Vielfältiges Altern aus einer intersektional-ethischen Perspektive

Von Merle Weßel (Hannover)


Das Lebensalter ist eine wichtige Determinante in Medizin und Gesundheitsversorgung. Zum Beispiel treten bestimmte Erkrankungen wie Demenz in Verbindung mit dem Lebensalter auf. Aber auch aus medizinethischer Sicht bestimmt das Lebensalter wichtige Diskurse. Sowohl Entscheidungen am Lebensanfang wie auch am Lebensende bilden zentrale Themen von medizinethischen Fragestellungen. Insbesondere das höhere Lebensalter hat im Kontext des demographischen Wandels und der damit steigenden Zahl pflegebedürftiger älterer Menschen über Fragen des Lebensendes hinaus an Bedeutung gewonnen. Vorstellungen wie wir altern wollen und was unser Bild von älteren Menschen ist, sind zentral für Fragen der guten Versorgung im Alter.

Aber auch wenn das höhere Lebensalter in das Bewusstsein von Medizinethiker*innen gelangt ist, zeigt sich oftmals ein homogenes und defizitäres Verständnis von älteren Menschen und ihren Bedarfen und Bedürfnissen. Sie werden häufig primär in ihrer Kapazität als alt und damit verbundenen gesundheitlichen Defiziten gesehen. Andere Komponenten ihrer Identität, wie ihr Geschlecht, ihr ethnischer und kultureller Hintergrund, oder ihre sexuelle Orientierung scheinen in ihrer Bedeutung in den Hintergrund zu treten. Dies führt zu einem homogenisierenden Verständnis des Alterns und älterer Menschen, dass die Komplexität des Alterns verdeckt, so dass die heterogenen Bedarfe und Bedürfnisse nicht ausreichend wahrgenommen werden. Es ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, dass auch ältere Menschen ein Recht auf eine adäquate Gesundheitsversorgung sowie die Wahrung ihrer Bedarfe und Bedürfnisse in der Versorgung haben.

Feministisch-intersektionale Ansätze und ihre ethischen Potenziale

Feministische Ansätze, die sich kritisch mit Machtstrukturen und universalistischen Ansätzen auseinandersetzen, können hilfreich sein um ein heterogeneres und besseres Verständnis von den Bedarfen und Bedürfnissen von älteren Menschen in Medizin und Gesundheitsversorgung zu erlangen. Die feministische Philosophin Susan Sherwin[i] weist bereits in ihren Schriften aus den 1980er Jahren daraufhin, dass die Kollision zwischen der Abstraktion des Universalismus und dem persönlichen Erleben zu einer Frustration in Analysen aus medizinethischer und feministischer Perspektive führt. Sie argumentiert, dass eine ethische Analyse nicht frei von sozialen Kategorien sein kann. Aus ihrer Sicht ist es notwendig, die soziale Kategorie des Geschlechts in moraltheoretische Betrachtungen von Medizin und Gesundheitsversorgung einzubeziehen.

Darüber hinaus weist sie auf die hohe Relevanz relationaler Aspekte hin. Ohne die Beachtung von Kontexten und Beziehungen, so Sherwin, sind Ethiken der Handlungen wertlos. Die ausschließliche Betrachtung von Handlungen und Konsequenzen ist nicht ausreichend für eine ethische Bewertung, so Sherwin. Vielmehr könnten Handlungen nur ethisch bewertet werden, wenn die Person, die die Handlung ausführt, in ihrer Ganzheitlichkeit im Kontext sozialer Strukturen und Beziehungen gesehen würde. Sherwins Argumentation für die Beachtung der sozialen Kategorie Geschlecht sowie von Relationalität als relevant für ethische Analysen waren nur der Startpunkt für breitere Diskussionen um die Bedeutsamkeit von Kontexten und Beziehungen für ethische Handlungen im Rahmen von Medizin und Gesundheitsversorgung.

Die feministische Theorie der Intersektionalität[ii], die sich mit überschneidenden Mehrfachdiskriminierungen beschäftigt, beweist sich als wichtiges Werkzeug, um die Komplexität des Alterns in Medizin und Gesundheitsversorgung sichtbar und verständlich zu machen. Das Lebensalter hat in intersektionalen Diskursen bis jetzt nur wenig Aufmerksamkeit erhalten. Die zentralen Kategorien sind race und Geschlecht, zum Teil ergänzt mit Klasse. Die ist begründet in dem Schwarz-feministischen Ursprung des Konzepts. Ich argumentiere aber, dass das Lebensalter eine soziale Kategorie ist, die von einer intersektionalen Perspektive profitiert und Intersektionalität auch von ihr. Das Lebensalter ist eine besondere soziale Kategorie, da sie sich über unseren Lebensverlauf hin verändert. Bleibt die geschlechtliche Identität oder die ethnische Herkunft zumeist eine konstante strukturelle Diskriminierungskategorie, erleben wir das Lebensalter in Kindheit, Adoleszenz, im mittleren Erwachsenleben und im hohen Lebensalter unterschiedlich als Diskriminierungs- und Identitätskategorie.[iii]

Intersektionales Altern über den Lebensverlauf

Dies lässt sich insbesondere auch an Medizin und Gesundheitsversorgung festmachen. Im Kindesalter stellt zum Beispiel die informierte Einwilligung in Behandlungen oft eine Herausforderung dar, so dass Kinder nur bedingt an medizinischen Entscheidungen beteiligt werden. Diese Einschränkungen werden mit dem Jugendalter langsam aufgeweicht. Jugendliche bekommen immer mehr Entscheidungsmacht über ihren Körper. Im Erwachsenenalter, wenn eigentlich eine vollkommene Entscheidungsfreiheit über medizinische Belange existiert, gibt es intersektionale Einschränkungen bei denen das Lebensalter eine Rolle einnimmt. So unterliegen insbesondere Frauen im reproduktiven Alter Restriktionen, zum Beispiel bei der Teilnahme an medizinischen Studien oder ob und wann sie ein Kind zur Welt bringen wollen oder nicht. Für Männer gibt es diese Einschränkungen kaum.

Im höheren Lebensalter wird oft im Kontext von Rationierungsmaßnahmen nach der Sinnhaftigkeit von bestimmten medizinischen Maßnahmen gefragt. Auch wenn hier selbstverständlich auch medizinische Gründe eine gewichtige Rolle spielen, kann es durchaus vorkommen, dass das Lebensalter als Indikation gesehen wird, warum sich ein neues Hüftgelenk bei einem*r hochaltrigen Patient*in nicht mehr „lohnt.“ Oder die Willensäußerung einer Person nicht mehr wahrgenommen wird, weil sie als „dement“ klassifiziert wurde. Sodass das Lebensalter über den Lebensverlauf immer wieder herangezogen wird, um zum Teil legitime Einschränkungen zum Beispiel der Entscheidungsfähigkeit zu begründen, aber auch als Diskriminierungskategorie fungiert.

Im höheren Lebensalter wird das Alter aber schließlich zu einer Kategorie von exponentiell großer Relevanz. Lassen sich über den Lebensverlauf noch vermehrt intersektionale Diskriminierungen, zum Beispiel durch die Überschneidung von Geschlecht und Lebensalter erkennen, wird das Alter „im Alter“ die einzig relevante Kategorie, um medizinische Entscheidungen und Gesundheitsversorgung zu rechtfertigen. Der alte Mensch wird nur noch als alt gesehen. Alle Bedarfe und Bedürfnisse werden hier dran gemessen. Weder Geschlecht, Herkunft, Klasse oder sexuelle Orientierung scheinen in der Bedarfs- und Bedürfnisbewertung noch eine gewichtige Rolle zu spielen. Sie werden alten Menschen zum Teil sogar ganz abgesprochen, wenn wir zum Beispiel auf das Thema Sexualität und Altern blicken.[iv]

Eine Frage der sozialen Gerechtigkeit

Der homogenisierte Blick auf ältere Menschen in Medizin und Gesundheitsversorgung sorgt für eine Unsichtbarkeit von komplexen gesundheitlichen Problemen sowie deren Bedarfen und Bedürfnissen, soweit dass es zu Diskriminierungen kommen kann. Ein Kümmern um ältere Menschen mit Einschränkungen führt zum Teil zu einer fehlenden Wahrnehmung der Kapazitäten, aber auch der Rechte älterer Menschen. Auch ältere Menschen mit kognitiven und/oder physischen Einschränkungen haben das Recht, Entscheidungen über Versorgung und Behandlungen zu treffen. Beeinflussungen durch Angehörige, medizinisches und pflegerisches Personal sind nicht unbedingt angemessen.

Ein intersektional-ethischer Blick auf ältere Menschen in Medizin und Gesundheitsversorgung zeigt zum einen die Komplexität und Heterogenität des Alterns auf. Unsichtbare Dinge werden sichtbar gemacht, wenn sie nicht kommuniziert werden, zum Beispiel aus Scham oder weil medizinisches Personal aus Unkenntnis unangemessene Fragen stellt. Der Einfluss des Lebenslaufes und –erlebnisse, wie Bildung, sozioökonomischer Hintergrund, und Migration werden zu wenig in die Betrachtung älterer Menschen und ihrer Gesundheit einbezogen.[v]

Darüber hinaus bietet eine intersektional-ethische Perspektive die Chance, Machtstrukturen im Kontext der Versorgung älterer Menschen wahrzunehmen. Versorgung findet immer im relationalen Kontext statt. Intersektionalität hilft kritisch zu hinterfragen, wie Bedarfe und Bedürfnisse ermittelt werden, wer und wie Entscheidungen getroffen werden und inwiefern unterschiedliche ältere Menschen Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen in der Versorgung erfahren. Dies ist wichtig, um ein angemessenes Verständnis von Altern zu entwickeln und älteren Menschen ein würdevolles, gerechtes und diskriminierungsfreies Altern zu ermöglichen.


PD Dr. Merle Weßel ist Beauftragte für Diversity bei der Landeshauptstadt Hannover. Sie promovierte 2018 an der Universität Helsinki mit einer medizinhistorischen Arbeit zu Eugenik und Feminismus. 2024 erfolgte die Habilitation an der Medizinischen Fakultät der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg mit der venia legendi „Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Intersektionalität, feministische Ethik, sowie Diversität und Diskriminierung in Medizin und Gesundheitsversorgung.


[i] Sherwin, S. (1985). A feminist approach to ethics. The Dalhousie Review 64: 704-713. Und Sherwin, S. (1989). Feminist and medical ethics: Two different approaches to contextual ethics. Hypatia 4 (2): 57-72.

[ii] s. ausführlich zu Hintergründen von Intersektionalität Collins, P. H., & Bilge, S. (2020). Intersectionality. John Wiley & Sons.

[iii] siehe hierzu Weßel, M., & Schweda, M. (2023). Recognizing the diverse faces of later life: Old age as a category of intersectional analysis in medical ethics. The Journal of Medicine and Philosophy. A Forum for Bioethics and Philosophy of Medicine 48(1): 21-32.

[iv] Wylie, K. R., Wood, A., & McManus, R. (2013). Sexualität im Alter. Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz, 56, 223-230.

[v] Weßel, M. (2022). Feminist approach to geriatric care: comprehensive geriatric assessment, diversity and intersectionality. Medicine, Health Care and Philosophy, 25(1), 87-97.