Interspezies-Gerechtigkeit: „Nachhaltiges Fleisch“ als Oxymoron

Von Leonie Bossert (Tübingen)


Wir leben in einer Zeit, in der wir immer mehr mit den Auswirkungen sozio-ökologischer Krisen – wie dem Klimawandel, dem Biodiversitätsverlust oder auch vergleichsweise akuten Krisen wie Pandemien – konfrontiert werden. Zur Entstehung der eben genannten Krisen trägt die Erzeugung von Nahrungsmitteln tierlicher Provenienz ein Stück weit bei. So treiben zum Beispiel die Emissionen der globalen landwirtschaftlichen Tierhaltung den Klimawandel voran, das Roden von Flächen für Weidehaltung und Tierfutteranbau trägt zum Biodiversitätsverlust bei, und das Halten vieler Tiere auf engem Raum, wie es in der landwirtschaftlichen Tierhaltung üblich ist, kann zum Ausbruch zoonotischer Infektionskrankheiten führen, die wiederum epidemisches oder pandemisches Ausmaß annehmen können.

Nachhaltigkeit nicht-anthropozentrisch gedacht

Diese Auswirkungen sollten bereits aus einer rein auf menschliches Wohlergehen bezogenen Perspektive dazu führen, die landwirtschaftliche Tierhaltung in Frage zu stellen und Alternativen dazu zu suchen – unter anderem, um das weitere Voranschreiten der benannten krisenhaften Herausforderungen zu reduzieren. Weitgehender Konsens besteht darüber, dass es hierfür erstrebenswert ist, nachhaltige Ernährungsformen und nachhaltige Ernährungsproduktion zu wählen. Darüber, was eine nachhaltige Ernährung darstellt, besteht jedoch ganz und gar kein Konsens. Diese Frage ist äußerst komplex, da unzählige Faktoren mitgedacht werden müssen, die über die landwirtschaftliche Tierhaltung hinausgehen, wie beispielsweise die Arbeitsbedingungen für Mitarbeitende im jeweiligen Sektor, der Energie- und Wasserverbrauch für die Produktion eines Lebensmittels oder der Transportweg. Ich möchte hier jedoch dafür argumentieren, dass die Erzeugung tierlicher „Produkte“ und eine auf ihnen basierende Ernährungsweise auch deshalb nicht nachhaltig sind, da sie den normativen Grundlagen Nachhaltiger Entwicklung widersprechen – zumindest dann, wenn man diese nicht-anthropozentrisch denkt und praktiziert.

Als normative Grundlagen Nachhaltiger Entwicklung gelten – auch hierüber besteht weitgehend Einigkeit innerhalb der Fachdebatte – die Prinzipien intra- und intergenerationeller Gerechtigkeit. Hierbei stehen vor allem verteilungstheoretische Aspekte im Fokus. Es gilt der Frage nachzugehen, was in welchem Umfang an wen verteilt bzw. hinterlassen werden sollte, damit es als gerecht gelten kann. Zur Beantwortung dieser ‚w-Fragen‘ muss wiederum unter anderem untersucht werden, was Individuen für ein gelingendes Leben benötigen. Für die Debatte um Nachhaltige Entwicklung sind entsprechend Theorien der Verteilungsgerechtigkeit sowie Theorien des Guten Lebens zentral. Beide können überzeugend auf (mindestens) empfindungsfähige Tiere angewandt werden.  

Tiere innerhalb des Scope of Justice

Gegen eine solche Anwendung von Gerechtigkeitstheorien auf empfindungsfähige Tiere werden einige Einwände vorgebracht. Diese erscheinen mir jedoch nicht stichhaltig. Ein häufiger Einwand besagt, dass Gerechtigkeit etwas sei, das sich vernunftbegabte Wesen gegenseitig schulden. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass sowohl Tiere als auch nicht zu Vernunft begabte Menschen ausgeschlossen sind. Häufiger zu finden ist die Ansicht, dass zwar Tiere exkludiert sein sollten, nicht jedoch bestimmte Menschengruppen. Diese Position wird klassischerweise mit sogenannten „kind of-Argumenten“ begründet, welche aussagen, dass der durchschnittliche erwachsene Mensch rational sei und dass menschliche Individuen, die auf eine Art beschaffen sind wie dieser Prototyp der menschlichen Spezies, aus Gerechtigkeitsperspektive ebenso zu behandeln seien wie dieser. Das gilt auch dann, wenn die Individuen bestimmte Fähigkeiten nicht besitzen, die der menschliche Prototyp aufweist, wie beispielsweise Rationalität. Kind of-Argumente verweisen auf unterschiedliche Arten der Ähnlichkeit. Kind of kann sich beziehen auf das, was als natürliche Ausstattung des erwachsenen Durchschnitts-Menschen angesehen wird, als das, was als normal angesehen wird, auf Potentialitäten oder Gruppenzugehörigkeit wie zum Beispiel die Spezieszugehörigkeit. Solche kind of-Argumente sind jedoch wenig überzeugend:

Am problematischsten ist die Grundannahme eines per definitionem ‚normalen‘ Menschen, an dem andere Menschen gemessen werden. Eine Festlegung dessen vorzunehmen, was als ‚normaler‘ Mensch gilt, ist äußerst bedenklich, unter anderen weil dadurch eine Pathologisierung all derer stattfindet, die nicht in dieses Schema passen. Es wird ein bestimmter Menschen-Typ als normativer Standard gesetzt, anstatt den vielfältigen Ausdrucksformen des Mensch-Seins gerecht zu werden.

Ein Kind of-Argument anzuwenden in Bezug auf das, was Menschen ‚natürlicherweise‘ für Fähigkeiten besitzen, ist ebenso problembehaftet, da damit zum einen eine normative Überhöhung ‚des Natürlichen‘ einhergeht und zum anderen fraglich ist, warum beispielsweise eine hohe kognitive Befähigung natürlicher sein sollte als eine sehr geringe, wo doch beides bei der unbeeinflussten menschlichen Reproduktion auftritt.

Bereits das Ausgangsargument, wonach Gerechtigkeit etwas sei, das sich vernunftbegabte Wesen gegenseitig schulden, halte ich für problematisch. Die Befähigung zur Vernunft sollte irrelevant dafür sein, ob ein Individuum aus Gerechtigkeitsperspektive berücksichtigt wird oder nicht. Daraus folgt nicht, dass Vernunft innerhalb der Gerechtigkeits-Sphäre keine Rolle spielten sollte. Um selbst gerecht handeln zu können und Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen zu können, ist Vernunftbefähigung notwendig. Um überzeugende Gerechtigkeitsgrundsätze festlegen zu können, gilt das ebenso. Doch zur alleinigen Begründung dessen, über wen sich der Scope of Justice (SoJ) erstreckt, ist sie nicht hinreichend.

Rawls‘ Gerechtigkeitsgrundsätze

Ein wichtiges Argument, um empfindungsfähige Tiere in den SoJ aufzunehmen (sofern man die hier gesetzte Prämisse akzeptiert, dass sie aus überzeugenden Gründen Teil der moralischen Gemeinschaft sind), besteht daher darin, dass die gängigen Gegenargumente auf problematischen Annahmen aufbauen. Wie bereits erwähnt, spielt für die Nachhaltige Entwicklung speziell Verteilungsgerechtigkeit eine bedeutende Rolle. Hierfür ist John Rawls‘ wirkmächtige Theorie der Gerechtigkeit eine geeignete Grundlage. Rawls selbst klammert Tiere zwar aus dem SoJ (nicht aber aus der Moralgemeinschaft) aus, jedoch lässt sich seine Theorie tierethisch erweitern. Für Rawls gelten die Gerechtigkeitsgrundsätze für diejenigen, die moralische Subjekte darstellen, welche er definiert als Wesen, die vernünftige Lebenspläne erstellen und den Wunsch besitzen, die Gerechtigkeitsgrundsätze anzuwenden und nach ihnen zu handeln. Diese enge Definition schließt neben den allermeisten anderen Tieren auch zahlreiche Menschen aus. Eine Gerechtigkeitskonzeption, die nur für die so definierten moralischen Subjekte gilt, wäre – auch in Bezug auf Menschen – äußerst exklusiv. Dem möchte Rawls selbst entgegenwirken:

Es ist zu betonen, dass die hinreichende Bedingung der gleichen Gerechtigkeit, die Fähigkeit zur moralischen Persönlichkeit, keineswegs zwingend ist. Fehlt jemandem diese Fähigkeit von Geburt an oder wegen unglücklicher Umstände, so wird das als natürliches Gebrechen oder als Auswirkung von Missständen angesehen. Es gibt keine menschliche [Ethnie] oder anerkannte Gruppe, der diese Eigenschaft fehlen würde. […] Des weiteren haben die Menschen wohl unterschiedliche Fähigkeit zu einem Gerechtigkeitssinn, doch das ist kein Grund dafür, den weniger Fähigen den vollen Schutz der Gerechtigkeit vorzuenthalten.

(Rawls 1979, 549-550)

Die Fähigkeit des Gerechtigkeitssinns ist für Rawls entsprechend eine natürliche Fähigkeit wie andere auch und liegt innerhalb der Individuen einer Spezies unterschiedlich ausgeprägt vor. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass bestimmte natürliche Fähigkeiten in der Evolution erst bei Homo sapiens entstanden sind. Wahrscheinlicher ist, dass viele wichtige menschliche Fähigkeiten in (zum Teil stark) graduell abgeschwächter Form auch bei anderen Vertebraten-Arten zu finden sind. In Bezug auf Kinder argumentiert Rawls, die Minimalforderung der moralischen Persönlichkeit beziehe sich auf die Anlage der Fähigkeit dazu, nicht auf ihre Verwirklichung und lässt Vormundschaft zu, wonach Grundrechte durch Eltern und Erzieher_innen wahrgenommen werden.

Ein nahezu gleiches Argument lässt sich auch für empfindungsfähige Tiere entwerfen. Da die natürliche Fähigkeit zur moralischen Persönlichkeit evolutiv auch bei bestimmten Tieren angelegt ist und auch ihre Interessen bereits gegenwärtig zum Teil durch Stellvertreter_innen vertreten werden, erscheint es fraglich, warum Tiere kategorisch aus dem SoJ ausgeschlossen sind. Diese Frage ergibt sich auch aus Rawls‘ Ausführung dazu, dass jemand, die oder der nur aufgrund zufälliger Umstände nicht an der anfänglichen Vereinbarung der Gerechtigkeitsgrundsätze teilnehmen kann, ebenfalls in den Genuss gleicher Gerechtigkeit kommen soll. Auch die Spezieszugehörigkeit ist gewissermaßen ein Zufallsfaktor, und Diskriminierung, die ausschließlich aus ihr folgt, sollte als nicht zulässig angesehen werden (so entwickelt Mark Rowlands (2008) ein Argument, nach dem die Spezieszugehörigkeit unter dem Rawlsschen Schleicher des Nichtwissens zu den unbekannten Variablen zählt). Die Argumentationsweise, mit der Rawls Kinder und kognitiv beeinträchtige Menschen in den Geltungsbereich von Gerechtigkeitsgrundsätzen inkludiert, obwohl seine ersten Bestimmungen sie zunächst ausgeschlossen hätten, lässt sich in sehr ähnlicher Weise auf Tiere anwenden.

Die Rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze, mittels derer geregelt werden soll, wie Freiheiten, politische Teilhabe und ökonomische und soziale Grundgüter verteilt werden sollen, lassen sich also auch auf Tiere beziehen, die dann in der Verteilung mitberücksichtigt werden sollten.

Der Fähigkeitenansatz erweitert auf Tiere

Um die Frage zu klären, was in welcher Weise an wen verteilt oder hinterlassen werden sollte, ist auch eine Vorstellung dessen notwendig, was für ein gutes Leben zentral ist. Eine wichtige Theorie Guten Lebens stellt Martha Nussbaums Fähigkeitenansatz dar, in dem sie selbst das Gute mit dem Gerechten in Verbindung bringt und eine eudaimonistisch inspirierte Gerechtigkeitstheorie entwirft. Nussbaum selbst hat in Die Grenzen der Gerechtigkeit ihren Fähigkeitenansatz auf andere Tiere erweitert. Sie zeigt darin auf, dass auch andere Tiere über die zehn Fähigkeiten verfügen, die sie zu einer – offenen – Liste an Fähigkeiten zusammenführt, welche alle Mitglieder des SoJ in Tätigkeiten umwandeln können sollten. So sollten auch Tiere beispielsweise in der Lage sein oder in die Lage versetzt werden, ein Leben in körperlich gesunder Verfassung zu führen, was bedeutet, dass es einem guten tierlichen Leben widerspricht, sie auf eine Art und Weise zu modifizieren oder zu halten, dass dies nicht gewährleistet ist (Fähigkeit 2, körperliche Gesundheit). Auch Tiere verfügen über ein komplexes Gefühlsleben, von Angst, Wut, Verärgerung, Dankbarkeit, Trauer, Neid, Freude bis hin zu teilweise Mitgefühl (Nussbaum 2010, 535). Dieses sollten sie ausleben können, damit ihnen ein gutes Leben möglich ist (Fähigkeit 5, Gefühle). Ferner trifft auch die siebte Fähigkeit von Nussbaums – ursprünglich für Menschen konzipierte – Liste auf Tiere zu, die Bedeutung der Zugehörigkeit. „Tiere haben einen Anspruch auf Gelegenheiten, die für sie charakteristischen Arten der Bindung und der Beziehung einzugehen“ (ebd., 536). Für jede der zehn Fähigkeiten lassen sich naturwissenschaftliche Belege heranziehen, dass (mindestens) empfindungsfähige Tiere (empirisch messbar) über sie verfügen. Ebenso lässt sich für jede dieser Fähigkeiten normativ argumentieren, warum sie auch für das Leben anderer Lebewesen als dem Menschen bedeutsam ist. Entsprechend lassen sich Aussagen über ein gutes tierliches Leben treffen, die auf einer anspruchsvollen philosophischen Theorie des Guten Lebens aufbauen und gleichzeitig naturwissenschaftlich fundiert sind, wobei sie über die Festlegung eines tierlichen well-being hinausgehen, welches sich ‚ausschließlich‘ physiologisch oder ökologisch messen lässt. Diese Aussagen wiederum sind wichtig, um auszuloten, was eine Form von Interspezies-Gerechtigkeit darstellen kann. Mit ihnen kann man versuchen, sich der Antwort auf die Frage anzunähern, was an wen wie verteilt und für wen wie hinterlassen werden soll, damit es als gerecht gelten kann.  

Interspezies-Gerechtigkeit: „Nachhaltiges Fleisch“ als Oxymoron

Wenn man nun also eine solche (möglichst nahe Annährung an eine Form von) Interspezies-Gerechtigkeit für alle heute lebenden und zukünftigen Mitglieder des Scope of Justice – zu welchem andere Tiere zählen können und sollten – als normative Grundlage Nachhaltiger Entwicklung annimmt, dann kann es nicht mehr als nachhaltige Praxis gelten, dass ein nicht unerheblich großer Teil der Individuen, die in den Scope of Justice fallen, Nahrungsmittel für andere dar- bzw. herstellen. Eine weitgehende bis vollständige Verdinglichung von Individuen entspricht nicht dem, was es erfordert, ein Individuum gerecht zu behandeln. Dies gilt unabhängig von den Umständen, unter denen die Erzeugung als Nahrungsmittel stattfindet, auch wenn selbstredend bestimmte Formen der landwirtschaftlichen Tierhaltung für die tierlichen Individuen größere Qualen und geringere Möglichkeiten auf ein gelingendes (kurzes) Leben mit sich bringen als andere. Das in bestimmten Debatten und ‚Kreisen‘ – wie zum Beispiel in der sogenannten Locavore-Bewegung, die Vasile Stănescu (2013) eingehend kritisiert – viel beschworene „nachhaltige Fleisch“ sollte dann als ein Oxymoron angesehen werden. Also als eine Wortkombination, bei der sich die Verbindung der beiden Begriffe eigentlich ausschließt.


Literatur:

Nussbaum, Martha C. (2010): Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit. Berlin: Suhrkamp.

Rawls, John (1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Rowlands, Mark (2008): Gerechtigkeit für alle. In: Ursula Wolf (Hg.): Texte zur Tierethik. Stuttgart: Reclam, S. 92-104.

Stănescu, Vasile (2013): Why “Loving” Animals is Not Enough: A response to Kathy Rudy, Locavorism, and the Marketing of “Humane” Meat”. In: The Journal of American Culture, Vol. 36, No. 2, S. 100-110.


Leonie Bossert forscht und lehrt als Post-Doc am Internationalen Zentrum der Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Tier-, Nachhaltigkeits- und Umweltethik sowie auf den Non-Human Studies und der Naturphilosophie.