02 Mrz

Wie die Welt sich zeigt. Zum sozialen Wirken von Emotionen

Von Paul Helfritzsch (Jena)


Es wird in der Philosophie und generell in den Geistes- und Sozialwissenschaften schon seit längerer Zeit versucht, mit dem Diktum zu brechen, Emotionen seien willkürlich auftretende Phänomene, die nur in der ersten Person Singular artikuliert werden könnten und auch nur von der Person, die sie empfindet, verstanden werden können. Diese Vorstellung führt zu vielerlei Problemen und zu Unverständnis, wenn es darum geht, andere Personen, Personengruppen und Berichte über deren Situation zu verstehen.

Aus dem Diktum der Willkürlichkeit bzw. Subjektivität von Emotionen entstanden auch Dualismen wie der zwischen Rationalität und Emotionalität, bei der die Seite der Emotionen abgewertet wurde und bspw. als für die Politik und das Führen des Lebens untaugliche, wenn nicht sogar lästige, Phänomene abgetan worden. Im Zuge dieses Dualismus wirkt auch eine Form der Abwertung des »Weiblichen« gegenüber dem »Männlichen«, wenn wir dem »Männlichen« zuschreiben, das kühle, rationale und klare Denken zu repräsentieren, während das »Weibliche« als irrational, überemotional und diffus dem »Männlichen« untergeordnet werden soll.[1] Diese Dualismen sind nicht nur problematisch, sie können bspw. in Form der Misogynie auch lebensbedrohlich werden, wenn Frauen sich zur Wehr setzen und eine gewalttätige Gegenreaktion im Nachhinein »rationalisiert« wird, weil sie zu emotional reagiert hat, oder sie ihre ihr zugewiesene Rolle als weniger kompetente Person – weil emotionaler –  nicht akzeptiert hat.

Die gerade benannten Unverständnisse, beziehungsweise die problematischen Abwertungen von Emotionen und damit verbundenen anderen Eigenschaften, sollen für den hier stehenden Text zur Einleitung genügen. Denn schon durch diese kurze Darstellung sollte klar geworden sein, dass die Zuschreibung, Emotionen seien rein subjektiv, nur dazu führen kann, dass der Wert dessen, was empfunden wird, dann nur für eine*n selbst gelten würde. Genauer: Wenn ich jemanden hasse, liebe, ich etwas ekelig oder anziehend finden, mir jemand gleichgültig ist, dann sagt das nur etwas über mich aus. Klingt das plausibel? Können wir uns vorstellen, dass all die Emotionen von Menschen und Gruppen, die uns tagtäglich durch die Medien vermittelt werden, die wir vielleicht selbst im Angesicht der bestehenden Ungerechtigkeiten empfinden, nur etwas darüber aussagen, wie wir uns in diesem Moment fühlen? Ich meine – und damit schließe ich mich bestehenden Theorien aus der Phänomenologie, der Postmoderne und der feministischen Emotionstheorie an –, die Antwort kann hier nur »nein« lauten. Dass dies nicht nur eine theoretisch wichtige Überlegung darstellt, sondern auch für unsere Lebenspraxis enorme Bedeutung hat, zeigt sich wohl am besten, wenn wir uns vor Augen führen, dass gerade die progressiven Errungenschaften unserer Gesellschaften solche sind, die erkämpft wurden; bei denen Menschen mit Wut, Empörung, Ärger und Unbehagen, aber auch mit Hoffnung über das Bestehende hinaus gegangen sind. Abzusprechen, dass die Emotion derer, die sich für die Veränderung repressiver Normen und Gesetze eingesetzt haben, die diese Emotionen gerade auf Grund der bestehenden Strukturen erleben, wäre dasselbe, wie ihnen abzusprechen, dass ihre Anliegen einen Wert hätten.

Wenn Emotionen wie Unbehagen, Empörung und Wut oder auch Freude aber erlebt werden, weil sie auf die Strukturen und Begebenheiten Bezug nehmen, dann kann nicht behauptet werden, sie seien willkürlich oder rein subjektiv. Willkürlich sind sie nicht, da sie keine von der Welt losgelöste Ausgeburt der jeweiligen Psyche sind. Rein subjektiv können sie nicht sein, da sie sich auf eine Situation beziehen, die durch die jeweiligen Gegebenheiten und die sozialen Strukturen besteht, unter denen wir nicht je vereinzelt existieren, sondern unter denen wir alle leben; sofern sich – und diese Einschränkung ist wichtig, da trotz alledem keine eindeutige Zuordnung zwischen Emotion und Ereignis behauptet werden kann – vergleichbare kulturelle und oder soziale Verhältnisse bestimmen lassen. Das heißt, wenn wir zugeben, dass Emotionen sich – wie es bspw. in der phänomenologischen Tradition häufig argumentiert wird – auf die Welt, genauer auf Umstände und soziale Strukturen beziehen, die uns jeweils betreffen, dann können wir sie auch nicht mehr rein subjektiv nennen. Dann sind sie sozial geteilte Phänomene. Dieser letzte Punkt ergibt sich daraus, dass die Umstände und Strukturen nicht nur einzelne Personen betreffen, sondern immer all jene, die diese Situation erleben oder denen davon berichtet wird.

So sind wir nicht allein davon getroffen, dass man bspw. als »Schwuchtel« beschimpft wird. Die Beleidigung trifft natürlich besonders hart, wenn man die angesprochene Person ist. Man sieht die Verletzung, die Wut gemischt mit Unverständnis und Empörung in der Körperhaltung der beleidigten Person und den Hass auf die so deklarierte Person von der Beleidigenden. Aber nicht nur diese »Interaktionspartner*innen« sind betroffen. Auch jemand, der im gleichen Raum sitzt, kann davon getroffen werden, obwohl er nicht direkt adressiert ist. Denn die Beleidigung ist – wie es in der umfassenden und herausragenden Studie Betrachtungen zur Schwulenfrage von Didier Eribon besonders im Kapitel 11 Inversionen geschildert wird – keine Momentaufnahme, sondern eine strukturelle Form. Wer »Schwuchtel« sagt, der*die zitiert vermutlich die Abwertungsstrategie, nicht Passendes – hier am Verhalten eines Mannes* – als allzu weibliches Verhalten zu bestimmen. Diese Strategie ist in patriarchalen Gesellschaften strukturell verflochten. Und diese Verflechtung ist es, die auch Andere in dem Raum treffen kann, wenn sie sich ebenfalls ertappt fühlen, weil sie nicht männlich genug auftreten, oder sich freudig bestärkt fühlen, da sie nicht in dieser Form für »weiblich« gehalten werden würden, oder die Situation behagt ihnen nicht, weil irgendetwas an der Situation unpassend erscheint. Es ergeben sich aus derselben Situation heraus mehrere emotionale Erlebensmöglichkeiten, die sich als direkte Wertung der Situation in konkreten Formen darstellen. Kurz: Etwas ist immer schon auf eine bestimmte Art und Weise. Diese Art und Weise ist immer auch emotional, egal wie stark – Wut und Empörung bei einer Beleidigung bspw. – oder schwach – Ekel bei einem leicht stinkenden Essensrest – die Situation erlebt wird.

Emotionen sind unser Erleben davon, wie die Welt sich zeigt. Sie bilden den ersten Einsatz für die Reflexion, für jedes vernünftige Verhalten, wie auch immer dieses konkret bestimmt werden soll. Nur dadurch, dass unser Erleben der sozialen Situation durch unsere Emotionen eine Wertung erfährt, können wir uns dieser emotionalen Bezugnahme stellen; sie hinterfragen und damit einen Weg zum Bezugspunkt der eigenen Emotionen und denjenigen der Anderen zu finden. Nachdem ich bisher mein Augenmerk daraufgelegt habe, darzustellen wie die Welt sich in Emotionen zeigt, soll sich der nachfolgende Teil dieses Textes damit befassen, aufzuzeigen, in welcher konkreten Form Emotionen sozial wirken.

Diese Thesen bleiben jedoch immer noch leicht anfechtbar, da die Frage offen steht, wie Emotionen mit den Ereignissen und erlebten Strukturen verbunden sind. Kann man denn sagen, dass bestimmte Emotionen immer im Kontext derselben oder zumindest ähnlicher Gegebenheiten auftauchen? Denn, wäre dies möglich, wäre es der einfachste Weg, zu bestimmen, wie Emotionen an den Gegebenheiten entstehen; jedoch ist es wohl nicht so einfach. Beispielsweise kann Hass in unterschiedlichen Formen und mit Bezug zu unterschiedlichen sozialen Situationen entstehen.

Um also etwas über die soziale Wirksamkeit von Emotionen zu sagen, ist es notwendig sich an einem Beispiel zu fragen, was es heißt, zu fühlen. Das Beispiel, welches mir vorschwebt, ist das des Hasses, genauer gesagt das der Misogynie. Also frage ich: »Was heißt es misogyn zu hassen?« Für diese Frage bietet das Buch Down Girl. Die Logik der Misogynie von Kate Manne eine unvergleichliche Grundlage. Auch sie konstatiert, dass sich die Gefühlsregungen, in diesem speziellen Fall die feindseligen der Misogynie, nicht rein subjektive sind, sondern sich durch soziale Strukturen und die situativen Gegebenheiten bestimmen. So stellt sich an dieser Stelle die Frage, welche Strukturen sich hinter dem Hass der Misogynie befinden.

Manne stellt dafür heraus, dass das momentane Wirken der Misogynie sich immer dann deutlich zeigt, also als Hass auf Frauen darstellt, wenn sich Frauen nicht so verhalten, wie es gesellschaftlich von ihnen erwartet wird. Das heißt, wenn sie nicht loyal zu ihrem Mann stehen, sie gegen Männer aufbegehren, ihre Plätze auf dem Arbeitsmarkt, ihre Stellung im sozialen Leben oder ihre Machtposition innerhalb der Familie besetzen und damit den unausgesprochenen Anspruch der Männer auf diese Privilegien nicht nur in Frage stellen, sondern ihn offen abstreiten. Dieses Abstreiten des Anspruches der Männer erzeugt nun ein Erleben dieser Situation, das – natürlich nicht immer, diese Eindeutigkeit ließe kein Erleben zu – selbst empört, wütend oder verärgert sein kann und sich in hasserfüllten Verhaltensweisen niederschlägt. Ausformuliert hieße das, dass die Verletzung des privilegierten Anspruches als etwas erlebt wird, dass nicht sein darf und zu einer emotionalen Wertung führen kann, die diese Verletzung in Form einer Veränderung der Gegebenheiten nicht ertragen kann. Die emotionale Wertung, die dazu passt, ist die des Hasses, denn wer hasst, der*die will dasjenige, was gehasst wird, verschlingen und damit die Veränderung tilgen. Hasst man, dann soll das Gehasste oder die gehasste Person bzw. Personengruppe aufhören, am besten nie existiert haben.

Das bedeutet, dass, was/wer gehasst wird eine tatsächliche Bedrohung für die Art und Weise zu leben dessen darstellt, der*die hasst. Es ist eine objektive Gefährdung einer Lebensweise, die sich durch bestimmte soziale Strukturen und situative Gegebenheiten, bspw. in einer patriarchalen Gesellschaft, zeigt. Diese Schlussfolgerung findet sich in anderer Form sowohl bei Manne als auch in der phänomenologischen Tradition, bspw. bei Aurel Kolnai in Versuch über den Hass aus seinem Buch Ekel, Hochmut, Hass. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle: Hass nimmt die Gefährdung ernst, denn die Form zu leben, wird tatsächlich in Frage gestellt. Für das Beispiel Misogynie, die sich als Hass auf Frauen äußert, die sich der privilegierten Stellung von Männern entgegenstellen, sie in Familie, Beruf und sozialem Leben herausfordern, heißt das: Diese Frauen stellen objektiv die bestehende Ordnung in Frage und rufen als Reaktion Hass bei denjenigen hervor, die diese bestehende Ordnung für richtig, naturgegeben oder gerecht halten oder die Gegebenheiten noch nie in Frage gestellt haben, da sie von den Umständen begünstigt werden.

Nach dieser Beschreibung ist es nun nicht mehr möglich, von der Hand zu weisen, dass Emotionen in einem bestimmbaren Zusammenhang mit den sozialen Strukturen stehen, in denen sie erlebt werden. Sie ermöglichen es, sowohl die Personen besser zu verstehen, die sie empfinden, als auch die sozialen Strukturen, unter denen sie erlebt werden. Selbst in einer so feindseligen Emotion wie der des Hasses zeigt sich nicht nur die Feindseligkeit der Person, die hasst. Nein, die Emotion verweist auf das Weltverhältnis bzw. die momentane Lebensweise der Person, sowie auf die sozialen Umstände bzw. Strukturen, die das Leben dieser Person beherrschen, ebenso wie auf diejenigen Verhaltensweisen, die – hier am Beispiel des Hasses – die eigenen gefährden und die deshalb als Veränderungen angesehen werden, die ausgelöscht werden sollen. Diese komplexe Verbindung durch die Reflexion auf Emotionen zu erleben und verstehen zu können, nenne ich das soziale Wirken von Emotionen. Das soziale Wirken der Emotionen reflexiv zu beleuchten und die Ergebnisse für die Analyse der politischen, privaten, ökonomischen sowie kulturellen Strukturen und Probleme heranzuziehen, kann einen wichtigen Beitrag zu Analyse und Kritik der Gesellschaft und des eigenen Lebens leisten.

Mit den folgenden Zeilen zur Auswahl der Beispiele möchte ich diesen Beitrag abschließen: Ein Beispiel zu wählen, sagt immer auch etwas über die Person aus, die dieses Beispiel wählt. Ich habe mich hier für zwei entschieden, die es in aktuellen Debatten über gesellschaftliche Probleme verdient haben, gerade in Verbindung mit dem Thema Emotionen angesprochen zu werden. Das halte ich deshalb für wichtig, da die Abwertung von Emotionen – wie eingangs erwähnt – und die Abwertung des »Weiblichen« meist Hand in Hand gehen. Diese Erfahrung können alle Menschen machen, die auf irgendeine Art von den gängigen Geschlechternormen abweichen. Auf Grund meines eigenen Erlebens habe ich das Augenmerk auf die Beleidigung in Form der Abwertung einer homosexuellen Person sowie auf die alltägliche Erfahrbarkeit von Misogynie gelenkt. Die Erfahrung, auf diese Art beleidigt zu werden, ist eine, die ich nur zu gut kenne und gleichzeitig muss ich mich bei einigen Stellen, die Kate Manne in ihrem Buch über die Logik der Misogynie ausweist, ertappt fühlen, da die Verinnerlichung und Verkörperung dieser patriarchalen Strukturen nur allmählich durch Reflexion, Umdenken und performative Praxen verändert werden kann. Diese Prozesse anzustoßen, kann durch die Bezugnahme auf die emotionalen Wertungen begonnen und fortgeführt werden, das ist es, was ich mit diesem Text ebenfalls andeuten wollte.


[1] »Weiblich« und »Männlich« stehen hier in Anführungszeichen, da es sich dabei ebenfalls um eine Dualität handelt, die die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse des Patriachats, der Heteronomie und der LGBTQIA*-Feindlichkeit verfestigen. Es sind konstruierte Verhaltensnormen und -vorschriften, gegen die sich zur Wehr gesetzt werden kann und sollte, wenn mensch für Vielfalt einstehen will. Ein immer noch aktueller Klassiker der feministischen Literatur, in dem sich sowohl existenzialistische Fragestellungen wie materialistische Analysen finden lassen, und in dem das Verhältnis der Geschlechter so umfänglich wie sonst nur selten beleuchtet wird, ist Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek b.H.: Rowohlt 1992. Zur hier angesprochenen Situation vgl. besonders Situation und Charakter der Frau, ebd. S. 747–781.


Dr. Paul Helfritzsch forscht und lehrt zu Fragen der politischen Teilhabe, der Bedeutung von Emotionen, um soziale Strukturen zu erleben, den Formen des Füreinander, Nebeneinander und Gegeneinander, sowie der Geschlechts- und Sexualitätsspezifischen Unterschiede der Gesellschaft. Methodisch kombiniert er dabei vorrangig phänomenologische Beschreibungen und poststrukturalistische Theoriebildung.