26 Jan

Philosophie als Experiment. Eine existenzielle Note

Von Tim-Florian Steinbach (Wuppertal)


Das Gedankenexperiment gilt gemeinhin als ein rein theoretisches Bestandstück experimentierenden Verhaltens, als ein Instrument, das der praktischen Umsetzung in Form des physischen Experiments vorausgeht. Im Hinblick auf das physische Experiment sollen mittels eines Gedankenexperiments die Erfolgsaussichten einer bestimmten Versuchsanordnung eingeschätzt werden. In diesem Sinne besitzt das Gedankenexperiment prospektiven Charakter. Der gesetzliche Charakter kausaler Ursache-Wirkungs-Reihen, der dem physischen Experiment zugrunde liegt, wird im Gedankenexperiment dadurch abgeschwächt, dass verschiedene Bedingungen vorgestellt und variiert werden. Es werden Möglichkeiten abgewogen, die zu dem gewünschten Ergebnis führen können, nicht aber zwangsläufig müssen. Die von Naturgesetzen bestimmte Wirklichkeit tritt in den Hintergrund, im Gegenzug rücken Möglichkeiten in den Vordergrund. Das Gedankenexperiment dient der Entwicklung von Modellen, es moduliert und präpariert Bedingungen heraus, die ein bestimmtes Ergebnis herbeiführen können – in der Umsetzung jedoch zu überprüfen, ob die im Gedankenexperiment angenommenen Bedingungen auch zutreffen, bleibt dem Experiment vorbehalten. Einschlägige Verwendung findet der Begriff des Gedankenexperiments erst Ende des 19. Jahrhunderts bei Ernst Mach.

Der Begriff des Experiments nimmt hingegen bereits im Kontext der neuzeitlichen Geistesgeschichte die Bedeutung an, an die das Gedankenexperiment mit seinem prospektiven Charakter zu einem späteren Zeitpunkt anschließen wird. Von der Scholastik bis in die Renaissance hinein wird der Begriff des Experiments noch synonym zum Begriff der Erfahrung gebraucht. In der Neuzeit wird das Experiment seiner Bedeutung nach dann zu einem Versuch, der aufgrund des künstlich hergestellten und instrumentellen Versuchsaufbaus selbst Erfahrung herstellt, Erfahrung ist nicht mehr einfach gegeben. Im Kontext der erstarkenden Naturwissenschaften wird dem Experiment so ein genuin praktischer Aspekt zugesprochen: Es muss durch menschliches Handeln umgesetzt werden. Francis Bacon spricht in seinem Novum Organum davon, dass die Erfahrung dann Experiment genannt wird, wenn sie Regeln folgt, die bewusst angewendet werden. Diese Regeln sowie die technischen Instrumente beeinflussen die Praxis des Experimentierens und führen neue Erfahrungen herbei.

Gemeinhin wird angenommen, dass in der Philosophie Gedankenexperimente angestellt werden. Diese dienen zwar nicht der Modellierung und Folgenabschätzung naturwissenschaftlicher Versuche, sondern beziehen sich auf Aspekte, die gerade nicht oder nur bedingt quantitativ messbar sind, man denke nur an John Rawls sogenannten Schleier des Nichtwissens, ein Gedankenexperiment, das moralische und gesellschaftliche Aspekte einbezieht. Ausgangszustand dieses Gedankenexperiments ist eine Situation, in der der Mensch zwar um die Ordnung der Gesellschaft weiß – so z.B. um die Vor- und Nachteile dieser oder jener gesellschaftlichen Position – und sich zugleich noch unter dem Schleier des Nichtwissens befindet; er weiß nicht, welche Rolle innerhalb der Gesellschaft er einnehmen wird, wird der Schleier erst einmal gelüftet sein. In dieser Situation, so Rawls’ Argumentation, sind alle Menschen gleich. Da sie noch nicht um ihre gesellschaftliche Stellung wissen, entscheiden sie sich, so die weitere Argumentation, für einen gerechten Gesellschaftsvertrag, der die Vor- und Nachteile ausgleicht. In diesem Gedankenexperiment kann nicht mehr die Maximierung der Vorteile für die eigene Person im Vordergrund stehen – zumindest nicht um jeden Preis, da dieser ggf. selbst zu bezahlen wäre. Das von Rawls durchgeführte Gedankenexperiment dient ihm im Kontext seiner Theorie der Gerechtigkeit zwar als Argument, scheint schlussendlich jedoch eine bloße Fiktion zu sein, schließlich waren die von ihm getroffenen Annahmen in der Wirklichkeit nie gegeben und werden dies wohl auch in Zukunft nicht sein.  

So dargestellt ist Rawls’ Schleier des Nichtwissens nur eines von vielen Beispielen, das deutlich macht: Experimente besitzen in der Philosophie ausschließlich fiktiven Status. Die Philosophie stellt genaugenommen keine Experimente, sondern Gedankenexperimente an, die, selbst wenn sie aus dem Bereich der praktischen Philosophie stammen, keine Konsequenzen für den praktischen Lebensvollzug nach sich ziehen. Sie dienen der Argumentation, die überzeugen mag oder auch nicht, bleiben aber fiktiv. Zwar werden auch im Bereich der Naturwissenschaften Gedankenexperimente angestellt, doch scheint ebenso selbstverständlich zu sein, dass das Experiment in seiner praktischen Anwendung ausschließlich im Bereich naturwissenschaftlicher Forschung durchgeführt wird. Durch seine praktische Umsetzung unterscheidet sich das Experiment vom scheinbar bloß fiktiven Status des Gedankenexperiments.

In der modernen Philosophie wird der Begriff des Experiments jedoch zunehmend öfter auf das eigene Philosophieren übertragen, die Grenze zwischen Experiment und Gedankenexperiment verschwimmt im Zuge dessen. Einschlägig ist in diesem Kontext Nietzsches Verwendung des Begriffs des Experiments. Er gibt diesem eine existenzielle Wendung, in der theoretische und praktische Aspekte zusammenfinden; schon die theoretische Einstellung hat Einfluss auf den praktischen Lebensvollzug. Im Hintergrund dieser existentiellen Wendung bei Nietzsche stehen zunächst jedoch Entwicklungen der neuzeitlichen Geistes- und Ideengeschichte, die die Grenze zwischen den beiden Begriffen aufzuweichen scheinen, bevor der Begriff des Gedankenexperiments überhaupt aufkommt.

Hans Blumenberg hat in umfangreichen Studien den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit nachgezeichnet und aufgezeigt, dass sich der Mensch mit der Neuzeit mit einem Mal vor die Aufgabe gestellt sah, die Orientierung innerhalb der Wirklichkeit aus eigener Kraft zu erbringen. Mit dem ausgehenden Mittelalter büßt die Schöpfungstheologie ihre Erklärungsleistung und Orientierungsfunktion für den Menschen ein. Um sich in dieser Lage wieder orientieren zu können, entwickelt der Mensch im Wesentlichen zwei Strategien: Er nutzt auf der einen Seite die Technik, auf der anderen Seite die Kunst und Ästhetik und wird dadurch selbst zum Schöpfer einer Wirklichkeit, in der sich wieder zu orientieren weiß, da er die Regeln und Strukturen dieser Wirklichkeit selbst hervorbringt. Hinzukommt ein weiterer Aspekt, der in Verbindung mit der neuzeitlichen Technik und Kunst die Voraussetzung für Nietzsches Verwendung des Begriffs des Experiments bildet, den Blumenberg als Telosschwund bezeichnet: der Verlust teleologischer Strukturen.

Diese teleologischen Strukturen waren im Kontext der mittelalterlichen Theologie sinnstiftend, sie gaben Halt und versprachen Orientierung. Das Sinnversprechen der Schöpfungstheologie hielt Antworten auf die Fragen nach Ursprung und Ziel der menschlichen Existenz bereit, es wies dem Menschen seine Stellung in einem Diesseits zu, das sich auf ein Jenseits verwiesen sah. Was sich in diesem Kontext Geschichte nennt, folgt einer teleologischen Struktur: Die Leiden und Übel dieser Welt werden in einem Jenseits aufgehoben. Zu der Zeit, zu der die Erklärungsleistung der theologischen Modelle zunehmend schwand, verlor auch die teleologische Struktur geschichtlicher Erklärungsmuster an Plausibilität für das menschliche Selbst- und Weltbild. Das Jenseits stellte nicht mehr das Ziel dar, auf das sich die Hoffnung richtete, der Mensch wurde auf sich selbst und auf seine eigenen Leistungen zurückgeworfen. Diese Lage provoziert zugleich die Frage nach der eigenen Identität: Die teleologischen Rückhalte des mittelalterlichen Weltbildes, eingebettet in die Struktur zwischen Diesseits und Jenseits, wurden freigesetzt und mit der beginnenden Neuzeit ganz auf den Menschen konzentriert. Die Auseinandersetzung mit dem Problem der Teleologie führt auf die Frage der eigenen Identität. In einer Wirklichkeit, die der Mensch selbst hervorbringt, geht es auch um diesen selbst, mehr noch: Auf sich selbst zurückgeworfen wird der Mensch nicht nur zum Schöpfer seiner Wirklichkeit, sondern auch zum Schöpfer seiner selbst – er ist, mit Blumenberg gesprochen, ein autopoietisches Wesen, d.h. ein Wesen, das sich mitsamt seinen Leistungen und Errungenschaften, aber auch seinen Defiziten selbst hervorbringt. Was sich nunmehr Identität nennt, ist das Produkt und Ergebnis der Anstrengungen des Menschen, sich in der Wirklichkeit zu orientieren.

Mit Blick auf die Konstitution der Wirklichkeit hat Kant diese Einsicht in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft pointiert und gebraucht in diesem Kontext auch bereits den Begriff des Experiments. Er überträgt diesen aus dem Bereich der Physik auf die Philosophie und leitet dadurch die ihm zugeschriebene kopernikanische Wende in der Philosophie ein: Die Vernunft ist nur das zu erkennen imstande, was sie selbst hervorgebracht hat.

Nietzsche entwickelt diese theoretische Einsicht Kants weiter und belegt im Zuge dessen den Begriff des Experiments mit einer existenziellen Bedeutung. Nietzsches experimentelles Philosophieren erkennt an, dass jede Interpretation der Wirklichkeit nicht lediglich eine theoretische Einstellung ist, sondern immer auch die praktischen Lebensbezüge tangiert. Erkenntnis ist laut Nietzsche stets ein „Experiment des Erkennenden“. Ebenso wichtig wie die Orientierung, die das Erkennen auch in diesem experimentellen Stadium noch stiftet, ist Nietzsche die Souveränität, die es im Zuge dessen zu gewinnen gilt. Angesichts einer Vielzahl an möglichen Interpretationen der Wirklichkeit sollen die eigenen Grenzen ausgelotet und Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden, um die eigene Interpretation der Wirklichkeit zu erproben. Erweist sich diese als theoretisch kohärent und dient darüber hinaus einem gelingenden Lebensvollzug, dann hat der Erkennende und Interpret ein sicheres Fundament gefunden, auf dem zu handeln möglich ist. Die Interpretation trägt den praktischen Lebensvollzug. Das Experiment mit der eigenen Interpretation ist damit nicht lediglich ein sinnstiftendes Verhalten im Zuge der Konstitution von Wirklichkeit, sondern zugleich immer auch ein Verfahren der Selbstgestaltung. Die Interpretation bezieht die Position des Interpreten ein und wirkt auf den Interpreten zurück. In einem Verfahren des Abgleichs werden die Wirklichkeit und ihr Betrachter aufeinander abgestimmt, so dass das Verfahren der Interpretation sich zwangsläufig offen gegenüber der Integration neuer Möglichkeiten zeigen muss – offen gegenüber neuen Aspekten der Wirklichkeit, aber auch des eigenen Selbst, um Handlungsvollzüge im Kontext einer offenen und nicht mehr festgestellten Wirklichkeit zu ermöglichen. Theoretische und praktische Einstellungen konvergieren hier im Begriff der Wirklichkeit, die ihren Betrachter dazu auffordert, sich zu ihr zu verhalten. Dort, wo die eigene Interpretation sich als kohärent erweist, stiftet sie Sinn, wo dieser von außen nicht mehr gegeben scheint. Diese Offenheit der Korrelation von Wirklichkeit und Selbst, die keine Letztbegründungen und keinen absoluten Halt mehr kennt, bringt Nietzsche durch den Begriff des Experiments zum Ausdruck: „Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!“

Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, wenn das eigene Leben ganz in den Dienst dieses Experiments gestellt wird. Rüdiger Safranski, nur einer von zahlreichen Biographen Nietzsches, schildert wie für Nietzsche das eigene Leben zur „Experimentalanordnung“ wird, zu einem Experiment der Selbstgestaltung, in dem die Theorie die praktischen Handlungsvollzüge und die Praxis die Theoriebildung bestimmt. Für Safranski steht fest, dass Nietzsche das eigene Leben zu einer „zitierfähigen Unterlage“ für sein Denken wird; und dass das Denken eines Philosophen sein Leben prägt, ist wohl kaum von der Hand zu weisen. Es ist sicher auch dieser Aspekt, der an Nietzsche seit jeher fasziniert: sein Leben in den Dienst eines Werkes gestellt zu haben, das keine letzten Antworten verspricht und bis auf Weiteres Experiment bleiben wird. Nietzsche tritt dadurch als eine der zentralen Figuren der modernen Geistes- und Ideengeschichte in Erscheinung, da er aktiv die Auseinandersetzung mit einer Wirklichkeit sucht, die keine feste Ordnung mehr kennt, ohne zu versuchen, diese doch noch herbeizuführen. Seine Art und Weise zu philosophieren überschreitet die Grenze zwischen Leben und Erkennen, Experiment und Gedankenexperiment und macht deutlich, dass der scheinbar bloß fiktive Status philosophischen Experimentierens durchaus praktische Konsequenzen nach sich zieht.


Dr. Tim-Florian Steinbach ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bergischen Universität Wuppertal im Arbeitsbereich Kulturphilosophie und Ästhetik. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich hermeneutischen Geschichtsdenkens, der Kultur- und Technikphilosophie sowie der philosophischen Anthropologie.

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