Epistemische Ungleichheiten zwischen Elisabeth von der Pfalz und René Descartes – Im Philosophiestudium wiedergefunden

Von Kim Ann Woodley (Bochum)

Wintersemester 2023/24 — Ich biete ein Lektüreseminar zu Descartes Werk Die Passionen der Seele an. Dazu lesen wir den Briefwechsel mit Elisabeth von der Pfalz, denn ohne Elisabeth gäbe es diese Lektüre nicht. René nennt sie dennoch an keiner Stelle. Dafür entschuldigt Elisabeth sich für ihren „Stumpfsinn“ und ich lese ihre Worte: „Denn das Leben, das ich zu führen gezwungen bin, läßt mir nicht genug Zeit übrig, um eine Haltung der Meditation Ihren Regeln gemäß anzunehmen“ (Descartes & von der Pfalz 2015:14). Im Seminar sind wir uns einig: Irgendwie unfair, das Ganze.

Sommersemester 2014 — Ich sitze in meiner ersten Vorlesung, die meisten Leute im Raum sind männlich gelesene Personen. Der Professor auch. Die Philosophen, von denen wir lernen auch. Dann das Wintersemester — Nächste Vorlesung, wieder ein Raum voller männlich gelesener Personen. Wieder ein Syllabus voller Männer.[1] Immerhin eine Professorin, die da vor mir steht. Später dann Lektüreseminare zu Nietzsche und Schopenhauer. Seminare zur Metaethik und angewandten Ethik. Noch mehr Syllabi voller Männer. Überwiegend able-bodied, überwiegend weiß. Ich habe es gar nicht bemerkt, geschweige denn hinterfragt. Horizont ende.

Dann das Masterstudium. Eine Entscheidung entgegen den Erwartungen, die an mich gerichtet wurden. Eine Entscheidung für Selbstbestimmung, aber auch, um meiner derzeitigen Lebensrealität, meinem Käfig, zu entkommen. Noch mehr Philosophieseminare und noch mehr Situationen, in denen ich darum kämpfen musste, in meinen Studienabsichten ernst genommen zu werden. Musste ich nämlich. Häufig. Mein erster Erfolg ernst genommen zu werden kam mit der Unterstützung einer Dozentin im Nachgespräch einer Hausarbeit. Sie half mir, meine Schreibkompetenzen zu verbessern. Ich durfte ihr eine Schreibprobe meiner nächsten Hausarbeit bei einer anderen Lehrperson für Feedback einreichen. Danke nochmal!

Viele Jahre lang dachte ich, es ginge nur mir so. Dass ich nichts richtig mache. Dass ich nicht gut genug bin. Ich sah es als mein persönliches Versagen, dass ich den an mich gerichteten Erwartungen nicht gerecht wurde. Ich sah es als mein persönliches Versagen, dass meine Lebensrealität mir missfiel, ich mich in ihr gefangen fühlte. Dass beides mit dem mir zugeschriebenen Geschlecht zusammenhing, war vielleicht ein leises Flüstern im Hinterkopf. Ein Flüstern, das von den Stimmen anderer übertönt wurde. Und sie rufen auch heute noch. Je lauter das Flüstern, desto mehr schreien sie mir entgegen. Begriffe wie „Repräsentationsregime“ — d.i. „das gesamte Repertoire an Bildern und visuellen Effekten, durch das ‚Differenzen‘ in einem beliebigen historischen Moment repräsentiert werden“ (Karakayali & Tsianos 2014, zit. n. Stuart Hall) — kannte ich nicht. Die Relevanz von Vorbildern, mit denen ich mich identifizieren kann, kannte ich auch nicht. Die Überrepräsentation von männlich gelesenen Personen in der Philosophie ist mir schließlich aufgefallen, problematisiert habe ich sie zunächst weiterhin nicht.

Dann immer häufiger Seminare von Dozierenden, die mir ähnlich sahen, mit denen ich mich identifizieren konnte. Ich weiß nicht, ob ich ihre Veranstaltungen zuvor nicht gesehen habe, oder ob es sie nicht in dem Ausmaß gab. Plötzlich waren auch die Syllabi diverser. Und schließlich stellt uns eine Dozentin Love and Knowledge: Emotion in Feminist Epistemology von Alison M. Jaggar (1989) vor — Ein Text, in dem das Untergraben der epistemischen Autorität von Frauen und anderen sozialen Gruppen thematisiert wird, die kulturell mit Emotionen verbunden sind, sowie das Postulat Emotionen als Zugang zu Wissensgewinn zu nutzen — Zum ersten Mal las ich einen philosophischen Text und dachte: „Ja! Genau!“ Und mein Horizont weitete sich. Noch ein großes Danke!

Von eben dieser Dozentin hörte ich auch zum ersten Mal von Elisabeth von der Pfalz. Und langsam, Stück für Stück, überkam mich diese neue Idee, dass ich nicht nur jahrelang Philosophie studieren, sondern selbst Philosophin sein kann. Kann ich? — Mein Kopf blockiert — Ich kann. Ich bin. Unterstützt wurde und werde ich dabei vor allem von Philosophinnen. Danke an euch alle!

Gegenwart. Meine Betreuerin der Doktorarbeit bestärkt mich darin, Elisabeth von der Pfalz in mein Seminar mit einzubeziehen. Nach den Sitzungen stelle ich den Studierenden wöchentlich Reflexionsfragen und eine Person reicht folgenden Kommentar ein:

„In dem Kontext ist mir das erste Mal richtig aufgefallen, wie unterrepräsentiert Frauen in der Philosophie sind. Obwohl es Briefwechsel und Belege dafür gibt, dass sie auch Philosophinnen sind bzw. waren und Respekt verdienen. Ich denke, der Briefwechsel veranschaulicht einen philosophischen Austausch gut, der auf Augenhöhe stattfindet, obwohl die Teilhabenden nicht beides Männer sind. Dadurch ist mir auch aufgefallen, dass Elisabeth von der Pfalz die erste Frau ist, mit der wir uns im ersten Semester des Philosophie Studiums überhaupt beschäftigen. Und das auch erst nach fast 3 Monaten.”

Schmerz und Erleichterung zugleich in meinem Körper, immer wieder, wenn ich diese Zeilen lese — Wieso Schmerz? Ja, wieso nur? — Ich bin froh, dass es nur drei Monate dauerte. Ich brauchte vier Jahre, bis ich ansatzweise einen Kommentar dieser Art schreiben hätte können. Und zugleich möchte ich hinterfragen, ob der Briefwechsel tatsächlich auf Augenhöhe war. Ja, Descartes nahm Elisabeth von der Pfalz ernst und ihr Briefwechsel motivierte ihn letztlich zum Verfassen seines letzten Werkes. Nein, er erwähnt ihren Einfluss nicht. Doch da ist noch mehr.

Solange das Geschlecht die Zugänge zu Wissen und Macht beeinflusst und solange Wissen und Macht sich gegenseitig beeinflussen, durchdringen, verstärken, oder aber blockieren, solange sind wir nie auf Augenhöhe miteinander (Fricker u.a. 2023). Weder 1643 noch 2024. Die epistemischen Ungleichheiten — Ungleichheiten, die sich auf den Bereich des Wissens und auf Menschen als Wissende beziehen — bleiben ungerecht und haben lediglich ihre Strategie, ja, ihr Gewand geändert. Wo sie zuvor offenkundig angriffen, schleichen sie sich nun verborgen unter Harry Potters Tarnumhang an.

Gegenwart: Im Seminar lesen wir den ersten Absatz von Descartes ersten Briefe, datiert mit dem 21. Mai 1643. Ich frage, ob den Studierenden in den ganzen altmodischen Höflichkeitsfloskeln des Adels und der Bildungsbürgerlichkeit etwas Besonderes auffällt. Sie sehen es nicht. So wie ich es zu Beginn meines Studiums nicht sah. Heute lese ich von Renés Bedauern, Elisabeth nicht in Den Haag begegnet zu sein (weswegen der Briefwechsel überhaupt erst entstand). Ich lese:

“Denn ich hätte zu viele Wunder gleichzeitig zu bestaunen gehabt; und ich hätte dabei übermenschliche Reden hervorkommen sehen aus einem Körper, der denjenigen gleicht, welche die Maler den Engeln verleihen[.]” (Descartes & von der Pfalz 2015:6)

Frauenkörper als Objekte männlicher Begierde. Wir sollen dankbar sein. Es ist doch ein Kompliment — Ich erinnere mich an eine Sprechstunde bei einem Dozenten. Es war ebenfalls die Nachbesprechung einer Hausarbeit. Ich frage, wie ich mich verbessern kann. Er gibt mir Tipps, betont zugleich: das wird schwer. Seine Füße liegen neben mir auf dem Tisch, sein Oberkörper zurückgelehnt im Stuhl. Dann ist das Gespräch zu Ende. Wir verlassen gemeinsam das Büro, nehmen den Fahrstuhl ins Erdgeschoss. Im Fahrstuhl spricht er mich auf meinen Körper an, macht mir ein Kompliment. Ich will nur, dass die Tür wieder aufgeht. Message: Deine Intelligenz überzeugt Mann nicht, dein Körper aber schon.

Zur Erinnerung: Epistemische Ungleichheiten sind Ungleichheiten, die sich auf den Bereich des Wissens und auf Menschen als Wissende beziehen — Weil Elisabeth nicht nur weiße Europäerin, sondern obendrein adelig ist, ist sie vor allem klassengesellschaftlich privilegiert, Descartes Werke überhaupt zu studieren. Weil Elisabeth eine Frau ist, wird es auf Ewig ein Studium bleiben. Das Erlangen von Fähigkeiten verwehrt, denn für unfähig erklärt. Prinzessin sein: die Romantisierung des Käfigs jeher.

Gegenwart: Im Seminar lesen wir Elisabeths Worte vom 10. Juni 1643: „Bald sind es die nicht zu vernachlässigenden Interessen meines Hauses, bald die unvermeidbaren Gespräche und Gefälligkeiten, die meinen schwachen Geist mit Ärgernissen und Sorgen so heftig belasten, daß er danach lange Zeit für jegliches andere Anliegen unnütz wird” (Descartes & von der Pfalz 2015:14). Mit anderen Worten: „Weil ich eine adelige Frau bin, haben meine Familie und mein adeliges Umfeld das Anrecht auf meine Fürsorge. Und sie schöpfen meine Ressourcen so sehr in ihrem Interesse aus, dass ich keine Kraft mehr dafür habe, meinen Interessen nachzugehen.“

Elisabeth fehlen die Deutungsmittel und Begriffe für ihre Erfahrungen ebenso wie mir lange Zeit während meines Philosophiestudiums. Es sind nicht die epistemischen Ungleichheiten, es ist ihr „schwacher Geist“. Sie ist unvollkommen, doch ihr Körper einem Engel gleich. Ob 1643 oder 2024, das Narrativ wechselt nur sein Kleid.

Im Seminar fragt jemand: Wieso schreibt Elisabeth diese Worte? Wieso sollen sie, diese Worte, René interessieren? Ja genau, muss es nicht. Das ist sein Privileg als Mann und einflussreicher Philosoph. Und es ist sein Verlust, unser aller Verlust. Denn was ich Alison M. Jaggar lesend lernte, ist, dass nicht nur die Frau auf ihren Körper, sondern das Wissen selbst reduziert wird.

Ich bin Philosophin. Während ich diese Zeilen schreibe, frage ich mich, ob ich diese Zeilen wirklich schreiben darf — Warum? Ja, warum nur? — Dann erinnere ich mich an meine ehemaligen Kommilitoninnen und ihre Ausdrücke der Erleichterung im Austausch darüber, dass der Sexismus nicht nur sie betraf. Sie sind nicht allein. Dann lese ich Elisabeths Worte und finde Trost. Ich bin nicht allein. Dann erinnere ich mich an die Philosophinnen, von denen ich bisher lernen durfte, und finde Mut, denn wir sind nicht allein.


[1] Streng genommen muss ich auch hier von männlich gelesenen Personen ausgehen und sprechen. Ich kann nicht wissen, ob eine Person, die ich männlich lese, ein Mann ist. Weder im Seminarraum noch auf dem Syllabus. Ich habe mich dafür entschieden, in diesem Artikel an ausgewählten Stellen von „Männern“ zu sprechen, weil ich von den Erfahrungen berichte, die ich im Philosophiestudium gemacht habe und diese Erfahrungen in Verbindung zu meinem damaligen Wissen (oder eben Nicht-Wissen) setze. Begriffe wie „männlich gelesen“ kannte ich nicht und vor allem die männlich gelesenen Philosophen auf den Syllabi wurden mir als Männer gemäß dem binären Geschlechtermodell präsentiert.


Quellen

Descartes, René 2014. Die Passionen der Seele. C. Wohlers, hg. FELIX MEINER VERLAG. https://meiner-elibrary.de/book/410/die-passionen-der-seele [Stand 2023-12-18].

Fricker, Miranda, Bratu, Christine & Dammel, Aline 2023. Epistemische Ungerechtigkeit: Macht und die Ethik des Wissens. München: C.H. Beck.

Karakayali, Juliane & Tsianos, Vassilis S. 2014. Rassismus und Repräsentationspolitik in der postmigrantischen Gesellschaft. bpb.de. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/180863/rassismus-und-repraesentationspolitik-in-der-postmigrantischen-gesellschaft/ [Stand 2024-03-25].

Jaggar, Alison M. 1989. Love and knowledge: Emotion in feminist epistemology. In: Inquiry 32, 2, 151–176.


Kim Ann Woodley ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promovendin an der Ruhr-Universität Bochum am Lehrstuhl für Ethik und Philosophie der Emotionen. Ihre Forschung wirft eine feministisch-philosophische Perspektive auf KI-Technologien zur Emotionserfassung.

Link zur Institutswebsite: https://www.pe.ruhr-uni-bochum.de/philosophie/i/phil-ethik-emotion//woodley.html.de