Wasser predigen, Wein trinken – Die Gefahren der ethischen Reflexion

Von Johannes Wagner (Graz)

Das Reflektieren über ethische Fragestellungen und Probleme, das Durchdenken von Argumenten für und gegen ethische Standpunkte, kurz, die ethische Reflexion, bildet das Herzstück der philosophischen Ethik. Manche PhilosophInnen sind von diesem Grundpfeiler der Philosophie so fasziniert, dass Sie seiner Erforschung ihre gesamte berufliche Laufbahn widmen und dieses Feld der Erkenntnis über viele Jahre hinweg bearbeiten. Im Sinne der Gegenwartsphilosophie bedeutet dies natürlich arbeitsteilige Bearbeitung von Teilproblemen mit hohem Spezialisierungsgrad.

Eine Frage, die man sich als TeilnehmerIn an diesem groß angelegten Kollektivprojekt irgendwann stellen kann (oder der man sich irgendwann stellen muss) ist, ob und wie diese ethische Reflexion auf das Leben der Reflektierenden einwirkt. Zumindest im pädagogischen Bereich scheinen wir als Gesellschaft davon auszugehen, dass z.B. Ethikunterricht an Schulen und Ethikvorlesungen an Universitäten im Grunde doch eine sinnvolle Sache sind. Zwei Annahmen, die hier ganz gewiss auch die Curriculums-Planung grundieren, sind, dass das bewusste Reflektieren über ethische Fragestellungen erstens eine Einstellungsänderung in den reflektierenden Personen erwirken kann, und zweitens, dass diese Einstellungsänderung auch die Handlungen dieser Personen im Sinne dieser Einstellungen beeinflusst. U.a. wird hier also unter der Vorstellung operiert, ethische Reflexion verändere moralische Einstellungen und verbessere langfristig auch moralisches Verhalten gemäß dem durch Reflexion verbesserten Verständnis des Phänomens der Moral .

Eine Reihe von Weltentwürfen würde dieser Annahme aber möglicherweise nicht vorbehaltlos zustimmen. Religiöse Anschauungen, Erlösungslehren, anti-rationalistische und/oder existentialistische Philosophien würden die intellektuelle Reflexion, wie sie im akademischen Bereich betrieben wird, mindestens nicht als zentralen Faktor auf dem Weg zum guten Leben ansehen Doch inwiefern sich akademische ethische Reflexion auf die Lebensweise auswirkt, ist zu einem gewissen Grad nicht nur eine weltanschauliche, sondern auch eine empirische Frage.

In einer berüchtigten Serie von empirischen Studien erforschten Eric Schwitzgebel und Joshua Rust den Zusammenhang zwischen ethischer Reflexion, moralischen Einstellungen und moralischem Verhalten.[i] Bekannt wurde vor allem ihre 2014 veröffentlichte Studie, in der Schwitzgebel und Rust das moralische Verhalten von EthikprofessorInnen in fünf Staaten der USA untersuchten.[ii] Die Idee hinter der Auswahl dieser Expertenstichprobe war, dass EthikprofessorInnen auf außergewöhnlich intensive bzw. langfristige Weise in ethische Reflexionen vertieft sind. Anstatt also „ethische Reflexion“ experimentell zu manipulieren (indem man zum Beispiel eine Gruppe Studierender eine Ethikvorlesung besuchen lässt, und nach diesem Semester ihre Einstellungen und Verhaltensweisen mit einer Kontrollgruppe vergleicht) werden Personen herangezogen, die aufgrund ihrer professionellen Spezialisierung ein überdurchschnittlich hohes Ausmaß an ethischer Reflexion betreiben. Schwitzgebel und Rust befragten dann diese Stichprobe mit Bezug auf ihre moralischen Einstellungen sowie korrespondierende Verhaltensweisen zu verschiedenen potentiell moralischen Themen, und verglichen diese mit den Einstellungen und Verhaltensweisen von PhilosophieprofessorInnen, die nicht auf Ethik spezialisiert sind, sowie ProfessorInnen aus anderen Gebieten. Diese Vergleichsgruppen wurden also so zusammengestellt, dass plausibler Weise angenommen werden kann, dass etwaige Unterschiede in Einstellungen und Verhaltensweisen zwischen der Gruppe der EthikprofessorInnen und den Vergleichsgruppen allein auf das unterschiedliche Ausmaß an akademischer ethischer Reflexion zurückzuführen sind.

Der grundlegende Befund der Studie von Schwitzgebel und Rust war, dass EthikprofessorInnen zwar in manchen Bereichen wie Fleischkonsum und Geld spenden strengere Einstellungen als ihre Kollegen haben, sich aber in keinem einzigen Themengebiet in ihren Verhaltensweisen von den Vergleichsgruppen unterscheiden. Dieses Ergebnis ist natürlich fatal; überspitzt formuliert ist der Grundtenor dieser Ergebnisse, dass EthikerInnen nicht nur keine besseren Menschen sind was ihr Verhalten betrifft; sie beurteilen in manchen Gebieten auch noch strenger. Gemäß diesem Resultat hat also akademische ethische Reflexion keinen feststellbaren Einfluss auf potentiell moralische Verhaltensweisen, und führt in manchen Themengebieten sogar zu einer Inkonsistenz zwischen Einstellungen und Handlungsweisen. Es scheint also demnach, dass EthikerInnen zwar mehr Wasser predigen aber gleich viel Wein trinken wie andere ProfessorInnen! (Natürlich sind Berichte über eigenes Verhalten nicht immer zutreffend, allerdings dürfte dies in diesem Fall keine große Rolle für die Interpretation der Ergebnisse spielen, da dieses Problem erstens alle Gruppen gleichermaßen betrifft, und zweitens aufgrund des negativen Grundtenors kein Verdacht auf eine zu positive Selbstdarstellung der EthikerInnen besteht.)

In unserer Studie,[iii] die ich und Philipp Schönegger als Studenten der Universität Graz durchgeführt haben, wollten wir überprüfen, ob sich dieses empirische Resultat auch im deutschen Sprachraum replizieren lässt. Den Anstoß für diese Replikationsstudie gab Professor Peter Singer, von welchem Philipp als Academic Visitor an der Universität Princeton betreut wurde. Professor Singer stellte auch den Kontakt zu Professor Eric Schwitzgebel her. Die Originalautoren, Eric Schwitzgebel und Joshua Rust, halfen uns bei der Vorbereitung des Designs um eine möglichst genaue Replikation des Aufbaus der Originalstudie zu ermöglichen.

So führten wir eine Umfrage durch, an der rund 150 EthikprofessorInnen, 130 PhilosophieprofessorInnen ohne ethische Spezialisierung, sowie 130 Professoren aus anderen Disziplinen teilnahmen. Die TeilnehmerInnen der Studie waren ProfessorInnen (bzw. Post-doc ForscherInnen) aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.

In Einklang mit der Originalstudie ergab sich auch in unserer Untersuchung, dass EthikprofessorInnen sich in ihren (selbst berichteten) potentiell moralisch relevanten Verhaltensweisen nicht von den Vergleichsgruppen unterscheiden. (Die bemerkenswerte Ausnahme zu dieser Regel, Fleischkonsum, wird noch im Detail diskutiert.)

Im Gegensatz zur Originalstudie ergab sich in unserer Studie allerdings, dass EthikprofessorInnen sowohl strengere (in den Themengebieten Fleischkonsum und Geld spenden) als auch lässigere Einstellungen (in den Themengebieten regelmäßig wählen gehen, Diebstahl von 1000€, regelmäßig mit der eigenen Mutter telefonieren) als Nicht-Philosophie-ProfessorInnen ausdrücken. In unserer Studie spiegelte sich also kein generelles „Wasser predigen, Wein trinken“ der EthikerInnen wider. In den zwei Themengebieten, in denen EthikprofessorInnen tatsächlich etwas strenger als Nicht-PhilosophInnen urteilten, fanden wir zudem die folgenden zwei gegenläufigen Beziehungen zu den entsprechenden Verhaltensweisen:

Im Falle des Themas Geld spenden wurden die Teilnehmer befragt, wie viel Prozent des Einkommens ein durchschnittlicher Professor pro Jahr für wohltätige Zwecke spenden sollte. Im weiteren Verlauf der Studie wurden die Teilnehmer dann befragt, wie viel Prozent ihres Einkommens sie selbst im vergangen Jahr gespendet hatten. EthikprofessorInnen gaben im Schnitt einen signifikant höheren Prozentsatz an, bezogen auf den Betrag, den man spenden sollte; sie unterschieden sich allerdings nicht von den Vergleichsgruppen, was die tatsächlich gespendete Summe betraf. In diesem Fall predigen die EthikerInnen also mehr Wasser zu trinken, konsumieren aber gleich viel Wein wie alle anderen.

Im Falle des Themas Fleischkonsum zeigte sich ein konträres Bild. Auch hier weisen EthikerInnen strengere Einstellungen auf, indem sie Fleischkonsum als moralisch schlechter bewerteten als die Vergleichsgruppen. Allerdings zeigte sich in den Verhaltensweisen überaschenderweise, dass EthikerInnen tatsächlich auch weniger Fleisch essen. Dieses Themengebiet betreffend fanden wir also einen Einklang zwischen strengeren ethischen Einstellungen und den korrespondierenden Verhaltensweisen! Hier predigen EthikerInnen also nicht nur Wasser, sondern trinken auch weniger Wein.

Dieser Befund mit einer Stichprobe aus dem deutschen Sprachraum ist besonders dahingehend interessant, insofern er sich von dem Originalbefund mit Probanden aus US-amerikanischen Staaten unterscheidet. Zum ersten fanden Schwitzgebel und Rust zwar strengere Einstellungen der EthikerInnen, aber keinen eindeutigen Unterschied zu den Vergleichsgruppen was die Verhaltensweisen betraf. Zum zweiten aßen unsere deutschsprachigen EthikerInneren, PhilosophInnen und Nicht-PhilosophInnen allesamt signifikant weniger Fleisch als die jeweils korrespondierende amerikanische Gruppe. Mit anderen Worten – über beide Studien hinweg betrachtet war der interkulturelle Unterschied gravierender als der Unterschied zwischen den verschiedenen Professoren-Gruppen innerhalb der jeweiligen Kulturen. Wichtig ist auch, dass nicht klar ist, ob es sich hierbei um kulturelle Unterschiede zwischen den USA und den deutschsprachigen Ländern handelt, oder ob die 9 Jahre, die zwischen den beiden Studien verflossen sind, eigentlich den Ausschlag geben. Doch auch wenn kulturelle (oder zeitliche) Faktoren scheinbar den gewichtigeren Einfluss haben, so konnten wir doch Evidenz erbringen, dass ethische Reflexion sich im Falle von Fleischkonsum als Faktor sowohl in den Einstellungen als auch im Verhalten niederschlägt. Für eine detaillierte Diskussion des Kontrastes der beiden Studien mit Bezug auf das Thema Fleischkonsum ist ein kürzlich veröffentlichter Blogeintrag von Eric Schwitzgebels zu empfehlen.[iv]

Ein ungewöhnliches Muster, welches sich in unserer Studie herauskristallisierte, war, dass EthikerInnen keine strengeren Einstellungen als die Vergleichsgruppen aufwiesen (bzw. z.T. sogar lässigere); aber genau mit Bezug auf Fleischkonsum und Geld spenden strengere Urteile abgaben. Wir führten dies darauf zurück, dass es mit Bezug auf Vegetarianismus und Geldspenden möglicherweise einen relativen Konsens innerhalb der ethischen Debatte gibt, und dass es sich hierbei somit um moralisch hochrelevante Themen handelt, in denen man auch durch Handeln effektiv Vieles bewirken kann. So sind diese Themen ja auch nicht ohne Grund die Prioritäten in der „Effective Altruism“-Bewegung.

Ein weiteres ungewöhnliches Muster in unseren Daten war allerdings, dass EthikerInnen in ihren Einstellungen sich zwar in mehrerlei Hinsicht systematisch von Nicht-Philosophie-ProfessorInnen unterschieden, aber oft nicht von den nicht auf Ethik spezialisierten PhilosophInnen. Anders ausgedrückt unterschieden sich die beiden PhilosophInnen-Gruppen in ihren Einstellungen kaum. Dies könnte dreierlei bedeuten: (1) Dass wir nicht ausreichend zwischen EthikerInnen und nicht auf Ethik spezialisierten ProfessorInnen unterschieden haben. (2) Dass auch nicht auf Ethik spezialisierte ProfessorInnen in hinreichendem Maße mit akademischer Ethik in Berührung kommen. (3) Dass sich die gemeinsamen Unterschiede zu den Nicht-PhilosophInnen nicht auf ethische Reflexion, sondern allgemeiner auf philosophische Reflexion zurückführen lässt.

Wir halten (1) für unwahrscheinlich, da wir sowohl ein umfrageinternes als auch ein externes Kriterium verwendet hatten, um EthikerInnen und nicht auf Ethik spezialisierte PhilosophInnen eindeutig zu klassifizieren. Egal welche der beiden Klassifikationsmethoden wir den Analysen zugrunde legten, es änderte nichts an dem grundlegenden Ergebnismuster. Mit Bezug auf (2) und (3) vermuten wir aber tatsächlich, dass diese Erklärungen zu einem gewissen Grade zutreffen. Wir glauben jedoch, dass beides nicht die grundlegenden Befunde unserer Studie unterminiert, da sich durchaus auch systematische Unterschiede zwischen EthikerInnen und nicht auf Ethik spezialisierten PhilosophInnen ergeben haben. Beispielsweise zeigte sich, das die PhilosophInnen, die nicht Ethik betreiben, allgemein weniger potentiell moralisch relevante Verhaltensweisen zeigen als Nicht-PhilosophInnen; so beantworten sie z.B. im Schnitt weniger E-Mails von StudentInnen verglichen zu den Nicht-PhilosophInnen. Insgesamt ergab sich, dass auch wenn sich die beiden PhilosophInnen-Gruppen in keinem Thema signifikant untereinander unterscheiden, dass sich doch meist nur eine der beiden Gruppen signifikant von den Nicht-PhilosophInnen abhebt. Dies alles sind Indizien dafür, dass es sich bei EthikerInnen und anderen PhilosophInnen durchaus um verschiedene Populationen handelt, auch wenn sie sich in ihren moralischen Einstellungen im Vergleich zu nicht-Philosophie-ProfessorInnen überraschend ähneln.

Die Datenlage verlangt also, wie man schon nach dieser gerafften Diskussion sehen kann, eine differenzierte und kritische Betrachtung. Kommen wir aber nun zu der Ausgangsfrage zurück, nämlich inwiefern sich ethische Reflexion auf moralische Einstellungen und moralische Handlungen auswirkt, und fassen die Grundbefunde unserer Forschung zusammen. Hier sind drei zentrale Ergebnisse zu nennen: 

Erstens, dass EthikerInnen eine sehr spezifische Prioritätensetzung in ihren normativen Einstellungen ausdrücken, indem sie Fleischkonsum und Geld spenden im Kontrast zu anderen potentiell moralisch relevanten Themengebieten betonen. Dies spricht dafür, dass ethische Reflexion durchaus einen systematischen Einfluss auf moralische Einstellungen ausübt.

Zweitens, im Falle des Fleischkonsums spiegelte sich die veränderte Einstellung auch im Verhalten wider. Dies ist Evidenz dafür, dass sich ethische Reflexion in manchen Fällen auch in die Lebensweise übersetzt. Zukünftige Studien könnten beforschen, welche Faktoren eine solche Übersetzung in die entsprechenden Verhaltensweisen begünstigen – dies könnten eben auch gesellschaftliche und kulturelle Faktoren sein.

Drittens ergab sich auch, dass sich EthikerInnen in den meisten potentiell moralisch relevanten Bereichen nicht in ihren Verhaltensweisen von den Vergleichsgruppen unterscheiden. Diese generelle Beobachtung schließt auch direkt an die Ergebnisse der ursprünglichen Studie von Schwitzgebel und Rust an. Man könnte nun hinsichtlich dieses letzten Punktes der Meinung sein, dass die Annahme, dass ethische Reflexion sich auch im Verhalten widerspiegelt, vielleicht faktisch von gar niemandem wirklich vertreten wird. In unserer Studie fragten wir aber unsere ProbandInnen auch direkt:

  • Glauben Sie, dass ethische Reflexion zur Entdeckung moralischer Wahrheiten führt?
  • Glauben Sie, dass ethische Reflexion zu besseren moralischen Verhaltensweisen führt?

Im Schnitt gab es milde Zustimmung zu beiden Fragen, d.h. die Annahme, dass ethische Reflexion zur Entdeckung moralischer Wahrheiten und verbesserten moralischen Verhaltensweisen führt, wird im Schnitt eher, und in vielen Fällen sogar deutlich, bejaht. Daraus folgt, dass es sich bei diesen Meinungen um weit verbreitete Annahmen handelt, und eine empirische Untersuchung, die diese Behauptungen erforscht, auch einen Informationswert für die entsprechende Debatte hat.

Abschließend kann man sagen, dass unsere Ergebnisse nicht bedeuten, dass es keine Menschen mit moralischer Integrität gibt, oder dass Moral eine Illusion ist. Selbst auf empirischer Ebene war unsere Studie zur Beantwortung so weitläufiger Fragen viel zu eingeschränkt, schon allein durch die notwendig selektive Auswahl der „potentiell moralisch relevanten“ Themengebiete. Fleischkonsum, gespendetes Geld oder regelmäßig wählen gehen, dies sind leicht messbare Variablen; aber wie könnte man z.B. „Tugenden“ messen? Tatsächlich befragten wir, im Einklang mit der Originalstudie, unsere Probanden zu ganz gewissen Themengebieten in ganz bestimmter Weise, was natürlich mit entsprechenden Einschränkungen einhergeht. Gewiss müsste eine tiefergehende empirische Erforschung dieses Gebietes sich auch explizit mit diesen Fragen auseinandersetzen, nicht zuletzt auch um kontingente und prinzipielle Grenzen der Empirie hier noch klarer herauszuarbeiten.

Eine Richtung, über die man weiter nachdenken kann, ist zudem, was genau eigentlich unter ethischer Reflexion zu verstehen ist, und ob es hier nicht feinkörnigere Unterarten gibt, die in unserer Forschung nicht genauer erfasst wurden. Gewiss besteht ein Unterschied, ob ich (a) utilitaristische und deontologische Argumente zu einem ethischen Spezialproblem abwäge, oder (b) reflektiere, was ich persönlich in einer gegebenen Situation am besten (im moralischen Sinn) tun könnte, oder (c) ob sich durch eine schockartige Konfrontation mit einem Problem (z.B. indem ich ein Kriegsgebiet besuche) meine Einstellungen verändern – vielleicht gar nicht so sehr, dass sie sich grundlegend ändern, aber sich vertiefen und eine Priorisierung in meinem Blick auf die Welt gewinnen, die in neuer Weise handlungsrelevant wird. Hier sind doch offensichtlich verschiedene Arten der ethischen Reflexion am Werk, und man könnte argumentieren, dass zwar (a) und eventuell auch (b) im akademischen Bereich vorherrschend sind, aber (b) und (c) sich in jedem menschlichem Leben aufdrängen. Schon hätte man eine Erklärung, warum sich EthikerInnen in ihren moralischen Verhaltensweisen nicht von anderen ProfessorInnen unterscheiden, und die Skepsis, die durch Studien wie die unsrige befördert wird, würde nur die Art der ethischen Reflexion, wie sie in (a) ausgedrückt ist, treffen. Eine Kritik an der Art und Weise, wie Ethik an der Universität gelehrt und „gelebt“ wird, würde sich aber nichtsdestotrotz formulieren lassen – außer natürlich, der Anspruch einer moralischen Verbesserung wird im pädagogischen Kontext gar nicht erhoben

Wozu unsere Untersuchung also anregen kann, ist, dass wir den westlichen akademischen Stil, in dem Ethik gegenwärtig an Universitäten betrieben wird, eventuell gründlicher überdenken müssen, zumindest wenn wir ihn mit substantiellen Annahmen über den Einfluss auf die Lebensweise von Menschen verbinden. Wenn wir uns als Gesellschaft pädagogische Ziele setzen, z.B. den moralischen Charakter von jungen Menschen herauszubilden, oder spezialisierte Berufssparten für die moralischen Herausforderungen ihrer Tätigkeit zu sensibilisieren, dann ist akademische ethische Reflexion möglicherweise nicht das adäquate Mittel. Dies scheint einerseits offensichtlich zu sein, anderseits aber scheint der Glaube an die lebensweltlichen Effekte akademischer ethischer Reflexion weitverbreitet. Was pädagogische Alternativen sein könnten, darüber gilt es gründlicher zu reflektieren – oder zumindest gilt es, sich über die Limitationen mancher Arten der Reflexion im Lichte empirischer Evidenzen neu zu vergewissern.


[i] Ein weniger bekanntes Detail ist allerdings, dass Eric Schwitzgebel durch ein intensives Studium der chinesischen Philosophie allererst auf die Erforschung dieser Frage gelenkt wurde. (see for instance this “Rationally Speaking” podcast episode with Prof. Schwitzgebel: http://rationallyspeakingpodcast.org/show/rs139-eric-schwitzgebel-on-moral-hypocrisy-why-doesnt-knowin.html?fbclid=IwAR1xpU0HI5EdK4ecc-BdMXVrt1yPqBNIfzdsv93QDGLHoSgBgIDLioo2Bqc). Dies könnte als Indiz genommen werden, dass die empirische Erforschung dieser Thematik sich also sowohl in Hinsicht auf ihre Wurzeln als auch in ihrer Auslegung im Horizont alter weltanschaulicher Kämpfe bewegt, die nicht nur im industrialisierten Westen ausgetragen werden.

[ii] Schwitzgebel, E., & Rust, J. (2014). “The moral behavior of ethics professors: Relationships among self-reported behavior, expressed normative attitude, and directly observed behaviour,” Philosophical Psychology, 27, 293–371.

[iii] Schönegger, P. & Wagner, J. (2019). “The moral behavior of ethics professors: A replication-extension in German-speaking countries,” Philosophical Psychology, DOI: 10.1080/09515089.2019.1587912.

[iv]https://schwitzsplinters.blogspot.com/2019/03/most-us-and-german-ethicists-condemn.html?fbclid=IwAR3Gs83viQZAqfIzJmAx9Ua_Txiz6F585KSZqEBpkGhJag1Spd4TwWwjTu4