Ethische Ernährung – eine Chimäre
Von Gunther Hirschfelder (Regensburg)
In Homers Ilias, die am Anfang der fiktionalen Dichtung Europas steht, finden sich die Menschen in der Gewalt eines unentrinnbaren Schicksals, bedroht von unheimlichen Göttern und Kräften. Eine dieser seltsamen Gestalten ist Chimaira, ein feuerspeiendes Mischwesen, das von vorne wie ein Löwe aussieht, in der Mitte als Ziege erscheint und hinten als Schlage oder Drache daherkommt. Solche Mischwesen waren in der griechischen Mythologie verbreitet, auch Hesiod berichtete später von der Chimaira und wurde dabei konkret: In Lykien sei sie für Mensch und Tier zur ernsten Gefahr geworden. Heute glaubt natürlich niemand mehr an die Existenz antiker Mischwesen – schon eher als Resultat biotechnologischen Fortschritts. Doch dazu später mehr. Im modernen Sprachgebrauch ist aus der Chimaira die Chimäre geworden, das Trugbild.
Im Folgenden soll diskutiert werden, ob es sich auch bei der ethischen Ernährung um ein solches Trugbild handelt, wobei vorausgeschickt werden muss, dass der Autor zwar eine gewisse Expertise für das Thema Ernährung mitbringt, kaum aber für das weite Feld der Philosophie.
Warum also ist die ethische Ernährung ein Trugbild? Sie ist immerhin zwingend geboten, denn es geht um faire Produktionsbedingungen, das Ende von Flächenfraß, Ökozid und Tierleid und um die Notwendigkeit eines globalen Umsteuerns, könnte eine Anpassung auf eine weitgehend vegane Ernährung die globale Treibhausgasemission doch um erheblich reduzieren. Der globale Befund ist eindeutig, und er wird vor allem von den Eliten der westlichen – eigentlich müsste man eher sagen: abendländischen – Industrienationen gebetsmühlenartig wiederholt. Das ist zwar nicht falsch, aber, um es mit der linken Vordenkerin Sarah Wagenknecht zu sagen: selbstgerecht. Als gelernter Historiker würde ich noch weiter gehen und behaupten: es ist sogar überflüssig. Denn zum einen verhalten sich diese Eliten pharisäerhaft: Sie sind diejenigen mit dem größten carbon footprint und sie weisen den anderen jenen Weg, den sie selbst nicht konsequent gehen mögen. Zum anderen ist zwar das Ziel ebenso geboten wie hehr, nämlich nicht weniger als die Rettung der Welt, aber der Weg führt nicht in die richtige Richtung; womit wir wieder bei der Ethik wären.
Der erste Fehler: Ethische Ernährung wird heute vor allem als individuelle Aufgabe gesehen, die als Imperativ kommuniziert wird. Sowohl die institutionalisierte Ernährungskommunikation als auch schulische Ernährungsbildung und Leitmedien appellieren an Individuen, ihr Verhalten kritisch zu überdenken, sich zu läutern und den Pfad der vermeintlichen Tugend zu beschreiten. Diese Diskussion ist, um es mit Alexander Grau zu sagen, „hypermoralisch“, sie führt nicht unbedingt zur Verhaltensänderung. Die meisten essen genau wie zuvor, aber mit schlechtem Gewissen. Das wiederum führt zu Scham und einer Entchronologisierung der Mahlzeitenstrukturen. Ebenso wie Ermahnungen Adipositas-Kranken nicht helfen, vermögen die Strategien des erhobenen Zeigefingers die Optimierungspotenziale individueller Ernährungsmissstände allenfalls auszuleuchten. Warum also diese Imperative? Sie entspringen einer Enttäuschung, und die historischen Ursachen finden sich im 20. Jahrhundert. Es war das Zeitalter der Ideologien, das an seinen Experimenten des Sozialismus und Kapitalismus derart scheiterte, dass man den Staaten nach 1990 kaum zutraute, die Ernährung der Weltbevölkerung planend zu strukturieren. Das freie Spiel der Kräfte, der Neoliberalismus, sei überlegen, der Staat solle sich heraushalten. Verlockend, denn mit dem Aufschwung der Weltwirtschaft nach dem Ende des Kommunismus, der mit Globalisierung und Digitalisierung einherging, wurde Westeuropa zum Schlaraffenland, in dem es südamerikanisches Rindfleisch, asiatische Riesengarnelen, Zuchtlachs und Tropenfrüchte bis in die Billigsegmente des Discounts schafften. Gleichzeitig blieb die Ernährung einer der letzten unregulierten Bereiche in einer überregulierten Gesellschaft. Der klassische Freiheitsbegriff – die Autonomie des Subjekts in Bezug auf Meinung und Glaube – wurde faktisch reduziert. Seinen Glauben frei leben zu dürfen war unattraktiv geworden, seine politische Meinung zu artikulieren überkomplex. Blieb Autonomie beim Einkaufen, Essen und Trinken. Dass die Bild-Zeitung einen Tag nach der Wahl Joseph Kardinal Ratzingers zum Pontifex Maximus am 20. April 2005 „Wir sind Papst!“ titelte, war zwar treffend, aber blutleer, denn dass wir beim Essen inzwischen Oberschicht waren, erwies sich als alltagskulturell als viel verführerischer und wirkmächtiger. Und das war eine Freiheit, die man sich kaum mehr nehmen lassen wollte, denn sie betraf ja wirklich alle. Kein Wunder, dass die Veggie-Day-Strategie der Partei Bündnis 90/Die Grünen im Sommer 2013 ein Desaster wurde.
In der Summe wird stellt sich die Ernährung in den ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts dissonant dar. Durch ethisch korrekte Ernährung soll die Welt gerettet werden, das scheint gewiss, aber der Fleischverbrauch bleibt beispielsweise ziemlich stabil. Wir bekennen uns zu Ernährungsstilen, die wir als Ausdruck unserer Identität begreifen, aber wir postulieren diese Stile stärker als dass wir sie im Alltag leben, weil wir quasi dauernd Ausnahmen machen, und wir glauben den Eliten gerne, die uns weismachen wollen, dass wir uns selbst bessern müssen, damit die Welt besser wird. Dass der Staat die Leitplanken setzen muss, dass er planwirtschaftlich vorgehen sollte und Pseudofreiheiten beschränken muss, weil wir damit auf Kosten anderer leben und weil die Leckerbissen so billig sind, wir Umweltfolgekosten vergemeinschaften, all das ist zwar weithin vernehmbar, aber eine echte Internalisierung und somit Korrekturen nicht mehrheitsfähig, weil der starke Staat dann stets als Bedrohung wahrgenommen wird, als fast zwangsläufig rechts oder links.
Der zweite Fehler: Ethische Ernährung zu fordern ist ahistorisch. Für sogenannte LOHAS, also die Anhänger jenes Lebensstils, den Paul Ray im Jahr 2000 „lifestyle of health and sustainibility“ getauft hat, ist ethische Ernährung durchaus attraktiv, und neue nachhaltige Praxen etablieren sich. Ethik ist für diejenigen attraktiv, die es sich leisten können und für die ein ethischer Lebensstil auch ein Instrument der Statusrepräsentation ist. Mit ethisch korrekten Verhalten kann man Sozialkapital bilden, wobei es meist reicht, den herkömmlichen Lebensstil nachhaltig zu dekorieren und kommunikativ entsprechend darzustellen. Ein solcher Lebensstil, zumal, wenn man sich mehr als nur mit ethisch korrektem Verhalten schmücken wollte, kommt aber nur für einen Bruchteil der urbanen Kapital-, Bildungs-, Kultur- oder Szeneelite in Frage. Ohnehin werden ethisch derart imprägnierte Lebensweisen von vielen anderen gar nicht erst verstanden. Da sind zunächst diejenigen, die einkommens- und/oder bildungsarm sind oder auch die Populismusaffinen, die Nachhaltigkeit als Angriff auf ihren Lebensstil, ihr Weltbild oder ihre politischen Vorstellungen sehen. Man kann, aber man muss es nicht wie Salman Rushdie sehen, der unlängst die Gefahr formulierte, ein Teil unserer Gesellschaft würde zu einem ignoranten, eifernden Pöbel degenerieren. Aber man kann Menschen beobachten, die ihre Gärten mit Schotter versiegeln, die aus dem Karfreitag – einem der höchsten christlichen Feiertage – einen car-friday machen, an dem man seinen röhrenden Boliden zum Posen in welche City auch immer fährt. Alles nicht verboten, aber alles auch ein bewusstes oder zumindest intuitives Agieren gegen eine ethische Bevormundung, ja, die letztlich eben oftmals gerade im Feld der Ernährung erfahren wird. Wie und was wir essen ist eben kein Zufall, sondern mit dem Ethnologen Clifford Geertz gewissermaßen Effekt eines uns umspannenden kulturellen Bedeutungsgewebes, in das wir uns tagein, tagaus verstricken.
Ist unreflektiertes Essen also verwerflich? Moralisch betrachtet vielleicht; wie gesagt, das zu beurteilen fällt nicht in mein Kompetenzspektrum. Aber aus kulturwissenschaftlicher oder historischer Perspektive handeln Menschen immer nach einer Logik, nach einer Struktur, die man entschlüsseln kann. In der kapitalistischen Konsumgesellschaft ist der Kaufakt systemimmanent, durch ihn kann der Mensch an eine Gemeinschaft andocken, und Markenprodukte, die für einen global lifestyle oder ein erfolgreiches Leben stehen, für Autonomie, Schönheit oder Kraft werden dann zum Werkzeug, um sozial und damit auch sozio-kulturell Resonanz zu erfahren. Dabei kommt für die Bevölkerungsmehrheit der strategische noch vor dem ethischen Konsum – die Grillparty vor der Weltrettung. Ein Teil dieser Logik ist dann auch, dass die Imperative der Eliten nicht selten (un-)bewusst konterkariert werden: Eine Gesellschaft, die sich an Schwachen, Bildungsfernen und Armen ergötzt und sie bisweilen verhöhnt, und sei es nur in den abendlichen TV-Formaten, provoziert, dass die Verhöhnten ihrerseits die Ideale der vermeintlich Herrschenden verlachen. Insofern ist die Currywurst vielleicht der neue DDR-Witz und man hat zweifellos viele gute Gründe, sich nicht ethisch zu ernähren. Das alles wäre global gesehen verschmerzbar – wir in Deutschland sind ja vergleichsweise wenige – wenn nicht zunehmend auch andere aufstrebende Staaten nach dem gleichen Muster handeln würden. Schwellenländer verbitten sich mitunter die westlichen Imperative als postkoloniale Fortschreibung bekannter Bevormundung – in diesem Sinne hat der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro argumentiert. Autokraten interessieren sich ohnehin nicht für Nachhaltigkeit – und auch für ihre Verbündeten nicht. Zumal die Bevölkerungen unterentwickelter Staaten sowieso einer anderen Agenda folgen, die mit jener eines Deutschland der 1950-er Jahre vergleichbar ist: Damals galt es massive Unterversorgung zu überwinden und zu kompensieren, denn nach Hunger und Entbehrung will man sich erst einmal sattessen. So folgte der Nachkriegszeit die sogenannte „Fresswelle“, und nach diesem Mechanismus ist etwa auch der chinesische Fleischkonsum – nach dem extremen Mangel der Kulturrevolution – auf über 40 Kilogramm pro Kopf und Jahr angestiegen. Ethik- und Nachhaltigkeitsdiktate lassen sich dort vermutlich erst durchsetzen, wenn mittelfristig ein hohes Konsumplateau gehalten wird. Wobei: In den USA wirkt noch nicht einmal dieser Mechanismus. Fatalerweise stehen viele Staaten gerade erst in den Startlöchern, um in die Konsumrally einzusteigen. Und wer kann es Menschen in Madagaskar oder Äthiopien, im Tschad oder in Nordkorea verdenken, im Fleisch das zu sehen, was es im 19. Jahrhundert in Deutschland war, nämlich Symbol für Fortschritt, Wohlstand und gutes Leben?
Die Lage ist also verzweifelt – aber nicht aussichtslos. Denn jetzt kommt wieder die Chimäre ins Spiel, dieses Mal in ihrer Gestalt als Mischwesen. Es soll hier als Metapher für technologischen Fortschritt stehen, für neue, auch mittels Gentechnik nicht nur modifizierte, sondern hybride Lebensformen, tierische und pflanzliche Chimären eben. Ethisch umstritten, aber vielleicht geboten, jedenfalls dann, wenn sich ein Teil der Menschen nicht entscheiden kann, vom Fleisch zu lassen und rücksichtsvoll, ausgewogen und nachhaltig, mithin ethisch korrekt zu leben. Dann nämlich werden solche Chimären notwendig sein, weil sie viel bessere Futterverwerter sein könnten, also effizienter, weil sie weniger Methan emittieren, weil sie resistenter gegen Trockenheit oder versalzte Böden sind, weil sie Wetterextremen besser trotzen oder auf Böden gedeihen, die bislang nur Gras hervorbringen und keine Ackerfrüchte, also auf weit über der Hälfte der landwirtschaftlichen Böden weltweit. Und vielleicht ist bis zum Ende des Jahrhunderts sogar der Wiederkäuer der Meere erfunden, ein neues Wesen, das sich von Plankton und Algen ernährt und in moderne Verwertungssysteme integrierbar ist. Irgendetwas muss sicherlich passieren. Es sei denn, der Veganismus setzt sich wider Erwarten doch durch, freiwillig oder zwangsverortet, und selbst sogenannte Schurkenstaaten werden nachhaltig und grün, was aber mit allen kulturhistorischen Erfahrungen brechen würde. Bis dahin bleibt die ethische Ernährung eine Chimäre.
Alexander Grau: Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung, München 2020.
Gunther Hirschfelder, Angelika Ploeger, Jana Rückert-John, Gesa Schönberger (Hrsg.): Was der Mensch essen darf. Ökonomischer Zwang, ökologisches Gewissen und globale Konflikte, Wiesbaden 2015.
Harald Lemke: Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie. 2. Auflage Bielefeld 2016.
Hartmut Rosa: Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, München 2019.
Lars Winterberg: Die Not der Anderen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Aushandlungen globaler Armut am Beispiel des Fairen Handels. Bausteine einer Ethnografie, Münster u.a. 2017.
Lars Winterberg, Gunther Hirschfelder: Fleisch als Kulturgut: Traditionen und Dynamiken, in: Ernährung im Fokus 1/2020, S. 28–33.
Gunther Hirschfelder studierte Geschichte, Politik und Agrarwissenschaft an der Universität Bonn. 1992 promovierte er an der Universität Trier über den Kölner Fernhandel im Spätmittelalter. Jahren als Postdoktorand in Trier, Manchester und Bonn folgten Professurvertretungen in Mainz und Bonn und eine Habilitation über den Alkoholkonsum zu Beginn des Industierzeitalters. Seit 2010 ist er Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkt ist die Erforschung historischer, gegenwärtiger und zukünftiger Agrar- und Ernährungskulturen. Daneben ist er publizistisch und journalistisch tätig.