex oder Niesen, sondern sie sind auch mentale Ereignisse. Philosophen haben sich lange mit der Frage auseinandergesetzt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein mentales Ereignis oder ein mentales Zustand als Emotion zu bezeichnen ist (siehe zum Beispiel (Cova & Deonna, 2014)). Zunächst ist es unbestritten, dass Emotionen intentionale Zustände sind. Ein Zustand ist intentional, wenn er auf ein Objekt gerichtet ist. Im Falle von Emotionen sind wir zum Beispiel wütend oder eifersüchtig auf jemanden. Emotionen sind also, wie andere mentale Zustände auch, auf bestimmte Dinge oder Ereignisse gerichtet.

Weiterhin haben alle individuellen Episoden eines Emotionstyps (Typen von Emotionen sind etwa Angst, Wut, Scham, etc.) die gleiche Phänomenologie. Das heißt es fühlt sich auf eine bestimmte Art und Weise an, eine Emotion eines bestimmten Typs zu haben. Zum Beispiel fühlen sich Angst, Scham und Freude sehr unterschiedlich an. Außerdem fühlen sich einige Emotionen angenehm an, wohingegen andere Emotionen unangenehm sind.

Außerdem haben Emotionen bestimmte Handlungstendenzen (Frijda, 1986) und motivieren uns zu Handlungen. Im Falle von negativen Emotionen, wie etwa Angst, ist die Handlungstendenz die Vermeidung der Gefahr oder das Abwenden einer Bedrohung – etwa durch Flucht oder Angriff. Scham hat eine ähnliche Handlungstendenz, da es auch hier um einen Rückzug aus der Situation geht. Emotionen haben also eine gewisse motivationale Komponente, die uns zu bestimmten Handlungen veranlasst oder zumindest darauf vorbereitet.  

Da Emotionen intentionale Zustände sind, können sie sich auf unterschiedliche Dinge richten. Wir können verärgert über unseren Partner, unser Haustier, unseren Computer oder über eine fremde Person sein. Diese unterschiedlichen Dinge werden aber durch die Emotion Ärger auf dieselbe Art und Weise bewertet. In der Literatur wird der Unterschied zwischen dem Gegenstand einer Emotion und der Bewertung oft als Unterschied zwischen partikularem Objekt und formalem Objekt bezeichnet. Alle Episoden eines Emotionstyps haben dasselbe formale Objekt (De Sousa, 1997; Deonna & Scherer, 2010). Das formale Objekt ist die Art und Weise, wie das partikulare Objekt bewertet wird. Partikulare Objekte der Emotionen können sich ändern aber das formale Objekt der Emotion bleibt dasselbe. Wenn man stolz auf etwas ist, dann wird das partikulare Objekt, etwa die eigene Leistung, als etwas empfunden oder wahrgenommen, was die eigene Erhabenheit oder Würde steigert. Ebenso, egal vor was man Angst hat, also egal was das partikulare Objekt ist, es wird als etwas Gefährliches dargestellt. Das formale Objekt spielt eine wichtige Rolle für die Unterscheidung von Emotionstypen.

Unsere Emotionen hängen außerdem eng mit unseren Werten zusammen und mit dem, was für uns wichtig ist. Situationen oder Ereignisse können unsere Werte, oder das was uns bedeutsam ist, entweder bedrohen oder ihnen zuträglich sein. Wenn zum Beispiel Aufrichtigkeit einen hohen Stellenwert für eine Person hat, dann wird die Person höchstwahrscheinlich wütend, wenn sie von jemandem hintergangen wird.

Die gerade besprochenen Merkmale erlauben uns auch, Emotionen von anderen ähnlichen mentalen Zuständen zu unterscheiden. Betrachten wir Stimmungen, wie zum Beispiel ekstatisch oder melancholisch sein. Es gibt zwischen Emotionen und Stimmungen viele Gemeinsamkeiten. So sind zum Beispiel sowohl Emotionen als auch Stimmungen durch eine bezeichnende Phänomenologie charakterisiert, also die Art und Weise, wie sie sich anfühlen. Im Unterschied zu Emotionen haben Stimmungen jedoch kein intentionales Objekt, sind also nicht auf etwas gerichtet, oder haben nur eine vage Ausrichtung. Außerdem sind Emotionen oft durch einen bestimmten Stimulus, etwa ein Ereignis, ausgelöst, wohingegen Stimmungen uns oft aus dem Blauen heraus überkommen.

Angemessenheit von Emotionen

Wir haben gesehen, dass Emotionen mentale Zustände sind, die etwas in einem bestimmten Licht darstellen, also repräsentieren. Emotionen derselben Art können sich also auf verschiedene Dinge richten (partikulare Objekte), wobei sie diese Dinge immer auf dieselbe Weise bewerten oder präsentieren (formales Objekt). Anders ausgedrückt, Emotionen präsentieren ihr partikulares Objekt in einem bestimmten evaluativen Licht. Trauer präsentiert uns einen Zustand als Verlust von etwas Wertvollem und Angst präsentiert uns etwas als gefährlich. Eine Emotion ist also eine (subjektive) Bewertung einer Situation, eines Ereignisses oder Objektes. Einige Autoren sprechen sogar explizit davon, dass Emotionen evaluative Urteile sind (Nussbaum, 2004; Solomon, 2007).

Auf die Frage „Warum bist du verärgert“ oder „Warum bist du traurig“, geben Leute meist eine Erklärung ab: „Jemand hat meinen Vortrag unterbrochen“ oder „Meine Schildkröte ist gestorben“. Sehr oft wird diese Erklärung auch als Rechtfertigung für die Emotion angesehen. Emotionen sind angemessen oder gerechtfertigt, wenn die Eigenschaften einer Situation es verdienen, so evaluiert zu werden, wie es die Emotion tut. Wir würden sagen, dass die rüde Unterbrechung des Vortrages und das Ableben eines geliebten Haustieres es verdienen, dass die Situation als persönlicher Angriff oder als Verlust aufgefasst werden. Die Unterscheidung von partikularem und formalem Objekt, gibt uns ein Instrument an die Hand, um die Angemessenheit einer emotionalen Reaktion zu bewerten. Da Emotionen Dinge in einem bestimmten evaluativen Licht erscheinen lassen, können sie natürlich auch ihr Objekt (etwa ein Ereignis, oder eine Person) falsch oder verzerrt darstellen. Emotionen können daher in diesem Sinne unangemessen oder unpassend sein. Man könnte also sagen, die Emotion muss dem Objekt angemessen sein. Angst lässt etwas als gefährlich erscheinen, aber das heißt nicht, dass es auch gefährlich ist. Angst vor einem kleinen, zahnlosen, lahmen Hund zu haben passt nicht, weil der Hund keine Gefahr darstellt. Ein anderes Beispiel ist Scham, die auftritt, wenn man gegen eine Norm verstoßen hat oder von einem Standard abgewichen ist, die man für sich anerkennt. Unangemessene Scham bedeutet dann, sich für etwas schämen, was gar keinen Normverstoß darstellt, oder sich für etwas schämen an das man einen viel zu hohen Standard angelegt hat.  

Widerspenstige Emotionen

Normalerweise verflüchtigen sich Emotionen, wenn wir herausfinden, dass die Welt nicht so ist, wie die Emotion sie erscheinen lässt. Wenn jemand zum Beispiel wütend auf eine Person ist, weil diese etwas gestohlen hat, verfliegt die Wut meist schnell, wenn sich herausstellt, dass die Person nichts gestohlen hat. Es gibt allerdings auch widerspenstige Emotionen (englisch „recalcitrant emotions“), bei denen die Emotion bestehen bleibt, obwohl die Person gegensätzliche Überzeugungen hat. Ein klassisches Beispiel ist Flugangst, obwohl man davon überzeugt ist, das Fliegen total ungefährlich ist.

Diese widerspenstigen Emotionen sind problematisch, weil wir es mit einer mangelnden Passung zwischen dem Inhalt einer Überzeugung (oder eines Urteils) und der Art und Weise zu tun haben, wie die Emotion die Welt darstellt. Es scheint, dass wir es bei widerspenstigen Emotionen mit einem rationalen Konflikt zu tun haben und widerspenstige Emotionen wirken irgendwie irrational.  

Sind widerspenstige Emotionen wirklich irrational? Wenn man davon ausgeht, dass Emotionen evaluative Überzeugungen oder Urteile enthalten, dann hätten wir es bei widerspenstigen Emotionen mit einem Widerspruch zwischen Überzeugungen zu tun: Auf der einen Seite unser Urteil über die Welt, auf der anderen unsere Emotion. Es wäre so wie gleichzeitig überzeugt zu sein, dass der Hund gefährlich ist und dass der Hund nicht gefährlich ist.

Wenn jemand eine widerspenstige Emotion konträr zu evaluativen Überzeugungen hat, heißt das jedoch nicht, dass die Person irrational ist. Es gibt Möglichkeiten widerspenstige Emotionen so zu deuten, dass sie nicht als irrational zu bezeichnen sind. Ein Kriterium für Rationalität ist Kohärenz, das heißt die rationale Person sollte keine sich widersprechenden Überzeugungen haben. Wir können widerspenstige Emotionen so deuten, dass wir es zwar mit einem Konflikt zwischen Emotion und Überzeugung, aber nicht mit einem Widerspruch zwischen Überzeugungen zu tun haben. Anders gesagt, eine Person mit widerspenstiger Emotion widerspricht sich nicht selbst, wie im Falle von zwei gegensätzlichen Überzeugungen. Das Kohärenzkriterium wäre nur verletzt, wenn die widerspenstige Emotion das Urteilsvermögen verzerrt (Döring, 2015) und zu einer Überzeugung führt, die einer anderen Überzeugung widerspricht. Nur weil eine Emotion die Welt auf eine bestimmte Art erscheinen lässt, heißt das nicht, dass die Person der Emotion auch folgt und urteilt, dass die Welt wirklich so ist, wie die Emotion sie repräsentiert. Oft ist es jedoch so, dass widerspenstige Emotionen gar nicht zu Überzeugungen führen, die anderen Überzeugungen widersprechen. Flugangst bringt die Betroffenen meist nicht dazu, die Sicherheit von Flugreisen zu bestreiten. Sie sind nicht gleichzeitig überzeugt, dass Fliegen sowohl sehr sicher und gleichzeitig sehr gefährlich ist.

Ein Grund, warum widerspenstige Emotionen irrational wirken, hat mit der engen Verbindung von Emotionen, Handlung und Motivation zu tun (siehe Crashkurs Emotion oben, Stichwort Handlungstendenz). Weil Emotionen motivierende Kraft für Handlungen haben, können sie unter Umständen auch Handlungen motivieren, die unseren Überzeugungen entgegenstehen. Jemand mag wirklich überzeugt sein, dass eine Person nicht gefährlich ist, aber dennoch motiviert sein die Straßenseite zu wechseln. Widerspenstige Emotionen motivieren uns manchmal trotz gegensätzlicher Überzeugung zu Handlungen (Döring, 2014)). Es sind nicht die Emotion die irrational sind, sondern die durch widerspenstige Emotionen motivierten und verursachten Handlungen.  

Wir sollten widerspenstige Emotionen nicht automatisch abtun, um unseren vermeintlich ‚rationalen‘ Überzeugungen den Vorzug zu geben. Emotionen spiegeln unsere Werte, Überzeugungen, Sorgen und Anliegen wider und sind sensitiv dafür, ob diese von etwas beeinflusst werden oder nicht. Es könnte also sein, dass eine Emotion widerspenstig ist, weil bestimmte Werte und Interessen sehr stark sind und die Situation trotz expliziter gegensätzlicher Überzeugung vielleicht doch Implikationen für diese Werte und Interessen hat. Wenn man sich etwa in einer Situation befindet, in der man überzeugt ist, dass alles in Ordnung ist, aber die Emotion der Angst einem etwas anderes sagt, dann könnte es sich bei der Überzeugung vielleicht um Wunschdenken handeln. In diesem Fall können Emotionen ein reflexives Potential entfalten und bei der Prüfung und Korrektur von Überzeugungen behilflich sein. Widerspenstige Emotionen können unsere Aufmerksamkeit auf Dinge richten, die unser Urteilsvermögen vielleicht übersehen hat. Manchmal treffen wir unser Urteil zu schnell und unsere Emotionen sind empfänglicher für Indizien, die ein anderes Licht auf die Situation werfen. Vielleicht schätzt man eine Nachbarschaft als sicher ein und ist überzeugt, dass es dort nicht gefährlich ist, aber die Angst die man bei dem Spaziergang dennoch spürt bringt einen dazu, genauer hinzuschauen und aufmerksamer für Zeichen von Gefahr zu sein.   

Ob die Emotion oder die Überzeugung unangemessen ist, und welche und ob eine der beiden revidiert werden sollte, bedarf sorgfältiger Überlegung. Wir sollten nicht dem unreflektierten rationalistischen Reflex verfallen und versuchen, Emotionen immer mit unseren Überzeugungen in Einklang zu bringen, ohne unsere Überzeugungen ebenso kritisch zu hinterfragen. Emotionen, sogar widerspenstige, können auf etwas hindeuten, was im toten Winkel des Urteilsvermögens liegt.


Steffen Steinert arbeitet als Postdoc an der Technischen Universität Delft.


Literatur

Cova, F., & Deonna, J. A. (2014). Being moved. Philosophical Studies, 169(3), 447–466.

De Sousa, R. (1997). The rationality of emotion (1. paperback ed., 5. print). Cambridge, Mass.: MIT Press.

Deonna, J. A., & Scherer, K. R. (2010). The Case of the Disappearing Intentional Object: Constraints on a Definition of Emotion. Emotion Review, 2(1), 44–52.

Döring, S. A. (2014). Why Recalcitrant Emotions Are Not Irrational. In S. Roeser & C. Todd (Eds.), Emotion and Value (pp. 124–136).

Döring, S. A. (2015). What’s Wrong With Recalcitrant Emotions? From Irrationality to Challenge of Agential Identity: What’s Wrong With Recalcitrant Emotions? Dialectica, 69(3), 381–402.

Frijda, N. H. (1986). The emotions. Cambridge ; New York : Paris: Cambridge University Press.

Nussbaum, M. (2004). Emotions as judgments of value and importance. In R. C. Solomon (Ed.), Thinking About Feeling: Contemporary Philosophers on Emotions (pp. 181–199).

Solomon, R. C. (2007). True to our feelings: What our emotions are really telling us. Oxford: Oxford University Press.