Tiere ernähren

Von Bernd Ladwig (Berlin)


Jedes Tier muss sich von etwas ernähren, um überleben und gut leben zu können. Wir Menschen machen da keine Ausnahme. Allerdings unterscheidet uns manches von anderen Tieren. Zunächst einmal sind wir Omnivoren: Wir vertragen pflanzliche ebenso wie tierliche Nährstoffe. Sodann sind wir besonders erfinderisch und können Nährstoffe synthetisch herstellen. Vitamin B12 zum Beispiel ist in Pflanzen kaum enthalten, aber wir gewinnen es biotechnologisch aus Bakterienkolonien, was uns eine vegane Lebensweise erlaubt. Und schließlich sind wir zur Reflexion fähig und darum für unser Handeln normativ zuständig. Eine Bratwurst mag noch so verlockend duften, wir können ihr dennoch widerstehen, wenn wir dafür gute Gründe zu haben glauben.

Wie wir uns (nicht) ernähren sollten

Ein guter moralischer Grund, auf ein Nahrungsmittel zu verzichten, ist das vermeidbare Leiden und vorzeitige Sterben anderer Lebewesen. Alle Tiere, die etwas empfinden und erleben können, sollten möglichst weiterleben, gut leben und ihrer Art gemäß gedeihen können. Wer ihnen dies verwehrt, obwohl er anders handeln könnte, schädigt sie auf moralisch erhebliche Weise. Er braucht dafür Rechtfertigungsgründe, die selbst moralisch erheblich sind und den Schaden insgesamt überwiegen.

Die heutige Tierhaltung zu Nahrungszwecken schädigt milliardenfach Tiere durch Leidzufügung und durch Tötung. Das liegt im System begründet: Eine Haltung und Nutzung, die wirklich alle Grundbedürfnisse der Tiere befriedigte, würde sich wirtschaftlich nicht rechnen. Die vergleichsweise wenigen Produkte, die sie abwürfe, wären prohibitiv teuer. Das gilt nicht nur für Fleisch, sondern ebenso für Eier und (Kuh-)Milch. Die sogenannten Nutztiere dürfen daher so gut wie nie bis zu ihrem biologischen Ende leben. Die allerwenigsten können artgerechte Gruppen bilden und mit ihren Kindern zusammenleben, sich angemessen frei bewegen und natürlichen Neigungen wie Spiel oder Nestbau folgen. Die kleinbäuerliche Landwirtschaft unterscheidet sich hier höchstens graduell und nicht grundsätzlich von der industriellen Tierhaltung, die allerdings für die weitaus größte Menge an Leiden und für die weitaus meisten Tötungen verantwortlich zeichnet.

Haben wir Rechtfertigungsgründe, die diesen Schaden insgesamt überwiegen? Ganz offenbar nicht. Da wir alle Nährstoffe, die wir benötigen, auf pflanzlicher Basis beziehen könnten, sind wir auf Tierprodukte nicht angewiesen. Wir verfügen jedenfalls in den westlichen Staaten und Städten über genügend gesunde, wohlschmeckende und bezahlbare Alternativen. Wer dennoch etwa Fleisch oder Eier isst, stellt seine Gewohnheiten, soziale Konventionen oder Gründe des Geschmacks über die existentiellen Interessen von Tieren. Eine solche Gewichtung ist moralisch verkehrt. Wir sollten darum auf Nahrungsmittel, für die Tiere vermeidbar leiden und vorzeitig sterben müssen, möglichst verzichten.

Dieser normativen Konsequenz entkommen wir nicht, indem wir so tun, als wäre unsere Ernährungsweise naturgegeben oder durch unsere Natur gerechtfertigt: „Menschen sind biologische Allesfresser und dürfen darum auch Fleisch essen.“ „Wenn Tiere andere Tiere fressen dürfen, dann dürfen auch Menschen andere Tiere als Nahrung nutzen.“ „Erst das Fleisch gab unseren Vorfahren die nötige Energie für größere Gehirne, und darum müssen auch wir weiterhin Fleisch verzehren.“ Im letzten Satz stimmt vielleicht das Argument, doch der Schluss ist falsch. Auch wenn Fleisch in der Evolution zum Menschen unverzichtbar gewesen sein mag, ist es darum für uns als Menschen nicht unverzichtbar. Die beiden anderen Sätze bilden Beispiele für naturalistische Fehlschlüsse. Sie sind auch nicht ohne Ironie: Gerade die Moralfähigkeit, auf die wir sonst so stolz sind, weil sie uns aus dem Tierreich heraushebt, vergessen wir gerne, wenn wir den weiteren Verzehr von Fleisch verteidigen wollen.

Weil wir normativ verantwortlich sind, können wir uns nicht auf normblinde Naturzustände herausreden. Für Tiere untereinander gilt das aber offenbar nicht. Sie sind biologisch für ein Dasein in Naturzuständen bestimmt, und zu diesen gehören Nahrungsketten mit Räuber-Beute-Beziehungen. Doch die Unterscheidung zwischen einer moralischen Welt, in der wir selbst existieren, und Naturzuständen, in denen alle anderen Tiere leben, ist zu schlicht. Wir sind nicht die einzigen Tiere, für deren Ernährung wir zuständig sind oder jedenfalls eine indirekte Mitverantwortung tragen. Um dies zu sehen, sind einige Differenzierungen im Konzept des Naturzustandes hilfreich.

Fünf Arten von Naturzuständen

Eine wichtige Rolle spielen Naturzustände zunächst als Begründungsfiguren in der politischen Philosophie der Neuzeit. Auch wir selbst, so wollte Thomas Hobbes beweisen, mussten uns erst einem Staat unterstellen, damit Normen unser Zusammenleben regeln konnten. Ohne sanktionsbewehrte Gesetze wüssten wir nicht einmal genau genug, was wir tun sollten. Auch wäre keiner motiviert gewesen, einer Norm, die ihn etwas kosten könnte, zu folgen, und es wäre auch keinem zuzumuten gewesen. Den Naturzustand stellte sich Hobbes als einen Zustand ohne normative Verbindlichkeit vor, wie er auch unter den vernunftlosen Tieren herrscht. Im Unterschied zu den Tieren mussten die Menschen allerdings gewusst haben, dass sie in normativ geregelte Verhältnisse eintreten sollten. Insofern waren sie über den Naturzustand auch dann schon erhaben, als sie ihm praktisch noch nicht entkommen konnten. Ich nenne einen solchen nur unter Vorbehalt herrschenden Naturzustand provisorisch, um ihn von echten Naturzuständen im Tierreich abzugrenzen.

Vor dem Auftreten normativ zurechnungsfähiger Akteure bestanden echte Naturzustände unter allen Lebewesen auf der Welt. Was aber ändert sich am Status eines Naturzustandes, wenn normativ zurechnungsfähige Akteure in ihn eingreifen könnten, auch wenn sie es aus übergeordneten Gründen nicht tun? Ganz offenbar ist dies in immer mehr Hinsichten unsere Situation. Wir könnten ja grundsätzlich versuchen, in alle noch bestehenden echten Naturzustände einzugreifen. Wir könnten die ganze Tierwelt einer moralischen Kontrolle unterwerfen wollen. Dazu könnte uns nicht zuletzt das Mitleid mit Beutetieren motivieren, die heute von Raubtieren zerrissen werden. Manche Philosophen sind der Ansicht, wir sollten dies dennoch sein lassen, weil die noch nicht von uns beherrschte Natur einen Eigenwert habe. Andere, wie Sue Donaldson und Will Kymlicka, sähen darin eine Verletzung der Souveränitätsrechte von Wildtieren. Ich selbst halte folgenorientierte Einwände für ausreichend: Wir würden sicher scheitern und dabei aller Wahrscheinlichkeit nach mehr Schlechtes als Gutes bewirken, wenn wir unendlich komplexe ökologische Abläufe moralisch ‚berichtigen‘ wollten.

Dies alles sind Beispiele für übergeordnete Gründe, auf umfassende Eingriffe in die Natur zu verzichten. Verzichten aber kann man nur auf etwas, woran man sich wenigstens auch versuchen könnte. Das Ausmaß unserer Einmischung in Naturprozesse hängt heute wesentlich von unserem bewussten Wollen ab. Dies erinnert an die provisorischen Naturzustände der neuzeitlichen politischen Philosophie. Während wir solche Naturzustände aber allesamt überwinden sollten, sollten wir die echten Naturzustände unter Tieren grundsätzlich nicht antasten. Das aber modifiziert auch deren Status. Ich nenne Naturzustände, die nur unter dem Vorbehalt unseres Verzichts auf Eingriffe fortbestehen, gestattete Naturzustände.

Echte Naturzustände mag es noch in den für Menschen schwer zugänglichen Tiefen der Ozeane geben. Im Übrigen aber sind Naturzustände heute nicht einfach für Normen unerreichbar. Wir glauben, normative Gründe höherer Stufe zu haben, um normfreie Naturvorgänge geschehen zu lassen. Das soll nicht heißen, dass wir diese Vorgänge nach Belieben und zur Gänze kontrollieren könnten. Gerade weil wir dies nicht vermögen, sollten wir es auch nicht versuchen. Aber allein schon durch die stark vergrößerte Reichweite unserer Eingriffsmöglichkeiten spielen wir in immer mehr Naturprozessen kausale Rollen – wenn nicht durch unser Tun, dann durch unser Unterlassen. Für das eine wie das andere müssen wir uns im Zweifelsfall auch rechtfertigen können.

Wir lassen aber nicht nur durch Nichtintervention zu, dass bestimmte Verhältnisse normativ ungeregelt bleiben. Wir stellen auch selbst solche Verhältnisse her oder zeichnen zumindest aktiv für sie verantwortlich. Das ist etwa der Fall, wenn wir uns eine Katze ins Haus holen. Sofern die Katze dann nicht nur in der Wohnung leben muss, wird sie gelegentlich im Freien ihrem Jagdtrieb frönen. Für die Tötung einer ungeheuren Zahl von Kleintieren und Vögeln durch Hauskatzen sind wir in anderer Weise zuständig als für die tierlichen Opfer von Wildkatzen. Im zweiten Fall respektieren wir, dass Wildkatzen wie auch deren Opfer für Naturzustände bestimmt sind. Im ersten Fall sorgen wir selbst dafür, dass räuberisch veranlagte Tiere, die zahllosen anderen Tieren den Tod bringen, unter uns leben. Deshalb ist es zum Beispiel geboten, eine Maus aus den Klauen einer Hauskatze zu retten, sofern dies der Maus noch etwa nützt. Hingegen sollten wir normalerweise nicht zu verhindern suchen, dass eine Wildkatze einer (wild lebenden) Maus nachstellt. Während Wildkatze und Maus in einem gestatteten Naturzustand zueinander stehen, herrscht zwischen Hauskatze und Maus ein von uns wie immer unabsichtlich gestifteter Naturzustand.

Das Problem verschwindet aber auch nicht grundsätzlich, wenn wir Kater durch Kastration vom Streunen abbringen oder ihren Jagderfolg bei Vögeln durch bunte Stoffhalsbänder vereiteln. Weiterhin brauchen sie ja etwas zu fressen. Anders als Haushunde, die eine ausgewogene vegane Ernährung wohl vertragen, sind Hauskatzen konstitutionelle Karnivoren. Sofern sie nicht jagen dürfen, werden die für sie verantwortlichen Menschen sie mit Futter versorgen müssen. Damit aber übernehmen die Menschen selbst eine zu Katzen analoge und in den moralisch relevanten Folgen vergleichbare Rolle: Sie verhalten sich räuberisch zu den Tieren, die oder deren Produkte ihren Hausgefährten als Nahrung dienen sollen.

Die konsequenteste Lösung wäre daher, auf Hauskatzen fürs Erste ganz zu verzichten. Anders würde dies erst wieder aussehen, wenn einmal erschwingliches In-Vitro-Fleisch als Tierfutter verfügbar wäre. Für die schon heute unter und mit uns lebenden Katzen ist dies allerdings keine Lösung. Sofern sie ein Recht darauf haben, dass wir sie füttern, müssen wir dafür andere Tiere töten oder zumindest die Nebenprodukte bereits getöteter Tiere als Nahrungsquellen nutzen. Einen moralisch sauberen Ausweg aus diesem Dilemma kann ich nicht erkennen. Systematisch jedenfalls spricht dies dafür, noch eine weitere Art von Naturzuständen – oder Quasi-Naturzuständen – anzunehmen: Ich nenne Verhältnisse, in denen Menschen substitutiv zu Tieren in die Natur eingreifen, nachgeahmte Naturzustände.

Wir können also fünf Arten von ‚Naturzuständen‘ voneinander unterscheiden: die provisorischen Naturzustände der neuzeitlichen Vertragstheoretiker, die echten Naturzustände vor Auftreten moralischer Akteure, die durch unterlassene Eingriffe gestatteten Naturzustände, die durch menschliche Tierhaltung gestifteten Naturzustände sowie die durch Substitution tierlicher Rollen nachgeahmten Naturzustände. Nicht alle Naturzustände sind daher gleichermaßen und im selben Sinne frei von Normen. Dieses Merkmal charakterisiert in jedem Fall nur das Verhältnis von Tieren untereinander.

Futter für Krokodile

Wenn in einer Welt noch ganz ohne moralische Akteure zwei Krokodile ein Zebra zerrissen, so geschah dies tatsächlich in einem normfreien Raum. Wenn hingegen heute in der Wildnis ein Tier ein anderes tötet, dann ist dies auch deshalb möglich, weil wir zum Beispiel auf den Versuch einer Beseitigung sämtlicher Krokodile verzichten. Wenn ein Zebra in einem Wildpark unter die Krokodile fällt, dann müssen wir uns die grausamen Folgen sogar direkt zurechnen, weil wir die Tiere in einem gemeinsamen Gehege gehalten haben. Wenn wir schließlich ein Zebra erlegen, um es gefangenen Krokodilen zum Fraß vorzuwerfen, so treten wir selbst als Jäger oder Schlachter an die Stelle der Reptilien. Für die Zebras wie für die Krokodile sind all diese Unterschiede unerheblich. Die Tiere folgen einfach ihren biologischen Programmen. Der Status der Naturzustände allerdings, in denen sie zueinander stehen, ist nach Maßgabe unserer Verantwortung ein jeweils anderer.

Nur wo diese Verantwortung gar keine Rolle spielen kann, stellen Naturzustände gänzlich normfreie Lebensverhältnisse dar. Evolutionär entstandene Naturzustände sollten wir prinzipiell nicht antasten, auch wenn schon dies keine unschuldige Entscheidung ist: Zebras zum Beispiel könnten schrecklich leiden, weil Krokodile sie fressen wollten. Aus eben diesem Grund sollten wir solche Zustände aber nicht auch noch selbst stiften. Auch sollten wir zukünftig keine reinen Karnivoren wie Krokodile mehr gefangen halten. Wir sollten sie auswildern oder jedenfalls an der weiteren Vermehrung in Gefangenschaft hindern, um nicht immer neue Tiere mit Fleisch versorgen zu müssen. Für ein Zebra mag es weniger grausam sein, wenn ein Mensch anstelle eines Krokodils es tötet. Wir aber missachten damit das Lebensinteresse eines Tieres, um das Lebensinteresse anderer Tiere in unserer Obhut zu wahren. Diese Verantwortung dürfen wir uns nicht dauerhaft aufbürden.


Bernd Ladwig ist Professor für Politische Theorie und Philosophie am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Zuletzt erschien von ihm Politische Philosophie der Tierrechte, Berlin 2020 (Suhrkamp).

Bernd.Ladwig@fu-berlin.de