29 Mrz

Erwartungshaltungen. Feministische Perspektiven auf Supererogation

Von Katharina Naumann (Magdeburg), Marie-Luise Raters (Potsdam) und Karoline Reinhardt (Tübingen)


Wozu bin ich moralisch verpflichtet und was kann nun wirklich keiner von mir verlangen? Ist es besonders lobenswert, wenn ich mehr leiste? Und bin ich immer zur Dankbarkeit verpflichtet, wenn mir jemand etwas Gutes tut, oder hat das seine Grenzen? Außergewöhnliche Situationen, die mit besonderem Einsatz oder Risiko verbunden sind, werfen diese Fragen genauso auf wie freundliche Gesten. Aber wo beginnt die ‚Mehrleistung‘ und ist die Schwelle für alle gleich?

In unserer moralischen Urteilspraxis werden manche Handlungen als in hohem Maße moralisch wertvoll, aber dennoch nicht geboten betrachtet. Die Moralphilosophie bezeichnet diese als ‚supererogatorisch‘. Aber obwohl unsere Vorstellungen davon, wer zu was verpflichtet ist, zweifellos stark von Rollenbildern geprägt sind und keineswegs ‚genderneutral‘ sind, hat die Moralphilosophie diesen Aspekt bislang weitgehend ausgespart: Eine systematische Auseinandersetzung mit dem Konzept der ‚Supererogation‘ aus feministischer Perspektive stellt bislang ein Forschungsdesiderat dar.

Nachdem die scholastische Kategorie der ‚opera supererogationis‘ mit der Reformation in Vergessenheit geraten war, findet eine breite philosophische Auseinandersetzung mit dem Konzept der ‚Supererogation‘ erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts statt. Angestoßen wurde diese Debatte durch J.O. Urmsons Aufsatz „Saints and Heroes“ (1958). Nach Urmson hat sich die moderne Moralphilosophie nur auf das Erlaubte, das Gebotene und das Verbotene konzentriert. Mit dieser Dreiteilung würden jedoch die außergewöhnlichen Taten von ‚moralischen Heiligen und Helden‘ nicht erfasst. Entsprechend bedürfe es einer weiteren Handlungskategorie: ‚supererogatory acts’. Obgleich der Begriff nur ein einziges Mal in diesem Aufsatz fällt, hat er sich innerhalb der Moralphilosophie eingebürgert. 

Auch inhaltlich ist die Supererogationsdebatte bis heute durch zentrale Anliegen Urmsons geprägt: Strittig sind beispielsweise die Definition der Kategorie der Supererogation, ihre theoretische Begründung und die Kritik an der modernen Moralphilosophie. Darüber hinaus wird die Frage diskutiert, inwiefern Supererogateur:innen als moralische Vorbilder fungieren können bzw. sollten. Auch in Debatten der Angewandten Ethik hat die Kategorie Eingang gefunden. Hierbei wird sie nicht zuletzt genutzt, um sich von allzu anspruchsvollen Forderungen im Namen der Moral abzugrenzen. 

Was als Pflichterfüllung, freiwillige Mehrleistung oder gar als heilig oder heroisch verstanden wird, ist in unserer Urteilspraxis jedoch auch durch Geschlechterrollen und die daran geknüpften Handlungserwartungen geprägt. Daher wollen wir im Folgenden unter Rekurs auf theoretische und methodische Ressourcen der feministischen Philosophie skizzieren, welche Herausforderungen und Potentiale sich aus diesem Befund für die Supererogationsforschung ergeben. Diesbezüglich lassen sich wenigstens fünf zentrale Themenkomplexe ausmachen. 

Die Heiligen und Held:innen der Supererogationsforschung – Feministische Analysen

Im Anschluss an Urmson gelten ‚heroische und heilige Taten‘ als paradigmatische Fälle von Supererogation. Dabei ist schon bei Urmson auffällig, welche Beispiele gewählt werden, um diese Taten zu illustrieren. Es ist einerseits von einem Soldaten die Rede, der sich für seine Kameraden opfert, und andererseits von einer unverheirateten Tochter, die sich entscheidet, ihren kranken Vater zu pflegen: ‚Heldentum‘ und ‚Heiligkeit‘ werden hier offensichtlich in geschlechtstypisierenden Bildern gezeichnet. 

Auch in der Praxis ist festzustellen, dass Geschlechterrollen die Zuschreibungen von Heldenhaftigkeit und Heiligkeit beeinflussen. Umgekehrt haben deren Figurationen Rückwirkungen auf Geschlechterverständnisse, weil die entsprechenden Narrative diese Rollen (mit)verhandeln. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es überhaupt ein genderneutrales Verständnis von ‚Supererogation‘ geben kann und was aus der Antwort auf diese Frage folgt. Taugen Held:innen und Heilige aus feministischer Perspektive zu moralischen Vorbildern? Brauchen wir andere Held:innen? Oder doch einen gänzlich postheroischen Feminismus?

Taxonomien supererogatorischer Handlungen – Feministische Dekonstruktionen

In den Debatten um Supererogation wird, neben ‚heroischen und heiligen Taten‘, auch diskutiert, ob Handlungsweisen wie Wohltätigkeit, Verzeihen und Dankbarkeit supererogatorisch seien. Doch auch hier lassen sich Normalisierungs- und Naturalisierungstendenzen feststellen: Die normativen Erwartungen und moralischen Beurteilungen solcher und ähnlicher Handlungsweisen unterscheiden sich stark, je nachdem welcher sozialen Gruppe die betreffende Person angehört. 

Aus feministischer Perspektive drängt sich der Eindruck auf, dass Mitgliedern marginalisierter Gruppen tendenziell mehr Wohltätigkeit abverlangt wird als anderen; dass von ihnen eher erwartet wird, dass sie ihnen zugefügtes Unrecht verzeihen; und dass sie sich als besonders dankbar erweisen sollten, wenn jemand ihnen gegenüber bestimmte Pflichten erfüllt, weil sie in diesem Fall gesellschaftlich als über das geschuldete hinausgehend verstanden werden. Dieser Befund gibt Anlass zu der Frage, inwiefern die Anwendung der Kategorie der ‚Supererogation‘ nicht nur genuin moralische, sondern auch affektive und epistemische Ungerechtigkeiten fortschreibt. Was aus solchen Analysen für die Tragfähigkeit und die Bestimmung der Kategorie folgt, gilt es weiter zu diskutieren. 

Altruismus, Aufopferung und Liebe – Supererogation innerhalb der Fürsorgeethik 

Hinsichtlich der näheren Bestimmung der Kategorie der ‚Supererogation‘ besteht weitgehend Einigkeit, dass zwei Kriterien erfüllt sein müssen: Die Handlung muss optional und moralisch wertvoll sein. Darüber hinaus wird häufig davon ausgegangen, dass sie mit der Aufopferung eigener Interessen zum Wohle anderer einhergehen müsse. So rechtfertigt David Heyd beispielsweise die Trennung von Pflicht und Supererogation mit dem Argument, dass Personen sich entscheiden könnten, aus altruistischen Fürsorgemotiven für das Gemeinwohl freiwillig mehr als ihre Pflicht zu tun. Liebe spiele dabei eine zentrale Rolle. Mit ähnlicher Stoßrichtung kennzeichnet die Care-Ethik von Michael Slote supererogatorische Handlungen als solche, in denen ein besonders hohes Maß an Empathie zum Ausdruck komme.

Vor diesem Hintergrund fanden Supererogationstheorien früh Beachtung in Diskursen über eine ‚spezifisch weibliche Moral‘, aber nicht vice versa. Dabei wäre aus feministischer Perspektive kritisch zu hinterfragen, welche (mitunter problematischen) Rollenerwartungen hier bereits in die Argumentationsstrukturen eingeschrieben sind. Außerdem wäre zu fragen, ob eine Engführung von supererogatorischem Handeln mit altruistischen Fürsorgemotiven nicht allzu leicht in überfordernde Aufopferung umschlägt. 

Epistemische Held:innen? – Feministische Erkenntnistheorie 

Innerhalb der feministischen Erkenntnistheorie und der critical philosophy of race wird oftmals die These vertreten, dass sich Mitglieder unterdrückter Gruppen in einer privilegierten epistemischen Situation befinden, insofern sie die Mechanismen ihres Unterdrücktseins besser durchschauen als andere. Umstritten ist, ob sich hieraus spezielle moralische Pflichten ergeben und worin diese gegebenenfalls begründet sind. Handelt es sich um Hilfspflichten gegen andere oder um Pflichten gegen sich selbst? Das zieht weitere Fragen nach sich, etwa zum Zusammenhang von (Nicht)Wissen und moralischer Verantwortung oder auch danach, ob Handlungen supererogatorisch sein können, wenn sie (auch) im Eigeninteresse liegen. 

Zu diskutieren wäre außerdem, ob sich daraus auch spezielle epistemische Pflichten ergeben, und ob es ‚epistemische Held:innen‘ gibt. Folgt man José Medina, so handelt es sich hierbei um Personen, die trotz epistemischer Unterdrückung epistemische Tugenden entwickeln und so zu gesellschaftlichen Transformationen beitragen. Diesbezüglich wäre sowohl zu prüfen, ob sich Überlegungen aus der Supererogationsdebatte für eine Auseinandersetzung mit diesem Held:innentypus fruchtbar machen lassen als auch, ob sich diesem in Bezug auf die Supererogationsdebatte systematisch etwas abgewinnen lässt.

Chancen und Gefahren der Heroisierung von Opfern – Feministische Sozialphilosophie

Opfer von Unterdrückung können nicht nur zu Held:innen werden, indem sie Widerstand leisten, sondern womöglich auch, indem sie in ihrer Rolle als Opfer heroisiert werden. Dazu wäre zu überlegen, ob es einen moralischen Unterschied macht, ob jemand aufgrund oder trotz der Opferrolle heroisiert wird. Generiert die Heroisierung von Opfern einen weiteren Held:innentypus und worin wäre dieser begründet: Im stillen Erdulden oder im mutigen, wenn vielleicht auch aussichtslosen Widerstand?

Die Tendenz zur Heroisierung von Opfern wird in der Debatte zu Heldenhaftigkeit unterschiedlich bewertet. Sie scheint einerseits mit der Chance einherzugehen, nicht nur eine andere Geschichte zu erzählen, sondern auch das Held:innentum von seinem maskulinen, kriegerischen und elitären Gewand zu befreien. Andererseits scheint diese Tendenz mit der Gefahr einherzugehen, bestimmte soziale Positionen zu manifestieren. Hier dürfte es sich wiederum als entscheidend erweisen, welche Rollenerwartungen, welche Opferbilder und -narrative den unterschiedlichen Beurteilungen zugrunde liegen. Damit stellt sich erneut die eingangs aufgeworfenen Frage: Brauchen wir Held:innen und wenn ja welche?


Katharina Naumann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Universität Magdeburg, Marie-Luise Raters ist apl. Professorin an der Universität Potsdam, Karoline Reinhardt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am IZEW der Universität Tübingen. Alle drei arbeiten zu Heldenhaftigkeit, Pflicht und Supererogation. Darüber hinaus teilen sie ein großes Interesse an feministischer Philosophie. Gemeinsam organisieren sie einen Workshop zum Thema ‚Supererogation: Feministische Perspektiven‘, der vom 16. bis 17. September in Berlin stattfinden wird. Der Call for Papers läuft noch bis zum 30. April 2022.