Prinzipien der Medizinethik – Ein Überblick
Von Julia Bastian (Linz)
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Gesellschaftlich gewinnt der Bereich Ethik immer mehr an Bedeutung. Medizinethik ist dabei ein Gebiet, das tief in das Leben eines jeden einzelnen Menschen eingreifen kann. Medizinethik untersucht das Denken und Verhalten bezüglich der Behandlung menschlicher Krankheit und der Förderung menschlicher Gesundheit und fragt nach dem Gewünschten und Gesollten im Umgang mit menschlicher Krankheit und Gesundheit (Schöne-Seifert, 1996).
Themen der Medizinethik
Medizinethik umfasst Themengebiete wie künstliche Befruchtung, Schwangerschaftsabbruch, Suizid, Sterbehilfe, Organspende und -transplantation oder Tierversuche. Neue medizinethische Herausforderungen im digitalen Zeitalter spielen im Gesundheitswesen eine Rolle. Fragen der Medizinethik werden angesichts technologischer Entwicklungen neu gestellt, beispielsweise wie sich die Autonomie von Patientinnen in der digitalisierten Welt schützen lässt hinsichtlich des Missbrauchs von Daten und des Ausschlusses von Risikopatientinnen von Versicherungsleistungen. Neue ethische Herausforderungen stellen zudem die Entwicklung medizinischer Apps, elektronischer Assistenzsysteme sowie Operations-, Pflege- und Therapieroboter dar. Die Gesetze und Meinungen gehen je nach Betroffenen, ärztlichem Personal, Land oder Kontinent weit auseinander. Medizinethik ist komplex und kontrovers sowohl für die praktische Auseinandersetzung als auch für die Forschung.
Der Eid des Hippokrates – Erstes ärztliche Gelöbnis
Ärzt*innen sind in ihrem Beruf mit komplexen, lebensverändernden und lebensbedrohlichen Situationen konfrontiert. Trotz ihres fundierteren Wissens bezüglich des Körpers sollten Ärzt*innen nicht in eine Haltung einer Bevormundung verfallen, was das Selbstbestimmungsrecht des*der Patient*in verletzen würde. Im Gegenteil haben Ärzt*innen die Pflicht, Patient*innen über alle Behandlungsmöglichkeiten aufzuklären und keinen Eingriff ohne die Zustimmung des*der Patient*in vorzunehmen.
Die ersten dokumentierten medizinethischen Gedanken stammen von einer pythagoräischen Ärztegruppe. Hippokrates als griechischer Arzt und Lehrer im vierten Jahrhundert vor Christus gehörte dieser Gruppe nach Überlieferungen an. Noch immer stellt der Eid des Hippokrates einen wichtigen Grundsatz für Ärzt*innen dar, bei dem das Wohl von Patient*innen im Vordergrund steht. Auch heute ist die Schweigepflicht und das Verbot sexueller Handlungen an Patient*innen Teil der ärztlichen Ethik. Schwangerschaftsabbruch und aktive Sterbehilfe werden durch den Eid des Hippokrates untersagt sowie das Verbot der Beteiligung an einem Giftmord. Der Eid des Hippokrates wird in seiner Originalfassung nicht von Ärzt*innen geleistet und hat daher auch keine Rechtswirkung.
Das aktuell gültige ärztliche Gelöbnis
Der Eid des Genfer Ärztegelöbnisses (1948,1968,1983, 2017) wurde bei der 68. Generalversammlung des Weltärztebundes in Chicago (USA im Oktober 2017) durch den Weltärztebund neu formuliert und eine offizielle autorisierte deutsche Übersetzung der Deklaration von Genf beschlossen, die für alle Ärzt*innen im deutschsprachigen Raum ihre Gültigkeit bis heute besitzt. In Deutschland werden weder der Eid noch das Genfer Gelöbnis verpflichtend geleistet. Diese werden in medizinethischen Diskussionen als ethische Richtlinie oder Ehrenkodex angeführt (Wiesing 2020, Wiesing & Parsa-Parsi, 2015). Das Genfer Ärztegelöbnis lautet:
Als Mitglied der ärztlichen Profession
gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.
Die Gesundheit und das Wohlergehen meiner Patientin oder meines Patienten werden mein oberstes Anliegen sein.
Ich werde die Autonomie und die Würde meiner Patientin oder meines Patienten respektieren.
Ich werde den höchsten Respekt vor menschlichem Leben wahren.
Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.
Ich werde die mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod der Patientin oder des Patienten hinaus wahren.
Ich werde meinen Beruf nach bestem Wissen und Gewissen, mit Würde und im Einklang mit guter medizinischer Praxis ausüben.
Ich werde die Ehre und die edlen Traditionen des ärztlichen Berufes fördern.
Ich werde meinen Lehrerinnen und Lehrern, meinen Kolleginnen und Kollegen und meinen Schülerinnen und Schülern die ihnen gebührende Achtung und Dankbarkeit erweisen.
Ich werde mein medizinisches Wissen zum Wohle der Patientin oder des Patienten und zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung teilen.
Ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können.
Ich werde, selbst unter Bedrohung, mein medizinisches Wissen nicht zur Verletzung von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten anwenden.
Ich gelobe dies feierlich, aus freien Stücken und bei meiner Ehre.
Vier Handlungsprinzipien nach Beauchamp & Childress (2008)
Vier Prinzipien bieten Orientierungshilfen zur Entscheidungsfindung und Wegweisung im ärztlichen Alltag (Beauchamp & Childress, 2008), die gleichwertig nebeneinander stehen, wobei das Prinzip des Patient*innenwohls oft im Konflikt mit dem Autonomieprinzip und dem Prinzip der Schadensvermeidung steht. Das Prinzip der Gerechtigkeit ist ein weiterer Aspekt, der zusammen mit den anderen drei Prinzipien ethischen Handelns im Folgenden näher erläutert wird.
- Das ethische Prinzip „des Respektes vor der Autonomie oder das Selbstbestimmungsrecht des/ der Patient*in“ (respect for autonomy) kann schwierig umzusetzen sein, da Ärzt*innen sich meistens fachlich kompetenter bezüglich der körperlichen Funktionen als Patient*nnen zeigen. Entscheidungen von Patient*innen sind dennoch zu respektieren, da es niemals nur um das körperliche sondern auch um das seelische Wohl geht. Jedem*jeder Patient*in soll Kompetenz, Entscheidungsfreiheit und das Recht auf Förderung der Entscheidungs- bzw. auf Selbstbestimmungsfähigkeit gewährt werden. Eine informierte Einwilligung vor jeder diagnostischen und therapeutischen Maßnahme sollte gefördert und der Wille, Wünsche, Ziele und Wertvorstellungen der Patient*innen Berücksichtigung finden.
- Das ethische Prinzip „des Nicht-Schadens oder der Schadensvermeidung“ (non-maleficence) beinhaltet, dass nicht nur das Leid gemindert werden sollte, sondern auch kein zusätzliches Leid hinzugefügt oder Leiden oder Schmerzen verlängert werden sollten. Schädliche Eingriffe sollten unterlassen werden unter Berücksichtigung einer Nutzen-Risiko-Relation und der Beachtung individueller Wertvorstellungen des*der Patient*innen nach dem ärztlichen Grundsatz „primum non nocere“ bzw. „zuerst keinen Schaden“.
- Das ethische Prinzip „der Fürsorge, der Hilfeleistung oder des Wohltuns bzw. des Patient*innenwohls“ (beneficence) geht auf das Wohl fördernde und das Leid mindernde Maßnahmen zur Lebensqualitätssteigerung oder sogar zur Lebensrettung ein. Der gesundheitliche Allgemeinzustand soll verbessert oder eine Krankheit geheilt werden. Behandelnde Ärzt*innen oder Pflegekräfte werden zu aktivem Handeln verpflichtet, das das Wohl, besonders das Leben, die Gesundheit und die Lebensqualität der Patient*innen fördert und diesen nützt. Auch Sterbebegleitung ist eine Fürsorgeleistung, in dem das Wohl von Patient*innen im Vordergrund steht und in dem das Sterben zugelassen werden sollte. Schmerzminderung, so weit gesetzlich erlaubt, ist wichtig für das Wohl der Patient*innen.
- Das ethische Prinzip „der Gerechtigkeit“ (justice) ist relevant, wenn es um eine faire und angemessene Verteilung von Gesundheitsleistungen unter Beachtung der Ressourcen geht. Gleiche Krankheitsfälle sollten gleich behandelt werden unabhängig davon, ob die Behandlung im Krankenhaus oder bei niedergelassenen Ärzt*innen stattfindet. Bei einer Ungleichbehandlung sollten Kriterien konkretisiert werden wie Nationalität, Geschlecht, Alter, Wohnort, Religion, sozialer Status oder gesellschaftliches Verhalten. Begangene Straftaten oder bisherige Berufstätigkeiten dürfen bei der Entscheidung des Behandlungsvorgehens von Patient*innen nicht berücksichtigt werden. Ob es sich bei der *dem Patient*in um eine*n Obdachlose*n oder einen Firmenvorstand handelt, darf keinen Einfluss auf das ärztliche Vorgehen haben. Bezüglich einer medizinischen Behandlung muss sachlich begründbar, transparent und fair entschieden und gehandelt werden. Krankenkassen gehen je nach Versicherungsstatus unterschiedlich vor. Bei der Organtransplantation als Beispiel eines medizinethischen Gebietes kann eine faire Behandlung schwierig sein, da es weniger übertragbare Organe gibt als von Patient*innen und Empfänger*innen gefragt werden. Deshalb wird in Deutschland und einigen anderen europäischen Staaten die Vergabe von Organen durch eine zentrale Institution namens „Eurotransplant“ geregelt. Für jedes zu transplantierende Organ werden Regelungen und Richtlinien festgelegt, um eine gerechte Verteilung zu sichern.
Übertretungen ethischer Handlungsprinzipien
Wichtig ist bei den vier Prinzipien anzumerken, dass bewusst das „soll“ oder „sollte“ bei der Erläuterung des Eids und den ethischen Prinzipien gewählt wurde. Nicht alle Ärzt*innen halten sich an den Hippokratischen Eid und die vier Prinzipien ethischen Handelns. Manch niedergelassene*r Ärzt*in hat sich teure Geräte angeschafft und ist nun in Not, dass sich die Geräte auch lohnen. Nicht unbedingt notwendige Operationen bringen Geld, sind für eine*n Patient*in vielleicht aber nicht notwendig, überflüssig oder sogar schädlich. Oder, im Krankenhaus wird aufgrund von Zeitmangel und Überlastung nur die unbedingt notwendige Operation durchgeführt. Von weitergehenden Eingriffen wird abgesehen, obwohl das Wohl eines*einer Patient*in dadurch langfristiger gesichert wäre.
Auch die Gräueltaten im zweiten Weltkrieg unter dem Namen der Euthanasie in Deutschland, Forschungsexperimente in den USA oder Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion sind ethisch nicht vertretbare Vorgehensweisen, da allein der Erkenntnisgewinn der Ärzt*innen und nicht das Wohl oder die Schadensvermeidung von Patient*innen im Vordergrund standen.
Wie wäre es mit eine*r Moralexpert*in?
Beim Thema Ethik gibt es kein richtig oder falsch. Vieles hängt von der persönlichen Situation eines*r Patient*in ab, die nicht nur durch einen körperlichen Zustand bedingt ist. Je nach situativen Bedingungen kann sich die Meinung, Einstellung oder Wertvorstellung der Patient*innen und weiterer Beteiligter ändern. Deshalb möchte ich als Abschluss Ihnen als Leser*innen mit auf den Weg geben:
Auch Sie können mit dem einen oder anderen Thema der Medizinethik in ihrem Leben als Patient*in in Kontakt kommen und mit der Komplexität der Situation konfrontiert werden. Ich wünsche Ihnen dann eine präzise Analyse und Diagnose der eigenen Situation und der darauffolgenden Entscheidungen sowohl von den Ärzt*innen als auch von Ihnen selbst und Begleitpersonen. Oder wozu meine Kollegin aus der Rechtspsychologie unter anderem an der Universität Linz forscht: Fragen Sie doch dann eine*n Moralexpert*in und lassen sich beraten, wenn sie mit komplexen und lebensverändernden Entscheidungen oder einer Reihe von Entscheidungen konfrontiert sind, die manchmal zu schwer für eine einzelne Person und eventuell auch Angehörigen zu sein scheinen (Schmittat & Burgmer, 2021; Schmittat & Burgmer, 2020).
Nach ihrem Studium der Psychologie an der Bergischen Universität Wuppertal hat Dr.in Julia Bastian ihre Promotion an der Leuphana Universität Lüneburg abgeschlossen. Seit 2022 arbeitet sie an der Johannes Kepler Universität Linz in Oberösterreich in der Medizinischen Fakultät. Ihre Forschungsinteressen umfassen Medizinethik und Wirtschaftspsychologie sowie Lehr- und Lernfoschung.
Literatur
Beauchamp, T. L. & Childress, J. F. (2008). Principles of Biomedical Eth-ics. 6th Edition. Oxford University Press. ISBN 0-19-533570-8.
Eurotransplant, https://www.eurotransplant.org, zuletzt abgerufen am 19.07.2024
Schmittat, S. M., & Burgmer, P. (2021). Nicht verzagen, MoralexpertInnen fragen. Das In-Mind Magazin, 2. ISSN 1877-5349
Schmittat, S. M., & Burgmer, P. (2020). Lay beliefs in mo-ral expertise. Philosophical Psychology, 33(2), 283-308. https://doi.org/10.1080/09515089.2020.1719053
Schöne-Seifert, B. (1996). Medizinethik. Angewandte Ethik. Die Bereich-sethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch. Kröner, Stutt-gart, 553-648.
Weltätztebund Deklaration von Genf. (Oktober 2017). The World Medical Association, https://www.bundesaerztekammer.de/filradmin/user_upload/_old-files/downloads/pdf-Ord-ner/Interantional/bundesaerztekammer_deklaration_von_genf_04.pdf, zuletzt abgerufen am 19.07.2024.
Wiesing, U. (2020). Ethik in der Medizin. Ein Studienbuch. Reclam, Ditzin-gen, ISBN 978-3-15-019337-2
Wiesing, U. & Parsa-Parsi, R. (2015). Die neue Deklaration von Helsin-ki. Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, 19 (1), 253-276. https://doi.org/10.1515/jwiet-2015-0116