11 Nov

Gedankenexperimente zwischen Himmel und Erde

Von Yiftach Fehige (Toronto)


Einst war es möglich, im Laufe eines Wochenendes zu Experten*innen in Sachen Gedankenexperimente zu werden. So wenig Literatur gab es dazu. Das kann man sich kaum noch vorstellen, wenn man sich vor Augen führt, wie viele Monographien, Anthologien und Fachzeitschriftenartikel es heute zum Thema gibt. So blickt etwa sehr wirkungsvoll der Kanadier James R. Brown zum Platonischen Himmel, um zu erklären, wie uns Gedankexperimente Wissen über die Welt verschaffen können. Manfrau kann aber noch viel höher hinaus. Das legen zumindest die Gedankenexperimente der Offenbarungstheologie nahe.

Der US-Philosoph John D. Norton kann hingegen auf Gedankenexperimente ganz verzichten, weil es sich schlicht um verkappte Argumente handeln soll. Beeindruckend demonstriert er dies vor allem an den einschlägigen Gedankenexperimenten von Albert Einstein — ein Meister des Gedankenexperiments. Einstein soll sogar ganz verwirrt gewesen sein, als er behauptete, besonders ein Gedankenexperiment hätte ihm auf dem schwierigen Weg zur Relativitätstheorie zu einer ganz wichtigen Grundeinsicht verholfen! Einstein stellte sich vor, wie er einem Lichtstrahl hinterherrannte. Ein Gedankenexperiment ist so gut wie das Argument, das in ihm versteckt ist, behauptet Norton. Welches Argument genau in Einsteins Wettlauf mit dem Lichtstrahl verborgen sein und Einstein zur Relativitätstheorie geführt haben soll, ist schlicht unklar, so Norton.

Das mag sein, aber Gedankenexperimente sind wohl grundsätzlich nicht einfach nur Argumente mit narrativem Schnick-Schnack. Aus Nortons Sicht ist die Gleichsetzung von Gedankenexperimenten und Argumenten die einzige Möglichkeit, verständlich zu machen, warum sich Gedankenexperimente in den Naturwissenschaften so großer Beliebtheit erfreuen und auch kognitiv etwas leisten können. Einsteins Vertrauen in die Gedankenexperimente hängt aber wohl eher mit seiner „Kosmischen Religiosität“ zusammen. Er hat immer wieder darauf hingewiesen, dass jeder Wissenserwerb eigentlich einem religiösen Vollzug gleichkommt. Unerklärlich erscheint nicht nur, warum wir in der Lage sind, Wissen zu erwerben, das ganz und gar nicht der Befriedigung unserer biologischen Bedürfnisse dient. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass die Welt so beschaffen ist, um Wissen über sie erwerben zu können. Theologisch kann man beides sehr gut erklären, indem man eine göttliche Vernunft in beidem zum Ausdruck kommen sieht. Das Universum ist eben vernünftig. Theolog*innen sind sicherlich nicht auf den Rationalismus festgelegt. Dennoch erscheinen die kognitiven Leistungen, die vielen Gedankenexperimenten zugeschrieben worden sind, aus theologischer Perspektive weit weniger verwunderlich als vom naturalistischen Standpunkt aus.

In der langen Geschichte der philosophischen Analyse dessen, was Gedankenexperimente sind und leisten können, findet man diesbezüglich Einiges im Werk von Novalis. Wenn auch nicht dem Worte, so doch der Sache nach, liefert Novalis einen hilfreichen Begriffsrahmen, um literarische Kreativität, Wirklichkeit und menschliche Vernunft so zusammen zu denken, dass die Imagination in ihrer wichtigen kognitiven Funktion ernstgenommen werden kann. In der Gegenwartsdiskussion war es der britische Gelehrte John Polkinghorne, der einen Anstoß dazu gegeben hat, eine Theologie des Gedankenexperiments an der Schnittstelle von Naturwissenschaft und Religion zu entwickeln. Tatsächlich erhitzen Gedankenexperimente die theologischen Gemüter. Da gibt es die verflixte Maus, die in den Tabernakel einer Kirche eindringt. In ihm befinden sich die Hostien, die nach Auffassung katholischer Theologie vom Priester in den Leib Christi verwandelt wurden. Sie sehen aus wie Hostien, sind aber ihrer Substanz nach Leib Christi. Und das ist ein objektives Faktum. Die Gläubigen tun also nicht nur so, als ob es sich um den Leib Christi handelt. Was frisst nun aber die Maus, wenn sie die Hostien wegmampft? Frisst sie wirklich den Leib Christi? Dagegen spricht, dass der Empfang des Sakraments der Kommunion (also der Empfang vom Leib Christi) nicht bedingungslos ist. Diese Bedingungen erfüllt aber die Maus nicht. Sie ist weder getauft, noch hat sie die Fähigkeiten, an Christus zu glauben. Thomas von Aquin unterscheidet daher zwischen Tatsache und Wirkung. Die Maus frisst den Leib Christi, aber dieser kann in Lebewesen wie einer Maus seine sakramentale Wirkung schlicht nicht entfalten. Es ist wie ein Medikament, das Wirkstoffe enthält, die nicht aufgenommen werden können und folglich keine Wirkung entfalten. Problematisch an der Lösung von Thomas ist, dass eine kirchlich sanktionierte christliche Theologie zwar den Zugang zu den Sakramenten an Bedingungen knüpften kann, aber eben wohl nicht das, was passiert, wenn das Sakrament gegeben ist.

Brown kann der Theologie genauso wenig abgewinnen wie den Ansichten von Norton. Er ist vom Platonismus verzaubert. Es gebe eben Gedankenexperimente, die eindeutig zeigten, dass wir durch bloßes Nachdenken etwas Neues über die Welt lernen könnten. Gedankenexperimente erlaubten es uns gleichsam, in Platons Himmel hineinzulugen. Dort wimmele es nur so von abstrakten Einzelheiten (wie Viereckigkeit, Rotheit, Schnellheit und Schwerheit). Manchmal, wenn sich Physiker*innen mit erfahrbaren, allgemeinen, konkreten Regularitäten herumschlagen, dann helfen ihnen Gedankenexperimente zu begreifen, was die Regularitäten geradezu notwendig macht. So werden dann auch mal Naturgesetze entdeckt, die ja nichts anderes seien als Feststellungen der Notwendigkeiten, welche zwischen abstrakten Einzelheiten bestehen und sich in beobachtbaren, konkreten, allgemeinen Regularitäten zeigten.

Eine derartige Entdeckung passierte, so Brown, als sich Galileo Galilei vorstellte, was geschieht, wenn zwei ungleich schwere Kugeln zeitgleich von einem Turm fallen gelassen werden. Damit sollte überprüft werden, ob die Physik richtig damit lag, dass Gewicht die Fallgeschwindigkeit bestimmt, expliziert Brown. Entscheidend ist, dass Galilei die beiden Kugeln im Gedankenexperiment so miteinander verbindet, dass sie weder ganz unabhängig voneinander runterfallen noch als ein einziges Objekt gelten können. Schlagartig wurde ihm klar, behauptet Brown, dass beide Kugeln zeitgleich aufkommen müssen! Die schwerere Kugel wird nämlich einerseits von der leichteren Kugel verlangsamt, da sie ja leichter ist, aber anderseits durch sie auch beschleunigt, da sie ja Gewicht hinzubringt. Das geht ja nun nicht—entweder Beschleunigung oder aber Verlangsamung. Die Physik vor Galilei lag falsch und Galilei konnte ein neues Naturgesetz formulieren, so Brown, um das zu erklären, was tatsächlich zu sehen ist, wenn man hinschaut: die Kugeln kommen beide zeitgleich unten an! Offensichtlich muss es so sein, dass alle Objekte mit derselben Geschwindigkeit fallen, so Galileis Einsicht, behauptet Brown.

Der Platonismus liefert uns die beste Erklärung für das, was hier geschehen ist. Und weil es sich um einen Schluss auf die beste Erklärung handelt, lässt es Brown auch kalt, dass immer wieder eingewandt wird, die Annahme eines Himmels voller abstrakter Einzelheiten sei doch wohl ontologisch viel zu anspruchsvoll. Die Entitäten, die man nämlich mit dem Argument von der sogenannten „ontologischen Parsimonität“ (bitte nicht mehr Dinge als tatsächlich existierend annehmen, als absolut nötig ist) rauswerfen kann (wie etwa abstrakte Einzelheiten), kann man gleich wieder einführen mit dem Schluss auf die beste Erklärung (wir müssen abstrakte Einzelheiten als tatsächlich existierend annehmen, denn sonst können wir ja nicht erklären, was Galilei da gelungen ist). Also, Brown zu Folge, haben wir schlicht keine Wahl: Wir müssen einfach annehmen, dass es so etwas wie einen Platonischen Himmel gibt, in dem es nur so von abstrakten Einzelheiten wimmelt—so merkwürdig eine solche Annahme heute auch sein mag. Brown ist auch nicht beeindruckt von dem Einwand, dass so etwas wie ein Platonisches Sehen dieser abstrakten Einzelheiten ganz und gar mysteriös erscheint. Ein Sehen mit dem Geist—was soll das denn bitte schön sein? Brown gesteht zu, dass wir durchaus mehr wissen, wenn es um das Sehen mit unseren Augen geht. Dennoch, kontert Brown, so ganz klar ist die ganze Geschichte nun auch nicht, wie man von Augenreizen zu visuellen Erfahrungen der Welt kommt.

Das wirklich Interessante an der Diskussion, die sich gleichsam um die Brown-Norton Debatte herum entwickelt hat, ist, dass sich wirklich wenige so ganz der Position von Norton oder Brown anschließen wollen. Die Wahrheit muss irgendwo dazwischen liegen. Gedankenexperimente sind mehr als Argumente und weniger als Vehikel für Platonisches Schauen. So viel scheint heute festzustehen. Am erfolgversprechendsten ist es wohl, dem Ansatz zu folgen, dass Gedankenexperimente uns helfen, mit unseren Intuitionen umzugehen. Diese sind oft schwer zu fassen, weil sie sich im nicht-Freud’schen Unterbewusstsein befinden. Sie beeinflussen uns ständig, doch oft ist uns das nicht ganz klar. Die empirische Psychologie rät uns daher, entweder unser Verhalten zu beobachten oder aber ein Tagebuch zu führen, um uns in Bezug auf den Einfluss, den das Unterbewusstsein auf uns ausübt, besser zu verstehen. Intuitionen lassen sich mit Elke Brendel als mentale propositionale Einstellungen verstehen, die von einem Gefühl der Gewissheit begleitet sind. Einige Intuitionen sind eine Funktion unserer biologischen Konstitution. Wir teilen sie daher mit vielen anderen Menschen. Andere Intuitionen stellen sich aufgrund unserer Mitgliedschaft in spezialisierten Wissenschaftsgemeinschaften ein. Folglich ist hier die Schnittmenge bezüglich solcher Intuitionen mit Menschen außerhalb dieser Gemeinschaft viel kleiner. Vielversprechend ist sicherlich die Theorie der verdeckten Simulation, um genau zu verstehen, wie Gedankexperimente es vermögen, Intuitionen zu Tage zu fördern, so dass wir in kontrollierter Weise mit ihnen umgehen können. Schaut man sich den berühmten Schlagabtausch zur aufkommenden Quantenphysik zwischen Einstein und Niels Bohr an, kann kein Zweifel daran aufkommen, dass es vor allem um eine solche Kontrolle geht. Wie immer gilt: Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser.

Die Geschichte des Christentums lässt sich als ein Ringen um Intuitionen begreifen, auch wenn natürlich der Kampf um die wahren Doktrinen viel spannender ist. Weder Bibel noch Tradition sind einfach identisch mit dem, was man als göttliche Offenbarung bezeichnet. Freilich, wenn es Gott gibt, dann ist nicht einzusehen, wieso Gott sich nicht mitteilen sollte. Und die göttlichen Mitteilungen resultieren in Intuitionen, die Theolog*innen leiten, wenn sie über den Inhalt göttlicher Offenbarung nachdenken. Und so können Gedankenexperimente gleichsam Orte der Offenbarung werden. Das Ringen des Augustinus um die ‚richtige‘ Sexualität bietet ein vorzügliches Beispiel dafür. Für Augustinus bedeutet der Sündenfall einen radikalen Einschnitt in jederlei Hinsicht. Nichts ist wie vorher, seitdem Adam und Eva in den Apfel gebissen haben. Doch was geschah zwischen den beiden vor dem Rauswurf aus dem Paradies? Rein gar nichts, meinte Augustinus zunächst. Gottes Gebot, sich zu vermehren, war ein Auftrag zur reinen Liebe, die zu Kindern des Geistes führt. Doch als er das Gedankenexperiment immer wieder durchführte, das sich ihm im Studium der ersten drei Kapitel des Buches Genesis aufdrängte, wurde ihm klar: Adam und Eva haben ja auch gegessen, und essen muss nur ein sterblicher Körper. Doch vor dem Sündenfall war der Körper noch gar nicht sterblich. Unsterblichkeit und Abwesenheit von leiblichen Begierden gehen also nicht Hand in Hand. Also ist es vorstellbar, dass Adam und Eva leibliche Begierden eigen sind, wie eben auch sexuelle Begierde. Und so revidierte er seine Theorie menschlicher Sexualität. Keuschheit ist ein Mittel, um mit der sexuellen Begierde nach dem Sündenfall umzugehen, die eben durch diesen ganz aus der rechten Bahn geworfen wurde. Im Paradies war der Geschlechtsakt ganz von Vernunftgründen geleitet. Der göttliche Auftrag zur Fortpflanzung dient ja allein der Zeugung von Kindern, damit die Erde bevölkert wird und so an Schönheit gewinnt (jeder neue Mensch in seiner Schönheit trägt zur Verschönerung der Welt bei!). So führte ein biblisch inspiriertes Gedankenexperiment zu einer Auffassung von menschlicher Sexualität, die den Westen in vielen Hinsichten bis heute prägt. Simon Blackburn hat betont, dass dieser theologische Einschlag eher ein Segen als ein Fluch war, wenn man sich vor Augen führt, was die Philosophie sonst so zu bieten hatte. So schlecht wie deren Verächter*innen sie heute machen, kann Theologie dann gar nicht sein!


Yiftach Fehige ist Philosoph und Theologe. Er forscht und lehrt an der University of Toronto in Kanada. Mit James R. Brown und Michael T. Stuart hat er das Routledge Handbuch zu Gedankenexperimenten herausgegeben. Kurz vor Druck steht ein dem Thema Gedankenexperiment gewidmeter Sonderband, den er mit Michael T. Stuart im Auftrag der Internationalen Gesellschaft für die Geschichte der Wissenschaftsphilosophie herausgibt. Kaum erwarten kann er den Abschluss seiner Arbeiten zu einem Buch über Gedankenexperimente, Theologie und Naturwissenschaften.

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