Simone de Beauvoir: Eine Feministische Phänomenologie der Schwangerschaft
Von Isabella Marcinski (Göttingen)
Das Phänomen der Schwangerschaft wurde noch keiner umfassenden philosophischen Reflexion unterzogen. Zahlreiche Aspekte bilden somit Desiderate philosophischer Forschung. Die bisher vorliegenden Untersuchungen konzentrieren sich auf ethische Fragestellungen bezüglich der Reproduktionsmedizin und reproduktiver Entscheidungen. Selbst in der feministischen Philosophie ist das Phänomen der Schwangerschaft lediglich als Randthema präsent. Die feministische Phänomenologie hingegen bietet vielfältige Überlegungen, die den Anspruch verfolgen, die subjektive Erfahrung in der Schwangerschaft zu beschreiben. Hierzu zählen Autorinnen wie Simone de Beauvoir, Iris Marion Young, Sara Heinämaa und Tanja Staehler.
Die französische Philosophin Simone de Beauvoir hat in ihrem Buch Das andere Geschlecht [Le deuxième sexe] bereits 1949 die Erfahrung von Schwangerschaft (und Geburt) detailliert beschrieben. Simone de Beauvoir ist auch die erste, die eine dezidiert feministische Phänomenologie entwickelt hat. In ihren Beschreibungen der Situation der Frau und der gelebten Erfahrungen, die sie charakterisieren, entwickelt sie zudem eine Kritik an bisherigen phänomenologischen Positionen.
Ich möchte im Folgenden zeigen, warum wir zu Simone de Beauvoir zurückkehren sollten, um eine adäquate feministische Phänomenologie der Schwangerschaft zu entwickeln. In ihrer Verbindung von phänomenologisch-existentialistischen Begrifflichkeiten mit sozial- und gesellschaftstheoretischen Überlegungen liefert Beauvoir nämlich bereits eine frühe Form einer kritischen feministischen Phänomenologie der Schwangerschaft.
Die Phänomenologie stellt die leibliche Erfahrungsdimension ins Zentrum ihrer Philosophie und kann so die subjektiven Erfahrungen von Schwangerschaft thematisieren. Die bisherigen Beschreibungen von Schwangerschaft, die aus der Perspektive einer feministischen Phänomenologie entwickelt wurden, stellen diese allerdings als universelle Erfahrungen dar. Dabei wird meist nicht die Relevanz von politischen, kulturellen, sozialen und technologischen Faktoren reflektiert. Simone de Beauvoir stellt erstaunlicherweise schon Ende der 1940er Jahre eine Ausnahme dar, da sie die grundlegende Sozialität der Erfahrungen von Schwangerschaft herausarbeitet.
Simone de Beauvoir beschreibt diese Erfahrungen von Schwangerschaft im Abschnitt Die Mutter im zweiten Buch in Das andere Geschlecht. Sie versucht hier die gelebten Erfahrungen der Frau vor dem Hintergrund ihrer Gesamtsituation in modernen westlichen Industrienationen sehr differenziert und in ihrer möglichen Vielfalt zu fassen. Grundsätzlich seien die Erfahrungen von Schwangerschaft abhängig von der jeweiligen Situation der Frau, die zwar strukturelle Gemeinsamkeiten aufweise, sich jedoch auch individuell, sozial und politisch unterscheide. Entsprechend schreibt Beauvoir: „Schwangerschaft und Mutterschaft werden sehr unterschiedlich erlebt, je nachdem, ob sie mit Gefühlen der Empörung, der Resignation, der Befriedigung oder der Begeisterung einhergehen.“ (de Beauvoir 1999, S. 624) Beauvoir geht noch weiter, wenn sie schreibt, dass die Art und Weise, wie Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft erlebt werden, Auskunft gibt über die Beziehung der Frau zu sich selbst, zu Anderen und zu der Welt generell. Schließlich kommt sie zu dem Schluss, dass es konsequenterweise auch keinen Mutterinstinkt gäbe, denn: „Die Haltung der Mutter ergibt sich aus deren gesamter Situation und aus der Art und Weise, wie sie diese annimmt.“ (Ebd., S. 647)
Diese unterschiedlichen Erlebnisweisen versucht Beauvoir anhand belletristischer und autobiographischer Schilderungen, medizinischer und psychologischer Fachliteratur sowie Anekdoten aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis aufzuzeigen. Dabei verweist sie nicht nur auf die jeweilige Situation der Frau, die mit unterschiedlichen emotionalen Dispositionen einhergehe, sondern auch auf die unterschiedlichen Phasen der Schwangerschaft − Beginn, Mitte, Ende – die zu differenzieren sind, da sie andere Erfahrungen mit sich bringen (Ebd., S. 642).
Auch bei der Geburt seien unterschiedliche Erlebnisweisen vorzufinden. Beauvoir schreibt: „Es gibt Frauen, die sagen, sie hätten während der Entbindung ein Gefühl schöpferischer Kraft empfunden. Für sie war das, was sie vollbracht haben, wirklich eine freiwillige und produktive Arbeit. Viele aber haben sich, ganz im Gegenteil, vollkommen passiv gefühlt, als ein leidendes, gequältes Werkzeug.“ (Ebd.)
Beauvoir beginnt den Abschnitt Die Mutter mit dem Thema der Abtreibung: eine Provokation, nicht nur zur damaligen Zeit. Zentral für die Erfahrung von Schwangerschaft sei nämlich, ob die Frau die Mutterschaft frei wählen könne, also Zugang zu Verhütungsmitteln und einer legalen und medizinisch sicheren Abtreibungsmethode habe. Da dies oft noch nicht der Fall sei, werde Schwangerschaft von vielen Frauen als eine Entfremdungssituation erlebt. Da die Mutterschaft in den 1940er Jahren also größtenteils nicht frei gewählt wird, prägt dieser Umstand die weitere Beschreibung der Erfahrungen von Schwangerschaft, wie sie bei Beauvoir zu finden sind. Dies wirkt vielfach irritierend, da so Beschreibungen dominieren, die Schwangerschaft negativ, und zwar als Verlust von Freiheit und körperlicher Integrität fassen.
Beauvoir greift zudem methodisch auf existentialistische und phänomenologische Begrifflichkeiten zurück, um die Erfahrungen von Schwangerschaft zu beschreiben. Dabei kommt sie auch zu Schlüssen, die existentialistisch-phänomenologische Vorannahmen kritisieren. Der Leib dränge sich der Schwangeren beispielsweise in besonders intensiver Weise auf, und zwar nicht als Medium zur Welt hin, wie es Merleau-Ponty beschreibt, sondern in seiner puren Schwere und Materialität. Dieses Erleben von Schwere und Materialität des Leibes in der Schwangerschaft bezeichnet Beauvoir als Erfahrung von Immanenz. Eine zentrale Argumentation in Das andere Geschlecht ist die Herausarbeitung der Bedeutung der Erfahrung von Immanenz, die von Sartre und Merleau-Ponty nicht erkannt, bzw. abgewertet wurde, da sie die Transzendenz als Bewegung zur Welt hin und als ständige Überschreitung priorisieren. Dabei weist Beauvoir nach, dass Frauen historisch die Position der Immanenz zugeschrieben wurde und damit die Dualität von Immanenz und Transzendenz, die zur menschlichen Existenz gehört, unzulässigerweise auf die Geschlechter verteilt wurde.
Die Schwangerschaft wird von Beauvoir als Phänomen skizziert, an dem sich zeige, dass die menschliche Existenz immer schon durch Immanenz und Transzendenz zugleich charakterisiert sei. So schreibt Beauvoir: „Das Einzigartige an der schwangeren Frau besteht darin, daß ihr Körper genau in dem Moment, in dem er sich transzendiert, als immanent erfahren wird.“ (Ebd., S. 629) Die Immanenz wird auf vielfältige Weise erlebt. Während sie sich zu Beginn der Schwangerschaft in Form von Übelkeit und Erbrechen äußert, ist sie später als Schwere und Fülle erfahrbar. Die Transzendenz wiederum sieht Beauvoir darin gegeben, dass der schwangere Körper aufhöre, für sich alleine zu existieren. Zugleich besteht die Transzendenz aber auch darin, dass die Schwangerschaft biologischen und damit überindividuellen Abläufen unterliege. Auf diese Erfahrung des Ausgeliefertseins reagieren viele Schwangere mit Entsetzen, Widerstand und Ablehnung, wie Beauvoir aufzeigt.
Diese Ambiguitäten, von denen die Schwangerschaft geprägt sei, zeigen sich, so Beauvoir, auch noch auf einer anderen Ebene, und zwar in der Beziehung der Schwangeren zum Embryo/Fötus. Die Erfahrung von Schwangerschaft sei nicht mit der Dualität von Subjekt und Objekt fassbar: „Sie bildet mit dem Kind, das ihren Leib anschwellen läßt, ein zweideutiges Paar, das vom Leben überflutet wird.“ (Ebd., S. 630) Und weiter: „Sie empfindet ihren Zustand als Bereicherung und Verstümmelung zugleich. Der Fötus ist ein Teil ihres Körpers, und er ist ein Parasit, der von ihr zehrt. Sie besitzt ihn, und sie wird von ihm besessen.“ (Ebd.)
In der Rezeption beziehen sich die Ansätze einer feministischen Phänomenologie vor allem auf diese Beziehung von Schwangerer und Embryo/Fötus, auf das Drama zwischen Selbst und Selbst, wie es Beauvoir nennt. Die zentrale Frage, um die die Auseinandersetzungen kreisen, ist diejenige, ob die Schwangere eine Einheit bilde mit dem Embryo/Fötus oder ob sich eine Auflösung des Subjekts vollziehe. Die ebenfalls bei Beauvoir zentrale Dimension der Situation, vor dessen Hintergrund die Erfahrungen von Schwangerschaft zu beschreiben seien, wird in der weiteren Rezeption nicht weiterentwickelt.
Iris Marion Young begreift in ihrem Aufsatz Pregnant Embodiment von 1984 die Schwangerschaft als eine Auflösung des Subjekts. Das Phänomen der Schwangerschaft weise darauf hin, so Young, dass sowohl der Körper als auch das Subjekt keine festen Grenzen haben.
Sara Heinämaa wendet sich gegen Youngs Argumentation und sieht lediglich eine Form der Selbstveränderung in der Schwangerschaft, die keine radikale Infragestellung des Verhältnisses von Selbst und Anderen bzw. Körper bedeute. Vielmehr weise das Phänomen der Schwangerschaft auf die Fundamente eines immer schon gegebenen Mitseins hin.
Tanja Staehler versucht beide Positionen zusammen zu bringen, indem sie davon ausgeht, dass in der Schwangerschaft sowohl eine Einheit von Mutter und Embryo/Fötus als auch Differenz erlebbar werden.
Diese phänomenologischen Analysen setzen anders als Simone de Beauvoir voraus, dass das Erleben von Schwangerschaft unberührt bleibt von der sozialen, politischen und kulturellen Welt mit ihren Normen, Diskursen und Technologien. Bei Heinämaa und Staehler tauchen diese Kontexte erstaunlicherweise gar nicht auf, bei Young werden sie lediglich als Ursprung zunehmender Entfremdung thematisiert. Das Phänomenen der Schwangerschaft scheint hier wie aus der sozio-kulturellen Welt herausgenommen.
Damit liefern diese feministischen phänomenologischen Rekonstruktionen von Schwangerschaft kaum befriedigende Phänomenbeschreibungen. Eine phänomenologische Beschreibung von Schwangerschaft muss auch die politischen, sozialen, kulturellen und technologischen Faktoren, die Erfahrungen gestalten, reflektieren und als konstitutiven Teil der Phänomene rekonstruieren. Hier ist eine Rückbesinnung auf Simone de Beauvoir sinnvoll, die eben diese Bedingtheit von Erfahrungen ins Zentrum ihrer phänomenologischen Überlegungen zu Schwangerschaft stellt.
Isabella Marcinski ist Post-Doc am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen. Hier arbeitet sie im Teilprojekt „Ethik der Reproduktionsmedizin“ der DFG-Forschungsgruppe „Medizin und die Zeitstruktur guten Lebens“.
Literatur:
De Beauvoir, Simone (1999 [1949]), Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek bei Hamburg [Le Deuxième Sexe, Paris].
Heinämaa, Sara (2014), „An Equivocal Couple Overwhelmed by Life“. A Phenomenological Analysis of Pregnancy, in: philoSOPHIA: A Journal of Continental Feminism 4.1, S. 12-49.
Staehler, Tanja (2016), Vom Berührtwerden. Schwangerschaft als paradoxes Paradigma, in: Landweer, Hilge, u. Marcinski, Isabella (Hg.), Dem Erleben auf der Spur. Feminismus und die Philosophie des Leibes, Bielefeld 2016, S. 27−43.
Young, Iris Marion (2005), Pregnant Embodiment: Subjectivity and Alienation, in: Young, Iris Marion, On Female Body Experience. „Throwing Like a Girl“ and other Essays, Oxford 2005, S. 46-74.