Gedanken- als Wahrnehmungsexperimente. Überlegungen zu audiovisuellen Fake-Gesprächen Alexander Kluges
Von Florian Wobser (Passau)
Das Spannungsfeld aus Wahrnehmen und Denken betrifft jedes Philosophieren. Alexander Kluge nimmt darin eine eigensinnige Verschiebung vor. Während ein Gedankenexperiment von seiner Form lebt, die eine oft kreative kontrafaktische Situation als Vorstellung verlangt, letztlich aber der Reflexion dient, wertet Kluge die audiovisuelle Inszenierung ihrer Artikulation auf, die es reflektiert wahrzunehmen gilt. Dass so ein Experiment gelingt, bei dem heuristisch – anders als beim regulären Gedankenexperiment – sinnlicheReize wirken, das jener Denkmethode im performativen Prozess jedoch verbunden bleibt, möchte ich in diesem Beitrag an einem von und mit Kluge produzierten Fake-Gespräch zeigen.
In der 2005 im Privat-TV gesendeten Episode „Sparen im Bombenkrieg“ (15‘), die seit 2009 auch auf Kluges Web-TV dctp.tv archiviert ist, unterhält sich der in eigenen Sendungen häufig im Off verbleibende Produzent mit US-Rechnungsprüfer Benjamin S. Arnstein. Letzterer wird aber durch Kluges langjährigen TV-Partner Peter Berling (1934-2017) – einem Original aus der zweiten Reihe der BRD-Avantgarde-Kultur – gemimt. Solche Kontexte der Fakes greife ich im Schluss erneut auf, sobald ich Bildungschancen mit diesem Format skizziere. Vorerst sollten wir uns jedoch – eine Art Gedankenexperiment en miniature – in die Rolle einer Rezipient*in versetzen, die kein Expertenwissen besitzt. Was nimmt man wahr, wenn man diese Unterhaltung ahnungslos verfolgt?
Im Intro (ca. 1,5‘) sieht man historische Dokumentaraufnahmen von Bombardements im Zweiten Weltkrieg und hört musikalische Paraphrasierungen, die einen dramatischen Eindruck verstärken; im unteren Bildschirmdrittel liest man im – leicht zu schnell – laufenden Text eine Art Einführung in die Thematik, die sich um das Problem möglicher Verschwendung wertvoller Kriegsmaterialien und der Überprüfung durch das Pentagon in Person Arnsteins dreht. Anschließend befragt jemand Arnstein zum im Lauftext fixierten Verdacht, dass das administrative Prinzip der Wirtschaftlichkeit im Bombenkrieg verletzt worden sei. Die Art und Weise dieses Gesprächs (ich beziehe mich auf die ersten ca. 10‘), wobei man sich ins Wort fällt oder uneins ist, setzt sich vom TV-Interview ab, das frei von Irritation und Redundanz bleibt.
Der Effekt der Redundanz entsteht, weil beide Personen immer wieder neu um die Frage kreisen, ob die US-Air-Force im Jahre 1945 die „Haushaltsordnung“ (0:02:40) des durch Arnsteins Uniform repräsentierten Pentagons verletzt habe, indem sie über Nazi-Land militärisch nutzlose Ziele wie „Osnabrück“ (0:02:14) bombardierte. Die mutmaßlich fürs Verschwenden explosiver, doch „wert-volle[r] Ware“ (0:03:59) Verantwortlichen hätten aber als Replik betont, dass Zwischenlagerung oder Rücktransport in die USA teurer und gefährlicher gewesen wäre. Ihre schlüssige Rechnung müsse Arnstein „buchhalterisch“ (0:08:53) akzeptieren. Das „Abwerfen, das Wegwerfen“ (0:04:27) der Bomben als „Müll“ (0:08:24) sei letztlich „nicht korrekt, aber vernünftig“ (0:10:26) gewesen.
Die Aufmerksamkeit spaltet sich bei der Rezeption auf: Zwar hat man schon allerhand Kriegsdokus gesehen und ist abgestumpft, aber einerseits verbietet die ernste Thematik es, gleichgültig zu sein. Durch jenen paradoxen Sachverhalt bleibt man zusätzlich aufmerksam. Zugleich ist man abgelenkt – wodurch? Hört und schaut man genau hin, so scheint es nicht bloß die abstruse Thematik zu sein, die verwirrt, sondern ebenso der Duktus des Herrn im Off, sobald er vom „Zielmangel“ (0:01:50) spricht und kurz darauf schnell, doch genüsslich, noch „Nordhausen“ (0:02:17) einfügt. Es ist auch die Lust an speziellen Formulierungen, die hörbar Ausdruck gewinnt, wenn Arnstein von „Nullzielen … -2/-3-Zielen“ (0:04:32) spricht oder sein Pendant sich „niedergebracht werden“ (0:03:39) oder „‘vorläufig sichern’ sagen wir“ (0:06:15) auf der Zunge zergehen lässt.
Diese militärischen Phrasen entfalten eine Wirkung, die man als ambig empfinden kann, indem die Nähe zum Sujet simultan als Distanz erscheint. Visuelle Inserts wirken unsachlich oder flapsig, etwa der triggernde Fokus auf einen Bombenzünder (Abb. 5) oder die merkwürdige Illustration zum Gedanken, dass „[m]an [mitten im Krieg] nicht ein ganzes Bomberkommando in Urlaub schicken“ könne (ab 0:04:54 bzw. Abb. 4). Man sieht es heute als Störung, dass Arnstein Zigarillo schmökt, was die Frage aufwirft, von wann eigentlich das Gespräch stammt – beachtet man, dass der über das Jahr 1945 sprechende Arnstein (ja, und warum denn überhaupt fließend auf Deutsch?) damals schon erwachsen gewesen sein muss und rechnet spontan Pi mal Daumen nach, ja, dann…
Ab einem (un-)gewissen Punkt gerät man ins Zweifeln. Die Motivation dieses Zweifelns, das gemäß Expertenwissen auf Ironiesignale zurückgeht, findet in diesem Beitrag sogar ein flüchtiges Modell. Der Talking Head verzieht kurz krass sein Gesicht (Abb. 6), als er die versponnene Idee vernimmt, dass man jene Bomben auch auf „Flöße[n]“ (0:06:36) über den Atlantik zurück in die USA hätte transportieren können. Seine überbetonte Mimik negiert jene Eingebung. Während Arnstein dieser zu wilden Phantasie seines Gegenübers misstraut, zweifelt analogerweise unsere Rezipient*in an der Realness des Beitrags, indem sie Spuren des Fakes multimodal Aufmerksamkeit schenkt (sieht jetzt nicht auch die Uniform von Arnstein eher unglaubwürdig aus?).
Dieses Experiment »atmosphärischen Wahrnehmens«[1]war/ist allein möglich, wenn die Rezipient*in dem Beitrag damals im TV oder heute im Web unwissend begegnet(e). Zufälliges Hineinzappen war beim Push-Medium Fernsehen wahrscheinlich, das Pull-Medium dctp.tv (oder auch YouTube) muss bewusst angesteuert werden. Während die kontrafaktische Situation der regulären Methode einleitend mit „Nehmen wir einmal an…“ markiert wird, kann sich bei Kluges Fakes dieser medienphänomenologische Effekt nur entfalten, wenn man – wie oben simuliert – naiv konfrontiert wird. Nach Bertrams häufig zitiertem Standardwerk wird beim Gedankenexperiment situativ „auch eine lehrende, didaktische Funktion“[2] aktualisiert, die ich an dieser Stelle modifizieren möchte.
Die Modifikation führt vorerst zum Wahrnehmungsexperiment, durch das der etablierten Methode mehrere Verschiebungen zugemutet werden. Während nach Bertram „»Science goes fiction«“[3] gilt, sieht Kluge sein Format als Montage aus »facts und fakes«, die sich gegen die „Papiertiger-Natur“[4] der Realität richtet. Mittels der durch die Filmavantgarde geprägten Strategie der „Verflüssigung“[5] unterläuft Kluge als ein »Pausenclown der Frankfurter Schule«[6] jede Ideologie, auch die zu starrer Theorien und Methoden. Ergo stellt er das Gedankenexperiment auf den Kopf: Wie die Gedankenexperimentierenden selbst gibt sich Kluge nicht mit Ist-Zuständen zufrieden, sondern hofft darauf, dass sich im „Durchspielen eines Szenarios“[7] Neues zeigt, nicht zuletzt durch kreative Abduktion.
Bertram hegt die Offenheit dieses heuristischen Prozesses ein, indem er ihn analytisch an geeignete „Schlussfolgerungen als Zielthesen (target thesis)“[8] rückkoppelt. Kluge und Gäste spielen ihr eigenes Szenario mit performativen Sound- und Bildgesten tatsächlich durch. Oft bleibt es beim Spiel, das zur Tradition des Dadaismus neigt, etwa wenn Kluge mit u.a. Hannelore Hoger und Helge Schneider philosophisches Improtheater betreibt. Berling – mit dem Kluge seit 1988 wenigstens 150 Episoden gestaltet hat – ist weniger bekannt, so dass der Fake zunächst unklar bleibt und man ihm sukzessive auf die Spur kommen muss. Daraus folgt aber nicht, dass es beim oben simulierten Wahrnehmungs-experiment bleibt. Interessanterweise kippt jener heuristische Prozess mit zunehmendem Zweifeln in ein Gedankenexperiment: Je aufmerksamer man Kluges Fake-Spuren verfolgt, desto plötzlicher ist eine Intuition dar, die statt jener Zielthese geschieht, nämlich der Affekt, der Resultat und Ursache kritischer Überprüfung ist: »Das kann doch wohl nicht wahr sein!«.
Am Beispiel der Fakes Kluges lassen sich also Gedanken- als Wahrnehmungsexperimentevariieren und methodisch durchführen. Dies erfordert Analyse, Gespür und Deutung, wobei jener ent- und unterscheidende Affekt anders als bei der etablierten Methode mittels „[kontra-]intuition pumps“[9] motiviert wird. Eins meiner Forschungsinteressen liegt darin, dass ich Lehrsituationen reflektiere und gestalte, mittels derer das Gespür für oder besser gegen Fake gestärkt werden kann. Dies ist mit vielen Unterrichtsmedien möglich, aber Kluges Format ist wertvolles Pars pro Toto. Diese Fakes ermöglichen es immer, für kritische Praktiken der Medialität zu sensibilisieren, die im Anschluss an Derrida ein Wahrnehmbar-machen und seine Paradoxographie[10] oder den Imperativ der doppelten Analyse jeder Artikulation nach Deleuze auch methodisch ernst nehmen: „All dies verlangt nach einer Pädagogik, insofern wir in einer neuartigen Weise das Visuelle lesen und den Sprechakt auf neue Art hören müssen“.[11]
Oft geht es in Kluges Fakes bloß um Blödeleien – auch ein Ausdruck von Qualität: „Wenn man diese Interviews also zunächst auf einer sehr einfachen Ebene genießen will, kann man einfach zwei mehr oder weniger glücklichen Spinnern zuschauen, die trotz einiger Störungen dann immer doch gemeinsam spinnen. Das ist schon einmal sehr, sehr schön.“[12] Auch in der Lehrpraxis sollte häufiger der Appell »Es darf gelacht werden!« gelten. Kluges Fakes eignen sich auch zur humor- und ironiefreundlichen Pädagogik[13], zu der es wertvolle Überlegungen in der Philosophiedidaktik gibt. Ein medienaffiner Vertreter betont, dass gerade „Projekte der Ironisierung, Persiflage und Satire“[14] ein hohes Bildungspotenzial ermöglichten. Die Fakes Kluges sind solche Miniprojekte, die überdies durch ihre „[In-]Authentisierungsstrategien“[15] kritische Reflexionskraft motivieren.
Zuletzt und abschließend komme ich auf Kluges „Sparen im Bombenkrieg“ zurück. Während man im Gedankenexperiment klar und deutlich kontrafaktisch ist, kann man in der Fake-Variante durchs Zweifeln zu dem ungewissen Urteil verführt werden, dass der ganze Beitrag unwahr sei. Doch nach der zweistufigen Heuristik beginnt die Reflexion der dritten Art: Besteht die Ironie des Fakes darin, dass sie auf die ernsthafte Problematik verweist, wonach gerade im Krieg gemäß Kritischer Theorie instrumentelle Rationalität vorherrscht? Arnstein/Berling hebt hervor, dass das Problem darin liege, dass „sone Maschine, wenn sie mal läuft, dann läuft sie“ (ab 0:05:05). Dies gelte u.a. für die „leichte Überproduktion“ beim Herstellen der Sprengkörper (ab 0:09:50). Analog zu dem Diktum Adornos, dass an der „Psychoanalyse nichts wahr [ist] als ihre Übertreibungen“[16] schlagen damit Kluge und Berling der Kriegsmaschine[17] ein Schnippchen. Beide nehmen spontane Exkurse in Kauf, die weder humorvoll noch ironisch sind (zu Atombombenabwürfen in Japan vgl. ab 0:07:45), aber dabei dem Zynismus des Krieges, in dem Political Correctness unmöglich ist, ein Gesicht verleihen. Nimmt man Kluges Fake als Expert*in wahr, dann wirft dieses Format auch Gedanken auf der Metaebene auf, z.B. zur tendenziellen Täter-Opfer-Verdrehung, indem die US-Air-Force-Member, nicht aber Nazis auf Irrationalität überprüft werden. Vielleicht hätte diese Alternative gerade die Grenze erträglicher Ironie überschritten. Mit Kluges Format wird kritische Theorie zwischen Frankfurt und Frankreich ein Gedanken- als Wahrnehmungsexperiment zu jener Frage, wieviel Irrationalität unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen herrscht – im Modus des Fakes.
Dr. Florian Wobser arbeitet nach einigen Jahren im gymnasialen Schuldienst als Fachdidaktiker an der Lehrprofessur für Philosophie an der Universität Passau.
Geht er nicht gerade seinem Interesse an Medienphilosophie nach, bemüht er sich mit Studierenden um eine reflektierte Praxis im Fach Ethik/Philosophie. Zwei Anliegen sind ihm dabei populäre Unterrichtsmedien und ihre Performativität. Derzeitig bereitet er u.a. die Publikation seiner Dissertation zu Interviews und audiovisueller Essayismus Alexander Kluges. Ein ästhetisch-performatives Bildungsprojekt und seine Relevanz für schulisches Philosophieren vor.
[1] Vgl. Hauskeller, Michael. Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung. Berlin 1995. S. 49.
[2] Bertram, Georg W. Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch. Stuttgart 2012. S. 34.
[3] Ebd. S.9.
[4] Kluge, Alexander. […] Zur realistischen Methode. Frankfurt am Main 1975. S. 215.
[5] Negt, Oskar; Kluge, Alexander: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt am Main 1981. S. 96f.
[6] Ein gelegentliches Bonmot Kluges.
[7] Bertram 2012, S. 62.
[8] Ebd. S. 21.
[9] Für Bertrams Bezug auf Dennetts „intuition pumps“ beim Gedankenexperiment vgl. ebd. 49 [Ergänzung – FW].
[10] Vgl. Zahn, Manuel. Ästhetische Film-Bildung. Studien zur Materialität und Medialität filmischer Bildungsprozesse. Bielefeld 2012.
[11] Vgl. das Originalzitat in: Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt am Main 2007. S. 316 und seine Applikation für die Medienbildungsphilosophie durch: Sanders, Olaf: Deleuzes Pädagogiken. Die Philosophie von Deleuze und Deleuze/ Guattari nach 1975“. Habilitationsschrift. Universität Köln 2010.
[12] Seeßlen, Georg: Interview/Technik oder Archäologie des zukünftigen Wissens. Anmerkungen zu den TV-Interviews Alexander Kluges. In: Kluges Fernsehen. Alexander Kluges Kulturmagazine. Hg. C. Schulte und W. Siebers. Frankfurt am Main 2002. S. 128-137. S. 131.
[13] Vgl. Aßmann, Alex: Pädagogik und Ironie. Wiesbaden 2008.
[14] Vgl. Maeger, Stefan: Umgang mit Bildern. Bilddidaktik in der Philosophie. Paderborn u.a. 2013. S. 313ff.
[15] Vgl. ebd. S. 316ff. [Ergänzung – FW].
[16] Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Frankfurt am Main 1969. S. 56.
[17] Vgl. Deleuze, Gilles; Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie [II]. Berlin 1997. S. 481-585.