Wen oder was sollten wir essen?
Von Johann S. Ach (Münster)
Die weltweite Fleischproduktion hat immense negative Folgen: für die Gesundheit der Konsument:innen, für das Klima, mit Blick auf die Ernährung einer weiter wachsenden Weltbevölkerung – und nicht zuletzt für die Tiere, die für den menschlichen Verzehr gezüchtet, gehalten und geschlachtet werden. Als Alternative wird seit einiger Zeit die Entomophagie diskutiert. Darunter versteht man den Verzehr von Insekten, deren Larven und artverwandten Gliederfüßern. Sollten wir also Mehlwürmer, Hausgrillen oder Wüstenheuschrecken essen? Ganz so einfach ist es leider nicht.
Was spricht gegen Wonder Worm Cookies?
Es gibt mehr als 2000 essbare Insektenspezies, darunter Käfer und Insektenlarven, aber auch Hautflügler, Heuschrecken, Grillen, Grashüpfer, Termiten oder Fliegen. Anders als in anderen Regionen der Welt, in denen Insekten verbreitet auf dem Speiseplan stehen, führt die Entomophagie in westlich geprägten Kulturen nach wie vor ein Nischendasein. Dabei hätte die Nutzung von Insekten als Nahrungsmittel durchaus Vorteile: Viele Insekten weisen einen hohen Energie- und Nährstoffgehalt auf. Der ökologische Fußabdruck der Produktion von Insekten ist – jedenfalls im Vergleich zur konventionellen Nutztierhaltung – gering. Ihre Zucht ist vergleichsweise kostengünstig (Schweigert 2020, S. 93ff).
Es gibt aber nicht nur psychologische Barrieren, die manche wohl erst überwinden müssten, bevor sie zu Wonder Worm Cookies oder kross gebratenen schwarzen Käfern greifen, und gesundheitliche Risiken, die noch besser untersucht werden müssen, sondern auch eine Reihe von ethischen Fragen, die mit der Entomophagie verbunden sind.
Moralischer Status von Insekten
Zunächst stellt sich die Frage nach dem moralischen Status von Insekten. Die Frage, ob und ggf. warum wir Insekten moralisch berücksichtigen sollten, hat bislang erstaunlich wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das ist angesichts der schieren Anzahl an Insekten, die die Welt bevölkern, einigermaßen überraschend.
Kurz gesagt werden mit Blick auf den moralischen Status von Insekten drei alternative Optionen diskutiert: Einer weit verbreiteten Auffassung zufolge gehören alle und nur solche Wesen zur moralischen Gemeinschaft, die über Empfindungs-, Schmerzempfindungs- oder Leidensfähigkeit verfügen. Akzeptiert man diese Position, stellt sich die Frage, ob es sich bei Insekten um Lebewesen handelt, die über die genannten Eigenschaften (oder über mindestens eine der genannten Eigenschaften) verfügen. Einer zweiten Auffassung zufolge kann man einen moralischen Status solchen Wesen zuschreiben, die Präferenzen und Überzeugungen haben, und die Fähigkeit, diesen Präferenzen und Überzeugungen entsprechend zu handeln. Agency reicht für einen moralischen Status dieser Position zufolge also aus. Diese Position sieht sich freilich mit einer Reihe schwieriger philosophischer Fragen konfrontiert. Allen voran mit der Frage, ob Bewusstsein eine Voraussetzung dafür ist, dass eine Entität Präferenzen oder Überzeugungen haben kann. Sollten sich diese philosophischen Fragen befriedigend beantworten lassen, bleibt die weitere Frage, ob Insekten die Voraussetzungen (zumindest in rudimentärer Form) erfüllen, die für den Besitz von Präferenzen oder Überzeugungen erforderlich sind. Auch diese Fragen lassen sich derzeit nicht abschließend beantworten. Einer dritten Auffassung zufolge kann man Lebewesen auch jenseits von Empfindungsfähigkeit oder Agency einen moralischen Status zuschreiben. Dann nämlich, wenn sie einen intrinsischen Wert oder (animalische) Integrität besitzen. Dies wirft die Frage auf, ob man auch von Insekten sagen kann, dass sie über so etwas wie Ganzheit und Intaktheit verfügen, und dass das Gleichgewicht zwischen Insekten und ihrer Umwelt gestört sein kann.
Mir scheint, dass die erste der drei angedeuteten Optionen nicht nur die – im Vergleich zu den Alternativen – geringsten begrifflichen und metaphysischen Probleme aufwirft, sondern auch ansonsten die weitaus plausibelste ist: Der Grund dafür, dass der Fähigkeit zur Empfindung oder Schmerzempfindung zentrale moralische Bedeutung zukommt, ist der, dass (nur) empfindungsfähige Wesen durch die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird, in ihrem subjektiven Wahrnehmen betroffen sein können. Die Frage, ob es sich bei Insekten um empfindungs- oder schmerzempfindungsfähige Lebewesen handelt, lässt sich beim gegenwärtige Stand der philosophischen und entomologischen Forschung allerdings nicht eindeutig beantworten; und dies gilt umso mehr, als wir es mit einer sehr großen Zahl sehr unterschiedlicher Insektenspezies zu tun haben. Eine überzeugende Antwort auf die Frage nach dem moralischen Status von Insekten ist entsprechend nicht in Sicht.
Benefit of the Doubt?
Aus diesem Umstand könnte man die ethische Forderung ableiten, auf die Nutzung von Insekten als Nahrungsmitteln besser zu verzichten. Wenn man nicht sicher ausschließen kann, dass man es bei Insekten mit empfindungsfähigen Entitäten zu tun hat (oder jedenfalls mit Entitäten, denen man in irgendeiner Weise einen moralisch relevanten Schaden zufügen kann), sollte man, so das Argument, den Konsum unterlassen. Es ist besser auf der „richtigen“ Seite zu irren, statt zu riskieren, dass eine falsche Annahme zu möglicherweise erheblichen Schädigungen führt (Meyers 2013). Dieses Argument lebt von drei Prämissen, denen zufolge wir (i) nicht sicher ausschließen können, ob Insekten in moralisch relevanter Weise geschädigt werden können, (ii) die Zucht (und vielleicht auch die Tötung) von Insekten möglicherweise einen erheblichen Schaden für diese darstellt, und (iii) die möglichen Vorteile der Entomophagie diesen möglicherweise entstehenden Schaden nicht aufwiegen können.
Problematisch ist an diesem Argument vor allem die dritte Prämisse. Warum sollten die Vorteile der Entomophagie es nicht wert sein, das Risiko einer Verletzung von zweifelhaften Schutzpflichten gegenüber Insekten in Kauf zu nehmen, wenn ein zentraler Grund dafür, über Mehlwürmer und Heuschrecken als Nahrungsmittel nachzudenken, doch darin besteht, erheblichen Schaden zu vermeiden? Entomophagie hat das Potential, den unerträglichen Qualen von ungezählten Rindern, Schweinen oder Hühnern, die derzeit die bevorzugte Nahrungsquelle darstellen, ein Ende zu machen oder diese jedenfalls erheblich zu reduzieren. Das Vorsichts-Argument kommt daher nicht ohne eine weitere Voraussetzung aus, der zufolge es zumindest im Prinzip eine alternative Form der Ernährung gibt, die (gänzlich oder jedenfalls weitgehend) ohne eine Schädigung von empfindungsfähigen (oder anderweitig schädigungsfähigen) Lebewesen auskommt. Erst diese weitere Voraussetzung macht die dritte Prämisse plausibel: Könnten wir uns auf eine Weise ernähren, die kaum oder überhaupt nicht mit einer Schädigung von Lebewesen einhergeht, dann sollten wir diese Option wählen. In Relation zu einer solchen alternativen Ernährungsoption hätte die Entomophagie tatsächlich keinen erheblichen moralischen Vorteil. Zumindest aber hätte sie keinen so großen Vorteil, dass es gerechtfertigt wäre, das Risiko einer massenhaften Schädigung von Insekten in Kauf zu nehmen.
Veganismus als Alternative?
Ein Kandidat dafür ist eine vegane Ernährungsweise. Geht man davon aus, dass Pflanzen nicht zu den schädigungsfähigen Entitäten gehören (eine Auffassung, die allerdings ebenfalls nicht ganz und gar unumstritten ist), könnte man zu der Auffassung gelangen, dass eine vegane Ernährung ohne eine Schädigung anderer Lebewesen auskommt. Warum also eine zumindest nicht ausgeschlossene Schädigung von Insekten in Kauf nehmen, wenn es eine Alternative gibt, die mit keinerlei Schädigungspotential verbunden ist? Warum über Entomophagie nachdenken, wenn doch eine vegetabile Form der Ernährung möglich ist?
Das Problem an diesem Argument ist, dass es von falschen Voraussetzungen ausgeht. Dass Pflanzen durch Anbau und Ernte nicht in moralisch relevanter Weise geschädigt werden, schließt nicht aus, dass beim Anbau und der Ernte von Pflanzen andere Lebewesen geschädigt werden, die empfindungsfähig (oder anderweitig schädigungsfähig) sind. Genau dies ist leider in nicht unerheblicher Weise der Fall: Mähdrescher und Erntemaschinen zerstören nicht nur Nester und Gelege, sondern „schreddern“ in großer Zahl auch größere Tiere. Schätzungen zufolge fallen alleine in Deutschland Jahr für Jahr über eine halbe Million Wildtiere, vor allem Rehkitze, Hasen oder Vögel, der Landwirtschaft zum Opfer. Darüber hinaus fallen unzählige Tiere auf Äckern und Feldern ausgebrachten Giften zum Opfer oder verlieren ihren Lebensraum, wenn neue landwirtschaftliche Nutzflächen erschlossen werden. Nicht nur eine auf Fleisch basierende, sondern auch eine vegane Ernährung ist nach Lage der Dinge mit (je nachdem: erheblichen) Schäden aufseiten von Tieren erkauft.
Eine Rechnung mit (zu) vielen Unbekannten
Das ist nicht unbedingt ein Argument gegen eine vegane Ernährung; zumindest dann nicht, wenn es keine besseren Alternativen gibt (wie zum Beispiel in Form von „synthetisierten“ Lebensmitteln aus dem Replikator der USS Enterprise) und das Mögliche zum Schutz von Wildtieren getan wird. Es ist aber ein erstes Argument gegen die dritte Prämisse des Vorsichts-Argumentes: Der Vorzug der Entomophagie könnte jedenfalls größer sein als gedacht; einfach deshalb, weil sowohl eine fleischliche als auch eine vegane Ernährung (in allerdings dramatisch unterschiedlichem Ausmaß!) mit Tierleid verbunden sind, das sich durch Entomophagie möglicherweise verhindern, mindestens aber vermindern ließe.
Es gibt darüber hinaus aber einen weiteren Grund, der Zweifel am Vorsichts-Argument weckt. Wenig überzeugend ist die im Vorsichts-Argument getroffene Abwägungsentscheidung auch deshalb, weil dabei eine bloß mögliche Schädigung von Insekten gegen Alternativen abgewogen wird, die sicher mit einer Schädigung von Tieren einhergehen (Fischer 2016). Anders als im Falle von Insekten, über deren moralischen Status wir nicht sicher sein können, handelt es sich bei Rehkitzen, Hasen oder Vögeln sicher um Lebewesen, die durch unsere Behandlung in moralisch bedenklicher Weise geschädigt werden können – und die offenkundig geschädigt werden, wenn sie beispielsweise vom Mähdrescher geschreddert werden. Wenn wir uns zwischen den beiden Optionen einer bloß möglichen Schädigung von Insekten einerseits und einer sicheren Schädigung von Rehkitzen, Hasen oder Vögeln entscheiden müssen, sollten wir uns vermutlich für die erstgenannte Option entscheiden. (Das gilt freilich nur unter der Voraussetzung, dass die Züchtung und Haltung von Insekten nicht ihrerseits einen extensiven Anbau von Futterpflanzen erforderlich macht.)
Die Situation ist also einigermaßen kompliziert, was daran liegt, dass man es mit einer Rechnung mit (zu) vielen Unbekannten konfrontiert ist. Sind Insekten empfindungsfähige Lebewesen? Und wenn ja: In welcher Weise und welchem Umfang würden Insekten leiden, die für Ernährungszwecke gezüchtet und gehalten werden? Welche Vorkehrungen könnten getroffen werden, die ihrem Wohlergehen Rechnung tragen? Wie viele Tiere kommen in der industriellen Landwirtschaft zu Schaden? Welche Vorkehrungen könnten getroffen werden, um diesen Schaden zumindest zu minimieren? Wie würde ein – mit Blick auf die Leidensminderung – optimaler Mix aus Insekten- und veganer Ernährung aussehen? (Entomophagie kommt realistischer Weise allenfalls als Ergänzung, nicht aber als Alternative zu anderen Formen der Ernährung in Frage.)
Vorläufige Schlussfolgerungen
Auch wenn sich diese und weitere Fragen gegenwärtig nicht abschließend beantworten lassen, scheinen mir dennoch zumindest fünf vorläufige Schlussfolgerungen zulässig:
Ersten: Realistisch betrachtet gibt es gegenwärtig und auch bis auf Weiteres keine Ernährungsoption, die sicher ohne Tierleid auskommt. Unsere Ernährungsentscheidungen sollten sich also daran ausrichten, ob sie das Risiko von Tierleid minimieren, nicht daran, ob sie es ausschließen.
Zweitens: Hieraus folgt, dass eine Fleisch-basierte Ernährungsform moralisch nicht gerechtfertigt werden kann. Mit Entomophagie und Veganismus stehen zwei alternative Ernährungsoptionen zur Verfügung, die beide mit deutlich weniger Tierleid erkauft wären als der Konsum von Fleisch und anderen tierlichen Produkten. Mit Blick auf eine vegane Ernährung liegt dies auf der Hand: In der industriellen Tierhaltung werden sehr viel mehr Tiere gehalten und getötet als durch die Landwirtschaft zu Tode kommen. Zudem muss man davon ausgehen, dass die Wildtiere, die der Landwirtschaft zum Opfer fallen, in der Regel vor ihrem Tod ein besseres Leben gelebt haben als die sog. Nutztiere. Mit Blick auf die Entomophagie sind die Dinge ein wenig komplizierter. Das liegt an der schieren Menge an Speiseinsekten, die ggf. benötigt würden, um den Fleischkonsum ganz oder zumindest teilweise zu ersetzen. Geht man aber von der plausiblen Annahme aus, dass Insekten, sollten sie leidensfähig sein, unter ihrer Züchtung, Haltung und Tötung deutlich weniger leiden würden als Rinder, Schweine oder Puten, dann ist auch die Entomophagie gegenüber dem Fleischessen eine moralisch vorzugswürdige Alternative.
Drittens: Ob eine Ergänzung einer veganen Ernährung durch industriell gezüchtete Speiseinsekten mit Blick auf die Verhinderung oder Minimierung von Tierleid sinnvoll wäre, lässt sich bis auf Weiteres nicht abschließend klären. Ebenso wenig lässt sich hinreichend gut bestimmen, wie ein mit Blick auf die Verminderung von Tierleid vorgenommener Mix von Speiseinsekten und pflanzlicher Nahrung aussehen würde. Um diese Frage beantworten zu können, wären weitere philosophische Überlegungen („Wie plausibel ist ein tierethischer Egalitarismus mit Blick auf eine mögliche Erweiterung der moralischen Gemeinschaft durch eine gigantische Anzahl an Insekten?“), weitere entomologische Forschung („Was lässt sich über das Wohlergehen von Insekten sagen?“) und weitere landwirtschaftliche Untersuchungen („Wie und in welchem Umfang lassen sich die tierlichen Opfer der Landwirtschaft minimieren?“) erforderlich. Zudem wäre zu prüfen, ob es den Konsument:innen von Tierfleisch leichter fallen würde, auf eine vegane Ernährung oder einen Insekten/Pflanzen-Mix umzusteigen.
Viertens: Angesichts der bestehenden Unsicherheiten fallen die eingangs angesprochenen gesundheitlichen, ökologischen und Welternährungs-Gesichtspunkte noch stärker ins Gewicht als ohnehin. Ob wir (mehr) Speiseinsekten in unsere Diät aufnehmen sollten, hängt also nicht zuletzt auch davon ab, ob die Hoffnung, dass Entomophagie einen relevanten Beitrag zur Eindämmung von Klimakatastrophe und Welthunger leisten kann, berechtigt ist.
Fünftens: Vielleicht sollten wir auch über replizierte Speisen zumindest noch einmal nachdenken.
Fischer, B.: Bugging the Strict Vegan. J Agric Environ Ethics 29, 2016, 255–263
Meyers, C. D. 2013: Why it is morally good to eat (certain kinds of) meat: The case for entomophagy. Southwest Philosophy Review, 29(1), 119–126
Schweigert, F.J.: Insekten essen. Gebrauchsanweisung für ein Nahrungsmittel der Zukunft. München 2020.
Johann S. Ach ist Geschäftsführer und Wissenschaftlicher Leiter des Centrums für Bioethik der WWU Münster.